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Freitag, 07. Juli 2017

Ich sah ihn zum ersten Mal im Boxing Club Luzern vor knapp zehn Jahren. Er stand alleine im Box­keller, trug uralte Handschuhe aus braunem Rinds­leder und bearbeitete den Sack mit seinen Schlägen. Links, rechts, Haken. Immer donnerstags kam er vorbei. Während wir anderen unser Training absolvierten, übte er ganz alleine für sich seine Schläge, zwei Stunden lang. Es war Raoul Bussmann, 82 Jahre alt, seit über 60 Jahren Mitglied – inzwischen Ehrenmitglied – im Club. Seine körperliche Form war noch immer gut, seine Schläge trieb er hart in den Boxsack hinein. Raoul interessierte mich. Ich sprach ihn an, und für ein Portrait in der Lokal­zeitung besuchte ich ihn schliesslich auch zuhause.

Mit 17 Jahren trat Raoul in den Boxing Club Luzern ein. Seine Kampfkünste musste er nie ausserhalb des Rings einsetzen. Einmal sei ihm einer dumm gekommen, da habe er ihm nur seinen Mitgliederausweis gezeigt, das habe als Abschreckung schon gereicht, erzählte er mir. Ein anderes Mal sei er im Tessin von Halbstarken ange­pöbelt und herumgeschubst worden, weil es ihnen nicht passte, dass er, der Deutschschweizer, eine schöne Tessinerin mit nach Hause nahm. Raoul blieb ruhig, weil er wusste, dass er jederzeit bereit für einen K.­o.­-Schlag war. Die Pöbler liessen von ihm ab. Die schöne Tessinerin wurde später seine Frau.

Selbstbeherrschung, das lernt man im Boxen gut. Wer sich im Ring nicht zu beherrschen weiss, der landet schnell auf den Brettern. Das Boxen half Raoul auch durch viele Schicksalsschläge. Als er den frühen Tod sei­nes Vaters verarbeiten musste und als seine Frau mit nur 40 Jahren an Brustkrebs starb. Die Wut über das Schick­sal habe er immer am Boxsack ausgelassen. Der Sport hielt Raoul fit, körperlich und seelisch. Raoul war etwas Besonderes. Nicht nur durch seine im hohen Alter noch immer gute Fitness, sondern auch, weil er sich philoso­phisch mit dem Boxen auseinandersetzte. Bei einem un­serer Treffen drückte er mir einen Stapel selbstausge­druckte und zu einem Ringheft zusammengebundene Blätter in die Hand. Es waren Gedichte über das Boxen, die er selbst geschrieben hatte.

Wenige Jahre später erkrankte Raoul schwer. Das Boxen war ihm nicht mehr möglich. Im April 2014 verstarb er. Raoul wollte in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt wer­den. Eigentlich schade, denn für seinen Grabstein hätte er viele gute Sprüche gewusst. Was bleibt, sind die Erin­nerungen an ihn – und seine Gedichte; über das Leben, über das Boxen. Und eines seiner Gedichte, das lautet so:

Boxen bestimmt
das Bewusstsein
in meinem Leben,
es hat mir viel Kraft
und Freude gegeben.

Mit viel Einsatz
und mit viel Energie
erlebe ich den
Kampfgeist wie
eine Melodie.

Grosse Konzentration
und schnelle Reaktion
fördern meine
sportliche Kondition.

Der Aufbau meiner
körperlichen
Muskelkraft
stärkt meinen
Willen und meine
Widerstandskraft.

Boxen offenbart sich
mir als ein grosses Ziel,
denn das Leben ist ein
Kampf und ein Spiel.

Raoul Bussmann, Luzern