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Freitag, 07. Juli 2017

Um einen Brief zu schreiben, braucht es eine leere blaue Stunde, weisses Papier, einen Stift, das Licht einer Schreibtischlampe – und einen Adressaten meiner langen Zeit. Es braucht aber auch den Mut, den Brief wirklich abzuschicken. Ich weiss nicht, wann ich das zum letzten Mal getan habe. Die meisten meiner Briefe bleiben unvollendet.

«Ich vermisse dich» schreibt sich schöner von Hand. Ein Brief ist intimer als eine E­-Mail. Die Hand hinterlässt eine physische Spur auf dem weissen Blatt. Zeile um Zei­le schreibt sie die Sehnsucht fort, ohne den Mangel weg­ schreiben zu können. Doch ein Brief ist auch ein Risiko. Es besteht die Gefahr, sich von der Wucht des Begehrens, die das Schreiben antreibt, hinreissen zu lassen. Viele meiner Briefe an G. landen zerknüllt in der Ecke. Unge­lesen. Der emotionale Überschwang, der mich dazu treibt, Briefe mit Kussmund oder von wütenden Tränen verschmiert zu unterzeichnen, bringt mich am nächsten Tag selber zum Lachen.

Einen Brief zu schreiben ist das unmögliche Unterfan­gen, die Distanz zwischen mir und der Empfängerin zu überwinden. Wird S. mich verstehen, wenn ich ihr schreibe, dass ich diesen Sommer leider nicht mit ihr wegfahren kann? Und da ist auch der Abstand zwischen heute und dem Tag, an dem der Brief ankommen wird. Vielleicht werde ich meinen Entscheid, S. nicht zu begleiten, morgen schon bereuen. Richtig gelingen Briefe vielleicht nie. Denn da ist auch die Lücke zwischen mir und dem Geschriebenen. Im Lichtkegel wirken die Worte, die meine linke Hand und der Stift formen, zu grell und mächtig. Kaum auf dem Papier getrocknet, entwickelt meine Schrift ein Eigenle­ben. Bin das wirklich ich, die A. schreibt, dass ich diese Nacht von ihr geträumt habe, wie wir zusammen auf einem Rummelplatz herumstreifen?

Und trotzdem. Ich bin froh um die wenigen Briefe, die ich versandt habe. Zum Beispiel jene an D. Er sass damals in Untersuchungshaft. Seine Möglichkeiten, Kontakt zu Freunden und Familie aufzunehmen, waren beschränkt. 45 Minuten Besuche pro Woche, 15 Minuten Telefonie­ren. Wir schrieben uns in diesen Monaten. Ich hielt aus meiner Sicht Belangloses fest, Alltagsnotizen, irgendwie unbeholfen. Wohl malte ich auch aus, wie es sein würde, wenn D. wieder draussen wäre. Wie wir gemeinsam mit meinem Sohn den Zoo besuchen würden. Simpel. Das ist Jahre her. D. lebt nicht mehr. Kurz nach seinem Tod stiess ich beim Aufräumen auf eine Skizze, die er mir aus der Haft geschickt hatte. Darauf war ein graffitiartig gestaltetes Auge zu sehen, darunter eine kurze Grusszeile. Ich musste weinen.

Briefe sind wie Flicken. Die Handschrift ist der Faden, der die Sehnsucht an die vermissten Adressaten heftet. Behelfs­ mässig. Die Lücke bleibt. Aber auch die Briefe bleiben. Als handfeste, manchmal ungelenke Beweise einer Annäherung.