Station III
Unlängst zeigte das Schweizer Fernsehen die Dokumentation «Mein Körper, mein Werk». Es ging darin um junge Menschen, die mit rigoroser Disziplin ihren Körper trainieren. Wenig später erhielt ich von einer Journalistin von 3sat eine Interviewanfrage zu dieser Sendung. Sie fasziniere besonders, erklärte die Journalistin, dass das Thema «Körperkult» Parallelen zur Kirche respektive Religion aufweise: Anstatt zur Kirche gehe man nun eben in den Fitnesstempel. Sünden gebe es heute kaum noch im sexuellen Bereich, dafür aber sei Süsses zu essen eine Diätsünde … und so weiter. Aber führe das alles zum Seelenheil?
In der Tat war die fragliche Dokumentation mit einigen Schwächen behaftet, aber sie illustrierte einen wichtigen Punkt: Die Arbeit an sich selbst wird ernst genommen. Auch wenn sie oberflächlich nach Vergnügen aussieht, wie der Besuch eines Fitnessclubs. Anders als das an der protestantischen Arbeitsethik orientierte aufsteigende Bürgertum vor gut hundert Jahren, das für vermeintliche Vergnügungen eine Entschuldigung brauchte, existiert heute eine ziemlich mobile Mittelklasse, die sich als Teil einer Erlebnisgesellschaft versteht und Selbstverwirklichung und Wohlbefinden geradezu als ihre Pflicht betrachtet. Und «Pflicht» ist nun das Stichwort für mich, hier noch einen Schritt weiter zu gehen und festzustellen: Der Hedonismus und die Selbstvervollkommnung des spätmodernen Subjekts werden von diesem nach den Massgaben einer asketischen Arbeitsethik erledigt, so dass mir dafür der Begriff eines «protestantischen Hedonismus» nicht unpassend zu sein scheint.
Denn: Selbstbeherrschung und Disziplinierung im Dienste der Leistungsfähigkeit – das kennen wir eben schon von Max Weber, jenem berühmten deutschen Soziologen, der die These aufstellte, dass die Arbeitsethik des Protestantismus die kulturelle Grundlage für den Kapitalismus liefere. Für Weber war jene Arbeitsethik gekennzeichnet durch die Vorstellung von Arbeit als Pflicht und gottgewolltem Lebenszweck. In einer Kultur strenger Wirtschaftlichkeit wurde Arbeit zum weltlichen Gottesdienst, der Beruf zur von Gott gestellten Aufgabe, in innerweltlicher Askese zu erfüllen, um sich zu bewähren. Diese «innerweltliche Askese» verlangt Spar- und Enthaltsamkeit, Mässigung und Selbstbeherrschung.
Und heute? Heute leben wir in einer Gesellschaft, die Selbstperfektionierung, also die Arbeit am Ich, als Selbstgenuss postuliert. Einer der letzten Leitwerte in der Vielfalt der uns umgebenden polyvalenten Kontingenzkultur, also einer Kultur, die selbst keine klaren gesellschaftlichen Vorgaben mehr bietet, ist: Authentizität, Echtheit des Selbst. Und ein Weg zur Selbstfindung läuft über den Konsum. Einige Zeitdiagnostiker sprechen gar vom «Ende der Arbeit», und zwar in dem Sinne, dass nun eben nicht mehr die Arbeit, sondern der Konsum zum zentralen gesellschaftlichen Integrationsmechanismus geworden sei: Konsum und Besitz bestimmter Dinge und ihrer symbolischen Aura seien essenziell für gesellschaftliche Teilhabe und für Prozesse der Identitätsbildung geworden. Von einem spätmodernen Fetischismus ist die Rede, von quasireligiöser Aufladung der Warenwelt, die der Spätmoderne einen Ersatz für die Entzauberung bieten soll: in der Transzendenz des Immanenten, im Goldenen Kalb des Konsums.
Doch parallel ist noch etwas anderes geschehen: Seit den siebziger Jahren, mit Beginn der Postmoderne, die durch die «No Future»-Parole des Punk eingeleitet wurde, hat in der kulturellen Fundierung kapitalistischen Wirtschaftens eine Umwertung stattgefunden, die mit der Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche einen zusätzlichen Beschleunigungsschub erfuhr: Statt der asketischen Fleissübung – wie bei Max Weber – erfüllt nun das genau gegenteilige Prinzip die Funktion der kulturellen Basis des Kapitalismus: die hedonistische Selbstverwirklichung.
Diese Umkehrung entpuppt sich jedoch als eine nur scheinbare. Heute, in der Spätmoderne, die der Postmoderne folgte, sind die Techniken des Hedonismus die gleichen wie vormals die Techniken der Askese. Wir leben zwar nicht mehr in einer Arbeitsgesellschaft, in der Müssiggang verpönt und eine Sünde ist; im Gegenteil, es wird uns gepredigt, dass wir dringend entschleunigen sollten, schliesslich war der Müssiggang für Rousseau wie für Aristoteles der Angelpunkt der Philosophie.
Die Sublimierung des Leidens ist die Grundlage einer Steigerungslogik: Es geht immer schöner, besser, glücklicher.
Aber irgendwie soll dieser Müssiggang dann eben auch wieder richtig, also korrekt betrieben werden, nicht so als zielloses Schauen, sondern bitte: systematisch, sinn- und zielgerichtet, effizient, diszipliniert.
Wie die jungen Menschen aus dem Dokfilm beim Training.
Warum ist das so? Das hat zwei Gründe, die zusammenhängen: Erstens die Beschleunigung der Lebenswelt, zweitens den Wegfall von Transzendenz. Die spätmoderne Gesellschaft kennt keine autonomen Bereiche mehr, wie sie Max Weber noch für die Moderne konstatierte. Also feststellend, dass Wirtschaft, Politik, Kunst und Religion jeweils einer eigenen Logik folgten. Stattdessen sind diese, wie das Leben selbst, alle unter das Gesetz der Akkumulation und Beschleunigung geraten: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich in ihrer unablässigen Beschleunigung selbst steigert, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Diese ist gekennzeichnet durch kurzlebige Produkte, erfahrungsarme Erlebnisse und die triviale Resonanz sozialer Netzwerke. Alles wird schneller, und das führt dazu, dass wir uns in sämtlichen Sphären unseres Lebens, nicht nur der ökonomischen, einem Wettbewerbsdogma unterwerfen: Status, Aussehen, Freunde, Partnerschaft, Besitz, Spass, Gesundheit, Wohlbefinden. In all diesen Domänen schreibt die Leistungsgesellschaft nicht nur Erfolge, sondern auch Versagen stets dem Individuum als eigene Verantwortung zu. Das Schicksal als transzendentale Beigabe menschlichen Daseins ist als Kategorie drastisch geschrumpft. Wenn eine hässliche Nase früher Schicksal war, kann sie heute operiert werden. Im Umkehrschluss heisst das: Streisand Schnoz statt Witherspoon Button? Selber schuld!
Der ungarische Philosoph Georg Lukàcs hat bereits 1963 von der «transzendentalen Obdachlosigkeit» der Moderne gesprochen, und die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer schreibt in ihrem Buch «Das Leben als letzte Gelegenheit»: Seit Beginn der Moderne wird das Leben als biologische Lebensspanne konstituiert. Es wird zur einzigen und letzten Gelegenheit für die Anhäufung von Lebenskapital, von Erfahrung, von Sinn. Zwar steht das Heilsversprechen der Identitätsgewissheit und Selbstverbesserung nicht mehr im Dienste der Entsagung und Gottgefälligkeit; es ist nicht mehr Gott, der die Optimierungsaufgabe stellt. Die Erlösungssehnsüchte sind im Diesseits einzulösen. Doch das verlangt keineswegs weniger asketische Selbstdisziplin, die Bereitschaft, kurzfristigen Genuss zu verschieben und mehr und härter (an sich) zu arbeiten. Die spätmoderne Selbstverbesserung ist mit Zucht verbunden und auch mit Leiden, zum Beispiel den Entsagungen im Dienste einer Ernährungsdoktrin oder der Rekonvaleszenzperiode nach plastischer Chirurgie. Dieses Leiden ist zu ertragen: Das Optimierungsdogma erfordert in protestantischer Tradition auch eine Ideologie des Willens und der Askese. Solche Sublimierung des Leidens ist zugleich die Grundlage einer Steigerungslogik: Es geht immer schöner, besser, glücklicher.
Und wie kommen wir da wieder raus? Nö, nicht mit noch mehr Achtsamkeitstraining. Sondern mit diesem uralten Hausmittel: Distanz. Ironie, die Tugend des Sokrates, ist die Mittlerin zwischen Spass und Ernst, Geist und Leben, Selbst und Welt, Glück und Schicksal. Ironie als Ideal der Selbsterziehung ist eine Geisteshaltung, die dem Diesseits mit Abstand und Reserve begegnet. Insofern ist sie die weltlichste Form der Transzendenz überhaupt, doch zugleich hinausweisend über die Welt, darin liegt ihre Spiritualität. Denn am Ende geht es schliesslich Max Weber gemäss nur darum, dass «jeder seinen Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält». Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss Gewichte stemmen gehen.

Philipp Tingler ist Schriftsteller und Philosoph, Tages-Anzeiger-Kolumnist und Mitglied der Kritikerrunde im SRF-Literaturclub.