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Aufgezeichnet: Andreas Bättig
Freitag, 18. März 2016

Station VI

«Johann Sebastian Bachs Musik lernte ich mit elf Jahren beim Klavierspielen kennen. In der Bibliothek besorgte ich mir CDs von ihm, die ich auf Kassetten überspielte. Diese hörte ich dann in der Endlosschlaufe.

Bach war einer der Gründe, warum ich mit dem Orgelspielen begann. Zu Beginn ging ich noch etwas unbedarft an ihn heran. Als Heranwachsender war ich mir gar nicht bewusst, mit welch einem grossen Komponisten ich es zu tun hatte. So spielte ich Bachs zweistimmige Inventionen und kleinen Präludien mit jugendlicher Leichtigkeit und plapperte Dinge über ihn nach, ohne genau zu verstehen, was eigentlich damit gemeint war. Beispielsweise, dass bei Bach kein Ton zufällig sei. Später im Studium begann ich mich vertieft mit Bachs Leben und seiner Musik auseinanderzusetzen. Meine Bach-Floskeln wurden mir immer verständlicher, ebenso die darin enthaltenen Unschärfen. Heute weiss ich, dass Bach in seinem Spätwerk tatsächlich eine geschlossene und konsequente Form gefunden hatte, in der kein Ton zufällig ist – im Gegensatz zu seinem Frühwerk. Dort war Bach wild und experimentell. Wer seine frühe Musik hört, spürt richtiggehend seine Lust, Dinge auszuprobieren.

Neben der Komplexität von Bachs Kompositionen ist da aber noch etwas anderes – und das lässt sich fast nicht in Worte fassen. Ein ähnliches Gefühl überkam mich, als ich vor dem Eiffelturm in Paris stand und diese ästhetische und komplexe Konstruktion sah. Ich konnte mir nicht genau erklären, warum mich dieser Stahlkoloss so faszinierte. Auch Bach stösst ein Tor zu einer Welt auf, in der es keine rationalen Gründe für das Gefühlte gibt. Seine Musik fordert mich heraus. Auch, weil sie eine gewisse Erwartung an mich als Zuhörer hat. Je nach Tagesform kann ich sogar richtig wütend werden, wenn ich den Zugang zu seiner Musik nicht finde. Manchmal muss ich sie drei, vier, fünf oder sechs Mal hören und spielen, bis ich zum Werk finde.

Für mich steht ausser Frage: Kaum ein anderer Komponist vereint das Leiden mit dem Schönen so gut, wie Bach dies tut. Sein Übergang von trauriger hin zu aufbauender Musik ist fliessend. Da ist kein klarer Hinweis, der mir sagt, wann das Schöne beginnt und das Leiden endet.

Bachs Musik begleitete mich früher auch an Tagen, an denen es mir nicht so gut ging. Einmal setzte ich mich an die Orgel und spielte Bach, bis mir die Tränen herunterliefen. Das klingt pathetisch, ist aber so. Ein Organistenfreund hat über die Musik Bachs einmal treffend gesagt: ‹Wenn du an der Orgel sitzt, das wundervolle Es-Dur-Präludium oder die Kunst der Fuge gespielt hast, dabei die letzten Töne durch die Kirche hallen, wird der Raum ganz still. Inmitten dieser Stille könnte die Welt untergehen. Dieser Augenblick ist so unglaublich schön, so umfassend und vollkommen, dass ich immer wieder das Gefühl habe, es wäre okay, wenn der Tod jetzt kommt. Doch dann geht der Alltag einfach weiter.› Ich kann sehr gut verstehen, was er damit gemeint hat. Es gibt Musik, und wenn die verklungen ist, ist eigentlich alles gesagt.»

Lee Stalder ist Organist an der Thomaskirche in Liebefeld BE.  Er hat in Bern Musikpädagogik Klassik studiert und schliesst im Herbst seinen zweiten Master in Music Performance Klassik ab.

Andreas Bättig ist Redaktor bei bref.