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Freitag, 18. März 2016

Station IV

Nur das Nötigste packt Aron Ralston am Vorabend des 26. April 2003 in seinen Rucksack. Etwas Wasser, ein paar Snacks, Kletterseile, eine Videokamera, ein billiges Mehrzweckmesser. Er plant eine Tour durch einen Canyon im US-Bundesstaat Utah mit ein paar leichteren Kletterpartien. Routine, denkt er sich. Erst recht für einen wie ihn, erfahren und sportlich in Höchstform.

Noch in der Nacht fährt Ralston zum Ausgangspunkt. Er schläft auf der Ladefläche seines Pickups. Als die ersten Sonnenstrahlen über die steinige, gelbe Landschaft züngeln, bricht er auf. Kurz davor hat er sich entschieden, einen Teil seines bereits knapp bemessenen Proviants zurückzulassen. Seine Tour startet Ralston mit dem Mountainbike. Als er im unwegsamen Gelände nicht mehr vorwärtskommt, läuft er weiter. Unterwegs trifft er auf zwei Wanderinnen, die er zu einem See, verborgen im Innern des Canyons, begleitet. Zusammen durchstehen sie risikoreiche Kletterpartien, überwinden innere Grenzen. Die schiere Lebenslust von Ralston hätte sie dabei angetrieben, werden die zwei später erzählen.

Nach einem Bad im See verabschiedet sich Ralston von den Frauen. Er rennt weiter, klettert über Felsen und in Felsspalten. In einer Spalte soll ihm, wie bereits hundertfach geschehen, ein grosser Steinbrocken den Abstieg ermöglichen. Wie immer prüft er sorgfältig, dass der Stein fest zwischen den Felswänden eingeklemmt liegt. Dann hangelt er sich daran herunter. In diese Augenblick geschieht es: Der Stein löst sich und reisst Ralston mit in die Tiefe. Als beide ruhen, ist seine rechte Hand zwischen dem Felsbrocken und der Bergwand eingeklemmt. Die Füsse baumeln nur Zentimeter über dem Grund einer schattigen Steinspalte, finden knapp Halt auf einem Vorsprung. Vor ihm liegen 127 Stunden. Endlos durchsetzt von Schmerz, Hunger, Kälte und Angst. Vor ihm liegt aber auch das, was Ralston zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht kennt: sein unbezwingbarer Glaube daran, diese scheinbar aussichtslose Situation irgendwie zu meistern. Fortan lenkt dieser sein Handeln und lässt ihn nach jedem Rückschlag nach einer nächsten Befreiungsmöglichkeit weitersuchen. Bis am Ende nur noch eine Lösung bleibt. Seinen schmerzhaften Prozess der Bewusstwerdung dokumentiert Ralston mit seiner Videokamera.

Eine Blutspur an der Felswand zeugt vom Unfall. Ungläubig starrt Ralston auf seine eingeklemmte Hand. Anfangs versucht er stundenlang die verletzte Hand herauszuzerren oder mit der Schulter den Fels zu verrücken. Vergeblich. Er schreit um Hilfe, ruft die Namen der Wanderinnen. Vögel kreisen über ihm. Erstmals erkennt er, wahrhaftig am einsamsten Ort von Utah festzustecken. Daraufhin kratzt er lange mit der Klinge seines Messers am Stein, doch das billige Metall vermag nichts auszurichten.

Die erste Nacht bricht an. Die Temperaturen sinken auf nahezu null Grad. Ralston fixiert sich mit einem Klettergurt am Stein. Gegen die Kälte bedeckt er seinen Kopf mit dem Rucksack und wickelt sich die restlichen Kletterseile um Beine und Arm. Fiebrige, kurze Träume von Familie und Freunden übermannen ihn, immer wieder, stundenlang. Erst als Sonnenlicht in die Spalte findet, nimmt dieser Zustand ein Ende. Ralston erinnert sich, dass das wärmende Licht ihm wenige Minuten Freude bereitet, er gar ein Gefühl von Glück spüren kann.

In der Flasche sind noch rund drei Deziliter Wasser, im Rucksack befinden sich zwei Riegel. Durst und Hunger sind übermächtig. Er halluziniert sich an Badestrände, hört den Klang von Wasser in allen Variationen, denkt an die zurückgelassene Wasserflasche in seinem Pickup. Doch auch wenn die Situation aussichtslos erscheint: Ralston rationiert den verbliebenen Proviant strikt.

Auf der Videokamera hinterlässt er Nachrichten für seine Eltern, die Schwester und Freunde. Für den Fall, dass er sterben sollte. Er entschuldigt sich bei seiner Mutter, für ihre vielen Zuwendungen, die ohne Dank geblieben sind. Er bereut sein verletzendes Verhalten gegenüber früheren Liebschaften. Die Erinnerungen handeln von Egoismus und Überheblichkeit. Gefangen zwischen Felswänden, habe bei ihm ein neues Verständnis für die Auswirkungen seines Handelns und eine tiefe Wertschätzung seiner Beziehungen eingesetzt, sagt Ralston später.

Die Kamera ist nun sein einziges Gegenüber. Sie schafft Distanz zur Situation und hilft ihm, nach Lösungen zu suchen. Bis am Ende nur noch ein Ausweg bleibt.

Inzwischen trinkt Ralston Urin. Sein Körper ist vollends ausgezehrt, das Denken weicht immer mehr einer Trance. Bis am Ende nur noch eine Lösung bleibt.

Als er zum ersten Mal mit der Klinge in den Vorderarm sticht, entweicht mit leisem Pfeifen Verwesungsgas aus der Wunde. Er muss den Versuch abbrechen. Das stumpfe Messer kann dem Knochen nichts anhaben. Der Anblick seiner faulenden Hand wird Ralston als den schlimmsten Moment in der Felsspalte bezeichnen.

Inzwischen muss er seinen Urin trinken. Seine Kräfte schwinden zunehmend. Das Denken fällt schwer, weicht immer mehr einer Trance. Trotzdem schafft er es, sich einen Flaschenzug zu bauen. Er scheitert an der Zugkraft. Der Felsblock rührt sich nicht. Alles hängt jetzt davon ab, ob er seine Knochen durchtrennen kann. Die Suche nach einem Ausweg treibt ihn an. Sein Glaube daran, sich selbst befreien zu können, bleibt unerschütterlich. Am fünften Tag dann der entscheidende Einfall. Er verdreht seinen Arm so lange, bis nacheinander Elle und Speiche bersten. Mit dem stumpfen Messer durchtrennt er alle Weichteile, Blutgefässe und Nerven. Die Schmerzen sprengen die Vorstellungskraft. Alles brennt. Nach einer Stunde ist er frei. Das Undenkbare hat er in die Tat umgesetzt. Ralston muss noch heute lächeln, wenn er sich an jenen Moment erinnert, als er den entscheidenden Geistesblitz hatte, der ihn aus seiner Situation befreien sollte.

Nach der Amputation muss er nochmals endlose dreizehn Kilometer laufen und sich zwanzig Meter abseilen. Erst dann trifft er auf Rettung. Sechs Stunden, nachdem er seine rechte Hand hinter sich gelassen hat, liegt er im Spital. Zu diesem Zeitpunkt wiegt er achtzehn Kilogramm weniger als 127 Stunden zuvor, weiter hat er einen Viertel seines Blutes verloren. Zwei Jahre später wird er den letzten der 59 Viertausender in Colorado im Alleingang bestiegen haben.

Ralstons Geschichte schaffte es sogar als Spielfilm auf die Leinwand. Bis heute berichtet er – nun vierzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern – in unzähligen Interviews und Motivationstrainings von seinen Tagen im Canyon. Dabei sagt er auch, dass die unvorstellbaren Qualen bei ihm zu keinem psychischen Trauma geführt haben. Im Gegenteil, er beschreibt ein vollkommen neues Erleben. Das Gefangensein in der Felsspalte habe ihm die Grenze seiner Existenz aufgezeigt. Die fehlende Hand erinnere ihn an die wichtigste Erkenntnis in der Felsspalte: seinen Mitmenschen Liebe und Zuwendung schenken. Dabei spricht er von tiefer Dankbarkeit für das Erlebte. Er habe nicht einen Arm verloren, sondern ein Leben gewonnen.

Rahel Krähenbühl ist Psychologin und lebt in Zürich.