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Autorin: Lotta Suter
Ilustrations: Mauro Mazzara
Dienstag, 24. November 2020

Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden lang liege ich Anfang Juni mit dem Gesicht nach unten auf den Steinfliesen vor dem Regierungsgebäude in Montpelier, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Vermont. Die Black-Lives-Matter-Organisation hat uns, rund fünftausend mehrheitlich weisse Demonstranten, zu dieserGeste aufgefordert.

Denn acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden lang hatte ein weisser Polizist am 25. Mai in Minneapolis, Minnesota, sein Knie in den Nacken des bereits in Handschellen gelegten George Floyd gedrückt, bis der Afroamerikaner seinen letzten Atemzug tat und starb.

Die Frau neben mir stöhnt leise, die Wunden von ihrer Knieoperation sind noch frisch. Doch Ausharren in der schmerzhaften Stellung ist für sie Ehrensache. Ich schliesse die Augen und denke an George Floyd, Breonna Taylor, Ahmaud Arbery und die über tausend Menschen, die in den USA jedes Jahr von der Polizei getötet werden. Oft sind die Opfer unbewaffnet. Erschreckend häufig sind sie « People of Color ».

In meinem Kopf werden die Fotos von aktuellen Polizeiübergriffen verdrängt durch ältere Bilder von Lynchmorden. Mehr als viertausend solche aussergesetzlichen Tötungen, meist mit weissen Tätern und schwarzen Opfern, gab es in den USA von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Ohne richterliches Urteil wurden die Beschuldigten verstümmelt, bei lebendigem Leib verbrannt oder erhängt, oft vor einem johlenden Publikum im Sonntagsstaat. Und auch damals schon gab es ein soziales Medium: Mittels Postkarte schickten die Zuschauenden grauenhaft detaillierte Bilder der Lynchungen an die Lieben daheim.

Ich mache die Augen wieder auf. Die Frauen und Männer neben mir liegen in gebührendem Coronavirus-Abstand und mit Gesichtsmaske flach auf dem Boden ausgestreckt. Sie erinnern mich an die Nonnen und Mönche, die sich einst bussfertig vor dem Altar niederwarfen. Ist auch unsere weltliche Prostration ein Zeichen der Demut vor grossem Leid und eine flehentliche Bitte um Erlösung ? Ach was, stelle ich mich auf den Boden der Realität zurück, dies ist ein entschieden politischer Protest. Die Redner haben unter anderem die Abschaffung der reformresistenten Polizei gefordert und dazu aufgerufen, im Herbst unbedingt an die Urne zu gehen und Präsident Trump abzuwählen.

Doch dann fällt mir ein, dass junge Aktivistinnen, manche mit muslimischer Kopfbedeckung, die Kundgebung mit einer Libation, einem Trankopfer, begonnen hatten. Sie gossen ein wenig Wasser auf den Boden und riefen die Abenaki an, indianische Vorfahren, die einst in dieser Gegend gelebt haben. Dann wurde Mutter Erde in einer poetischen Sprache geehrt, die irgendwo zwischen Himmel und Erde angesiedelt war.

Direkt vor mir steht nun ein älterer Mann im schwarzen Black-Lives-Matter-Pulli und blauweissen Palästinensertuch. Auf seinem Plakat steht « We Will Rise ». Das erinnert an die christliche Ostergeschichte: « Wir werden auferstehen ». Der Freund an seiner Seite trägt eine alte schwarze Lederjacke mit einem riesigen Portrait des muslimischen Bürgerrechtlers Malcolm X auf dem Rücken.

«Die spirituelle Vielfältigkeit und Offenheit der Black-
Lives-Matter Bewegung verspricht vielleicht nicht das ‹ grosse ›, aber ein neues Amerika.» Lotta Suter

Ich mache mich ziemlich nachdenklich auf den Heimweg. Black Lives Matter, die mittlerweile mit Abstand grösste soziale Bewegung der US-Geschichte, ist nicht von schwarzen Kirchenmännern geführt, wie es die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King vor sechzig Jahren war.

Doch die Bewegung ist auch nicht so gottlos, wie das die politische Gegenseite gern behauptet. Eine Gegenseite, die felsenfest davon überzeugt ist, Gott auf ihrer Seite zu haben.

Spielball Gott

Am 1. Juni, eine Woche nach George Floyds gewaltsamem Tod, verjagte Präsident Trump eine gewaltfreie Black-Lives-Matter-Kundgebung vom Lafayette Square in der Nähe des Weissen Hauses. Die Demonstranten hatten sich an diesem Ort versammelt, der einst Marktplatz für den Sklavenhandel war, um gegen den Rassismus von heute zu demonstrieren. Das war ihr verfassungsmässig garantiertes Recht.

Trotzdem räumte der Regierungschef und oberste Kriegsherr der USA den Platz mit Militärpolizei, Tränengas, Gummigeschossen und berittenen Uniformierten. Begleitet von hohen Generälen, einer sogar in Camouflage-Uniform, schritt er dann vorbei an Graffitis, die für Gerechtigkeit und Frieden warben, und stellte sich vor der nahen St. John’s Episcopal Church so unverschämt wie ungeschickt mit einer Bibel in der Hand vor die Kameras.

Die Trump-Fans waren von diesem Auftritt begeistert. Konservative und evangelikale Christen sahen den demonstrativen «Jericho-Gang» als Sieg der Gerechten in einer Welt voller Verderben. Benjamin Horbowy, der in Tallahassee einen Pro-Trump-Motorradclub leitet und für einen republikanischen Sitz im Senat des Bundesstaates Florida kandidiert, sagte gegenüber der britischen Tageszeitung « The Guardian », seine Mutter habe geweint und in Zungen geredet, als sie Donald Trump mit der 7 Bibel gesehen habe. Er selber habe gedacht: «Jetzt schau dir mal meinen Präsidenten an! Er errichtet das Königreich Gottes in dieser Welt.»

Natürlich gab es auch Widerspruch von gemässigterer kirchlicher Seite. Mariann Budde, die Bischöfin des Gotteshauses, das Präsident Trump für seinen Fototermin aus praktischen, nicht aus ideologischen Gründen ausgewählt hatte, betonte, sie sei über den spektakulären Besuch gar nicht informiert worden. Der Präsident habe die Bibel und ihre Kirche als Kulisse missbraucht «für eine Botschaft, die antithetisch ist zur Lehre von Jesus». James Martin, ein jesuitischer Priester und Kommunikationsberater von Papst Franziskus, doppelte auf Twitter nach : «Ich sage es laut und deutlich: Dies ist eine widerliche Sache. Die Bibel ist kein Requisit. Eine Kirche ist kein Fotomotiv. Religion ist keine Handlangerin der Politik. Gott ist kein Spielball.»

Das sind hehre Glaubensideale. In Wirklichkeit ist Religion seit Menschengedenken im Guten wie im Schlechten für politische Ziele eingesetzt worden. Die USA scheinen für messianisch-politische Botschaften besonders empfänglich zu sein. Vielleicht, weil die wegen ihres Glaubens verfolgten Europäer bei der Entstehung der Vereinigten Staaten eine so wichtige Rolle gespielt haben.

Die Puritaner vor allem haben ihre Auswanderung zum biblischen Exodus erhöht und ihr im Grunde koloniales Projekt auf dem neuen Kontinent in Anlehnung an die Bergpredigt zur «leuchtenden Stadt auf dem Hügel» verklärt. Die religiös begründete Idee des «Amerikanischen Exzeptionalismus», die Überzeugung, ein auserwähltes Volk zu sein, ist durch die Jahrhunderte eine feste Metapher der hiesigen Politik geworden. Doch so oft und so grob wie Donald Trump hat noch kein Präsident die Religion als Vehikel für politische Interessen eingesetzt.

Dabei schreibt die bis heute gültige US-Verfassung von 1787 eine strikte formale Trennung von Kirche und Staat vor. Keine US-Behörde treibt, so wie viele Steuerämter in der Schweiz, Kirchensteuern ein. Religionsunterricht oder auch nur christlich geprägte Weihnachtslieder sind in den USA an öffentlichen Schulen nicht zugelassen. Stattdessen – quasi als Religionsersatz – legen die Kinder während ihrer zwölfjährigen Schulzeit jeden Morgen einen Fahneneid ab auf die «eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle».

Und noch in der kleinsten oder liberalsten Kirche steht neben dem Kreuz die blauweissrote Fahne der USA. Ich selber habe mich nie wohlgefühlt in diesem salbungsvollen Patriotismus, bin aber jedes Mal höflich mitaufgestanden, wenn beim Schulsportanlass mit grosser Andacht die Landeshymne abgespielt wurde. Weil ich mich dabei aber nicht der Flagge zuwandte und auch nicht die Hand aufs Herz legte, haben mich die anderen Eltern trotzdem mit Leichtigkeit als Ketzerin entlarvt.

Zurzeit nutzen viele US-Spitzensportler diesen feierlichen Moment vor dem Spiel, um gegen Polizeigewalt und Rassismus zu protestieren. Colin Kaepernick von der National Football League machte 2016 den Anfang. Auch die Fussballspielerin Megan Ripanoe war unter den ersten, die während des Abspielens der Landeshymne demonstrativ niederknieten. Nach dem Tod von George Floyd haben sich Mitglieder aller populären Sportarten der USA – Baseball, Basketball, Frauenfussball und American Football – dem stillen Protest angeschlossen. Die vergleichsweise bescheidene Geste des Niederkniens löst nicht nur bei Präsident Trump heftige Gefühle und Reaktionen aus. Das Ritual ist in den USA wirksam, weil es die Menschen auf politischer und religiöser Ebene zugleich anspricht.

Und die USA sind nach wie vor ein frommes Land. Zwar gibt es wie in allen Industrieländern immer mehr vor allem junge Menschen, die sich von der organisierten Religion distanzieren. Etwa ein Viertel der Bevölkerung bezeichnet sich als konfessionslos, doch die meisten glauben trotzdem an einen Gott. Mehr als die Hälfte der Leute sagen, sie beteten regelmässig ; in der Schweiz sind es weniger als zehn Prozent. Politisch besonders bedeutsam ist es, dass die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger in den USA finden, die Bibel solle die Gesetze des Landes beeinflussen. Gemäss einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center wünscht sich fast ein Drittel der Amerikanerinnen und Amerikaner sogar, dass im Konfliktfall die Bibel und nicht der Wille des Volkes ausschlaggebend sein sollte.

Für eine Philosophin wie mich klingt diese Maxime für ethisches Handeln in einer Demokratie furchtbar komplex. Man kann mit der Bibel konsequenten Pazifismus begründen, so wie das etwa die Quäker oder mit ganz anderen theologischen Gründen die Zeugen Jehovas tun. Oder man kann – Auge um Auge – für die Todesstrafe plädieren. Die aktuelle politische Auslegung ist allerdings denkbar einfach: Rund dreissig Prozent der US-Bevölkerung möchten bestimmte bereits beschlossene Gesetzesänderungen rückgängig machen und mit «biblischen Werten» ersetzen.

Ein besonderer Dorn im Auge der Bibeltreuen ist das seit 1973 verfassungsmässig garantierte Recht der Frauen auf reproduktive Selbstbestimmung, inklusive des Rechts auf Abtreibung. Aber 10 bref Nº12/ 2020 auch die seit 2015 landesweit zugelassene gleichgeschlechtliche Ehe oder der Diskriminierungsschutz für LGBTQ*, also Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlecht nicht gängigen Normen entspricht, haben in ihrem alttestamentarischen Weltbild keinen Platz.

Trumps Anspruchsgeste auf die Bibel hat Illustrator Mauro Mazzara kurzerhand angepasst.

Dieser Gruppe von religiösen Fundamentalisten hat Donald Trump vor der St. John’s-Kirche mit der Bibel zugewunken. Ihnen zuliebe will er die linksliberale Oberrichterin Ruth Bader Ginsburg möglichst noch vor der Wahl am 3. November mit der konservativ-katholischen Amy Barrett ersetzen, einer überzeugten Abtreibungsgegnerin und Hüterin traditioneller christlicher Werte. Im Herbst 2016 waren weisse Evangelikale und konservative Katholiken Trumps grösster und stabilster Wählerblock gewesen. Und in den letzten vier Jahren haben sie durch dick und dünn zu ihrem Präsidenten gehalten. Nun bietet ihnen Donald Trump für die Wiederwahl denselben politisch-religiösen Kuhhandel an wie zuvor : Ihr gebt mir eure Stimme. Ich erhalte euch eure «christliche Nation».

Religiöses Dogma kann in diesem Fall besser erklären als politische Analysen, wieso sich Trumps Basis weder von seinen kleinen und grossen Lügen noch von Korruption und Willkür, ja nicht einmal von den über 200 000 Coronatoten im Land beirren lässt. Diese fundamentalistischen Wählerinnen und Wähler interessieren sich nicht für das demokratische Aushandeln von unterschiedlichen Interessen.

Sie denken in absoluten, apokalyptischen Begriffen. Sie wollen glauben und nicht sehen. Donald Trump verspricht ihnen ein «Great America», ein gelobtes Land. Ein «grossartiges Amerika», in dem sie, die weissen Christen, als Weisse Christen weiterhin das Sagen haben. Wichtig zu wissen: Weiss und Schwarz, mit Grossbuchstaben geschrieben, bezeichnet nicht die hellere oder dunklere Pigmentierung der Haut, sondern steht für das soziale Konstrukt von «race», ein Begriff, der in den USA im Gegensatz zum deutschen Wort «Rasse» immer schon mit Kämpfen gegen soziale Ungleichheit und rassistische Diskriminierung assoziiert wurde.

«Was würde Jesus tun?»

Die Geschichte der USA zeigt besonders deutlich, dass Religion sowohl ausgrenzen wie einladen, unterdrücken wie befreien kann. Um bei unserer neuartigen Sprachregelung zu bleiben : Religion, genauer das in dieser Nation dominierende Christentum, kann Weiss sein oder Schwarz. Die Sklavenhalter im Süden «Am 3. November wird darüber entschieden, ob Trump und seine religiösen Fundamentalisten weiter regieren werden. Oder ob die USA bereit sind, sich mit Biden und Harris den Herausforderungen der Zeit – der Polizeigewalt, der Coronakrise und dem Klimawandel – zu stellen.»

Lotta Suter 11 der USA entnahmen der Bibel, dass sie sich die Erde untertan machen sollten. In diesem Sinn machten sie auch ihre Sklaven bibelkundig: Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist. Doch die versklavten Menschen hörten die biblische Botschaft ganz anders: Auch sie waren im Ebenbild Gottes geschaffen worden. Auch auf sie traf das Gebot der Nächstenliebe zu. Die Religion gab ihnen Würde und Kraft zum Überleben und zum Widerstand.

Diese zwei sehr unterschiedlichen christlichen Denkmuster – vertikal und hierarchisch versus horizontal und demokratisch – prägen die US-amerikanische Religion und die Politik bis heute. Weisse und Schwarze Kirchen beeinflussen gesellschaftlich zentrale Debatten über Migration, Armut, Strafjustiz und Genderfragen. «Was würde Jesus tun?» Diese Frage kleben sich gläubige Amerikanerinnen gerne auf die Heckscheibe ihres Autos.

Doch Jesus gibt keine eindeutige Antwort. Unter Berufung auf das Christentum werden in den USA nicht nur verschiedene, sondern so unvereinbare politische Ziele wie soziale Gerechtigkeit und «White Supremacy», die Vorherrschaft der Weissen, gerechtfertigt. Das starre Zweiparteiensystem der USA verstärkt noch die Tendenz, politische Differenzen in moralisch absoluten Begriffen wie Gut und Böse zu sehen. In diesem Teufelskreis spiegelt die Religion nicht nur die Vielfalt und Zerstrittenheit der heutigen US-Gesellschaft, sie heizt die Konflikte noch an, weil sie die Menschen in ihrem existenziellen Kern trifft.

Als ich Ende der 1990er Jahre mit meinen vier Kindern in die USA einwanderte, waren mir die religiösen Untertöne in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ziemlich suspekt. Eines der ersten Bücher, das ich in meiner neuen Wahlheimat las, war der Roman «Paradies» der afroamerikanischen Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Dieses Buch half mir, mein Unbehagen besser zu verstehen. Die «Paradies»-Geschichte geht so: Eine Gruppe von ehemaligen Sklaven gründet eine rein schwarze Gemeinschaft, um da eine eigene bessere Welt aufzubauen. Das soziale Experiment, für das es historische Vorlagen gibt, scheitert im Roman dramatisch.

Denn es gibt kein Paradies ohne Vertreibung. So verstand ich jedenfalls Toni Morrisons brisanten Kerngedanken, den sie später in zahlreichen Essays weiter ausgeführt hat. Hochgreifenden Aussagen, welche die USA zur auserwählten oder einzigartigen Nation erhöhen, begegne ich bis heute mit dem Argument: Wenn wir das Paradies auf Erden wollen, werden wir den wirklichen Menschen mit ihren Widersprüchen nicht gerecht. Denn jeder moralische Fundamentalismus, ob religiös begründet oder nicht, beinhaltet die zutiefst antidemokratische Botschaft, dass nichts, was wirklich wichtig ist, von Menschen diskutiert und verändert werden kann. Das Wesen der Demokratie besteht aber gerade darin, dass die Menschen ihre Werte nicht fixfertig im Kosmos vorfinden, sondern sie gemeinsam bestimmen und nach gewissen Regeln aushandeln.

Ein neues Amerika

Ein paar Monate nach George Floyds Tod schaue ich mir im Internet die farbigen und phantasievollen Altäre an, die in vielen US-Städten zu Ehren von ihm und weiteren Opfern der Polizeigewalt errichtet worden sind. Kerzen, Bilder, Blumen, Traumfänger. Heilerinnen in Weiss neben wütenden politischen Plakaten. Ist die Black-Lives-Matter-Bewegung eher eine religiöse oder eine politische Bewegung?

Sicher ist sie nicht so direkt wie die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre aus den Schwarzen Kirchen heraus entstanden. Damals waren Gotteshäuser der beste Ausgangsort für den Kampf um Gleichberechtigung. Alle anderen Machtzentren waren von Weissen besetzt. Schwarze Kirchen waren nicht bloss spirituelle Begegnungszentren, sie boten den Demonstranten ganz praktisch Kost und Logis an, was besonders in den Südstaaten wichtig war, deren Hotels und Motels keine afroamerikanischen Gäste akzeptierten. Nach der Ermordung von Martin Luther King am 4. April 1968 haben viele Kirchen sich von nationalen Protestaktionen zurückgezogen, auch wenn sie sich in ihrem eigenen Umfeld weiter für soziale Gerechtigkeit einsetzten. Schwarze Kirchen spielen auch in der heutigen Antirassismusbewegung noch eine wichtige Rolle.

« Am 3. November wird darüber entschieden, ob Trump und seine religiösen Fundamentalisten weiter regieren werden. Oder ob die USA bereit sind, sich mit Biden und Harris den Herausforderungen der Zeit – der Polizeigewalt, der Coronakrise und dem Klimawandel – zu stellen. » Lotta Suter

Doch Black Lives Matter ist nicht mehr unbedingt auf die organisierte Religion angewiesen. Es gibt Schwarze Anlaufstellen und Ansprechpersonen an den Universitäten, im Sport, in der Musik, beim Film und auch in der Politik. Und es gibt das Internet, um die Menschen zu informieren und zu mobilisieren. Das kühle Verhältnis vieler Black-Lives-Matter-Aktivistinnen zur Schwarzen Kirche hat jedoch nicht nur organisatorische Gründe. So radikal viele Schwarzen Kirchen zum Thema Rassismus predigen und handeln, so rückschrittlich sind sie oft, was unkonventionelle Familienformen oder «abweichende» sexuelle Orientierung angeht. Viele junge Menschen nehmen die Schwarzen Kirchen darum als konservative Kraft wahr.

Manche Demonstranten kommen ausserdem aus nicht-christlichen Kulturen. Sie sind Muslime, Buddhistinnen, jüdisch oder konfessionslos. Manche besinnen sich auf traditionelle afrikanische Religionen. Die spirituelle Vielfältigkeit und Offenheit der Bewegung verspricht vielleicht nicht das «grosse», aber ein neues Amerika.

Hebah Farah, Forscherin am Center for Religion and Civic Culture der University of Southern California, betont die spirituellen Wurzeln der Bewegung: «Der Kampf für die Befreiung der Schwarzen war immer eine Glaubensbewegung, und Black Lives Matter ist da keine Ausnahme. Die Bewegung ist ebenfalls vom Glauben durchdrungen. Es ist einfach ein anderer und neuerer Glaube.»

Wie andere fortschrittliche soziale Bewegungen gehe Black Lives Matter von der unveräusserlichen Würde des Menschen aus und kämpfe gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die diese Würde bedrohten. «Das sind spirituelle Werte, die zum Kern der meisten Religionen gehören und die ihrerseits durch diese spirituellen oder religiösen Glaubenssysteme geformt werden.»

Melina Abdullah, Professorin für panafrikanische Studien an der California State University, Los Angeles, und Mitbegründerin der Bewegung, sagt es etwas direkter: «Black Lives Matter existiert wegen der Liebe der Menschen. Wir sind nicht bezahlte Organisatorinnen. Wir sehen die Arbeit für Black Lives Matter als unsere heilige Pflicht. Es ist unsere heilige Pflicht, unsere Berufung.»

Besonders wichtig ist für Melina Abdullah und viele andere Aktivistinnen die Libation, eine jahrhundertealte afrikanische Tradition der Erinnerung und Danksagung, mit der ihrer Meinung nach jede Veranstaltung der Bewegung beginnen sollte. Wir müssten uns als erstes die Ahnenreihe des langen Kampfes gegen den Rassismus vergegenwärtigen und die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer namentlich ehren : etwa die ehemaligen Sklavinnen Soujourner Truth und Harriet Tubman, die Bürger- und Frauenrechtlerinnen Ida B. Wells und Ella Baker, den Baptistenpastor Martin Luther King, den muslimischen Freiheitskämpfer Malcolm X … Nur mit der Hilfe und dem Segen unserer Vorfahren könnten wir gute Erbinnen und Erben dieser wichtigen Sache sein.

Ich denke zurück an die Libation der jungen Black-Lives-Matter-Frauen in Montpelier: ein sakrales Ritual vor dem Regierungsgebäude mit politisch brisanten «Heiligen», die uns Vorbild sind, unser Verhalten aber nicht vorschreiben, sondern uns die Verantwortung für unser Tun voll zumuten. Ich erlebte dieses Trankopfer als tröstlich, inklusiv und radikal zugleich.

Am 3. November wird in den USA darüber entschieden, ob Donald Trump und seine religiösen Fundamentalisten vier weitere Jahre regieren werden. Oder ob die USA bereit sind, sich mit dem Team Joe Biden und Kamala Harris den Herausforderungen der Zeit – Polizeigewalt, Coronapandemie, Wirtschaftskrise, Klimawandel – zu stellen. Die Präsidentschaftswahlen werden in den US-Medien gerne als Duell von rechts – Republikanern – gegen links – Demokraten – dargestellt. Dieses Jahr stehen die beiden hellhäutigen älteren Herren aber auch für ein rassistisches beziehungsweise für ein zumindest ansatzweise antirassistisches, offeneres Amerika. Eine weisse Wahl zwischen Weiss und Schwarz.

Die Autorin Lotta Suter wanderte vor über zwanzig Jahren in die USA aus und gilt als ausgewiesene Expertin der amerikanischen Gesellschaft und Politik. Sie lebt im Bundesstaat Vermont.
Der Illustrator Mauro Mazzara lebt und arbeitet nahe Mailand. 

Lotta Suter: «Amerikanerin werden. Tagebuch einer Annäherung». Rotpunktverlag, Zürich 2018; 240 Seiten; 28 Franken.