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Autorin: Johanna Roth
Freitag, 14. Mai 2021

Herr West, in Minneapolis ist gerade der Prozess gegen den ehemaligen Polizisten Derek Chauvin zu Ende gegangen, der im vergangenen Jahr George Floyd ge­tötet hatte. Minutenlang kniete er auf dessen Nacken. Vor wenigen Wochen starb unweit des Gerichts der Afroamerikaner Daunte Wright durch eine Polizeikugel. Was passiert da in den USA?

Wir sehen das Versagen des amerikanischen Rechtsstaats. Und das nicht erst seit einigen Jahren, sondern seit der Gründung dieses Landes. Es gab einige Fortschritte und Durchbrüche, aber sie haben nicht zu dem tiefgreifenden Strukturwandel geführt, der dieses Versagen beenden würde. Solange ein Schwarzes Leben noch immer weniger gilt als ein weisses, wird jede Polizeireform zu kurz greifen.

Sie meinen, nicht nur die Polizei braucht eine Reform, sondern die ganze Gesellschaft?

Absolut. Zwei Dinge sind wichtig. Erstens: ein moralisches und spirituelles Aufbegehren gegen das weisse Überlegenheitsgefühl. Teilweise haben wir das ja schon gesehen, wenn wir auf die Strassen von Minneapolis blicken oder in andere Städte, in denen im vergangenen Sommer demonstriert wurde: Ein grosser Teil der jungen Menschen, die dort für Gerechtigkeit protestiert haben, war weiss. Diese Generation positioniert sich viel stärker gegen Rassismus als ihre Eltern. Das liegt auch daran, dass dieses Aufbegehren wie schon bei der Bürgerrechtsbewegung in der Popkultur vorgelebt wird, besonders in der Musik. Das Zweite ist, endlich die massive soziale Ungleichheit in diesem Land anzupacken, die heruntergekommenen Schulen, die völlig unzureichende Gesundheitsversorgung.

Schon die Eltern- und Grosselterngeneration vieler, die heute auf die Strassen gehen, hat gegen strukturellen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit protestiert. Wie vermitteln Sie ihnen Hoffnung, dass sich etwas ändern wird?

Hoffen ist kein Gefühl, keine Stimmung. Es ist ein Tuwort. Solange man in Bewegung bleibt, ist man die Hoffnung. Das ist etwas anderes, als nur Hoffnung zu haben. Und auch hier kann man die Rolle der Künste und speziell der Musik gar nicht genug betonen. Wir können viel über Hoffnung sprechen, aber Musik hält uns in Bewegung, mit Melodien, Harmonien, aber auch Dissonanzen. Sie bewahrt die Dinge in der Zeit, durch alle Zeiten.

In vielen Momenten des vergangenen Jahres schien es auch, als sei die Hoffnung verloren. Die Proteste waren wütend, teils gab es Brände und Zerstörungen.

Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen simpler Wut und gerechtem Zorn, wie ihn auch Martin Luther King vertrat. Denken Sie an Jesus, der die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb. War das einfach nur ein Wutausbruch? Nein, es war mehr als das – ein Zeichen für das tiefe Unrechtsbewusstsein Jesu, für den Systemkampf, den er führte. Es waren ja nicht nur die Geldwechsler, sondern draussen standen Hunderte römische Soldaten, dazu kamen die Gelehrten, mit denen Jesus sich anlegte. Er kämpfte für Gerechtigkeit, für die Armen. Ja, ein solcher Zorn kann auch überlaufen, aber darunter liegt ein sehr wichtiger Impuls.

Präsident Joe Biden sieht das anders. Er hat immer wieder dazu ermahnt, friedlich zu protestieren.

Mir machen die Ausschreitungen weniger Sorgen. Sie zeigen, dass dieses System unfähig ist, für Gerechtigkeit zu sorgen, und wie sehr das die Menschen beschäftigt. Was für mich zählt, ist, ob Liebe und Gerechtigkeit im Zentrum des eigenen Handelns stehen.

Sie haben zur Wahl Bidens aufgerufen, aber ihn immer wieder harsch kritisiert, ebenso wie Barack Obama. Beide seien Neoliberale und Teil genau jenes Systems. Wie denken Sie über Bidens erste hundert Tage im Amt? Für seine Konjunkturpakete hat er schon viel Applaus bekommen.

Oh, da schliesse ich mich durchaus an. Seine Pläne für wirtschaftlichen Wiederaufbau und eine verbesserte Infrastruktur erinnern an Franklin D. Roosevelt, und ich finde es lobenswert, dass er den Krieg in Afghanistan ebenso beenden will wie die Unterstützung für die saudiarabische Kriegführung im Jemen. Was allerdings nicht aus dem Blick geraten darf, ist: Biden hat sich schuldig gemacht, was die Nichtachtung Schwarzer Leben in Strafverfolgung und Justiz betrifft.

Sie spielen auf die Strafrechtsreform von 1994 an. Biden war damals Senator und legte ein Null-Toleranz-Gesetz vor, das für die überproportional häufige Inhaftierung von Afroamerikanern verantwortlich gemacht wird.

Biden hat bei diesem Thema auch schon in den achtziger Jahren mit Segregationisten aus den Südstaaten paktiert. Aber ja, 1994 stand er vor dem Senat, sprach von «Raubtieren in den Strassen» und sagte Dinge wie: «Sperrt sie ein und werft den Schlüssel weg!» Wir sehen immer noch die Auswirkungen dieser unmenschlichen Politik. Aber ich will ihm nicht unterstellen, nicht dazugelernt zu haben. Jedenfalls wird unser Druck auf ihn nicht nachlassen.

Biden hat sich sehr für einen Schuldspruch im Fall George Floyd ausgesprochen und regelmässig mit der Familie Kontakt gesucht. Ist das nur Symbolpolitik?

Das gehört auch dazu, klar. Aber er sollte nicht nur mit den Angehörigen sprechen, sondern vor allem mit der Polizei. Dort gibt es eine Kultur des Schweigens, viele haben Angst davor, brutale Kollegen zu kritisieren. Diese Strukturen müssen durchbrochen werden. Biden muss klarstellen, dass jeder Gewaltakt seitens eines Polizisten, insbesondere auf Schwarze Mitbürgerinnen und Mitbürger, nicht ungesühnt bleiben kann. Das bedeutet, dass er vor allem die Polizeigewerkschaften konfrontieren muss.

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