Aus dem Brief von Martha Hennessy, geschrieben im Gefängnis Danbury im US-Bundesstaat Connecticut:
«Eine Jüngerin Christi im 21. Jahrhundert zu sein ist eine sehr grosse Herausforderung. Ich versage täglich.» – Danbury, 26. April 2020
November 2019, rund fünf Monate vor dem Verfassen dieser Zeilen. Martha Hennessy, 65, sitzt an ihrem kleinen Schreibtisch in einem heruntergekommenen Backsteinhaus in New York City. Es ist ein ungewöhnlich warmer Freitag im Spätherbst, durch die offenen Fenster dringt der Lärm der Stadt. Hennessy hat ihre grauen Haare zu einem Knoten gebunden, trägt eine schwarze Bluse, darüber eine blaue Strickweste. Vor ihr steht das aufgeklappte Notebook, daneben liegt ein kleiner Jesus aus Stroh. Auf dem Bildschirm ist eine Richterin des US-Bezirksgerichts Southern District of Georgia zu sehen. Die Pandemie hat die Gerichtsverhandlung gegen Hennessy um Monate verzögert. Nun aber wird gleich das Urteil verkündet – digital.
Davor darf sie letzte Worte sprechen. Hennessy hält kurz inne, dann sagt sie: «Ich stehe hier als Ergebnis meiner religiösen Überzeugung, die mich zum Protest gegen Atomwaffen aufruft. Ich habe keine kriminelle Absicht, ich möchte dazu beitragen, eine weitere atomare Massenvernichtung zu verhindern.»
Schon Hennessys Grossmutter Dorothy Day führte einen leidenschaftlichen Kampf für eine friedlichere Welt. Sie soll selig gesprochen werden.
Am 4. April 2018 war sie mit sechs weiteren Aktivistinnen und Aktivisten nachts in einen US-Militärstützpunkt im Bundesstaat Georgia eingebrochen, um gegen Atomwaffen zu protestieren. In der Base hat die Regierung ihr seegestütztes nukleares Startsystem mit ballistischen Interkontinentalraketen gelagert. Zusammen verfügen sie über die 3600fache Sprengkraft der Hiroshima-Atombombe. Die gesamte Aktion war von einem Aktivisten gefilmt worden – das dabei entstandene Material wurde nun im Prozess gegen die Angeklagten verwendet. Es zeigt die Tat in Echtzeit und belastet sie schwer. Die Liste der Vergehen: Verschwörung, Zerstörung von Staatseigentum, Hausfriedensbruch.
Am Ende muss Hennessy für zehn Monate ins Gefängnis, wird während einer dreijährigen Bewährungszeit überwacht und muss 33 000 Dollar Strafe zahlen. Auf das Urteil reagiert sie gefasst, ja fast zufrieden. Als hätte sie eben in diesem Augenblick, vor dem Notebook in ihrem kleinen Zimmer sitzend, einen Kampf gewonnen.
Vielleicht rührt ihre Aufgeräumtheit aber auch daher, weil Martha Hennessy nicht nur eine Frau ist, deren religiöser Glaube sie zu Gesetzesbrüchen verleitet, und nicht nur eine radikale Kriegsgegnerin, die den Entrechteten, Arbeitslosen und Obdachlosen eine Stimme geben will. Vielmehr ist sie auch die Enkelin von Dorothy Day, einer der prägendsten Katholikinnen in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Die Pazifistin und Anarchistin hatte 1933 die Catholic-Worker-Bewegung mitgegründet, die sich um die von der Wirtschaftskrise betroffenen Arbeiter und Bedürftigen kümmert. Hennessys Grossmutter soll nun selig gesprochen werden, seit Jahren laufen im Vatikan entsprechende Bemühungen. Vor dem US-Kongress lobte Papst Franziskus Days Aktivismus und ihren leidenschaftlichen Kampf um Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Dabei nannte er auch ihre Quellen der Inspiration: das Evangelium, den Glauben und das Beispiel der Heiligen.
Wie beliebt und wichtig Dorothy Day für die katholische Kirche und auch die anarchistische Bewegung war, zeigte sich nach ihrem Tod 1980. Als Day im Alter von 83 Jahren an einem Herzinfarkt starb, fanden über tausend Menschen zusammen: obdachlose Gäste ebenso wie christliche Ordensleute und wichtige Vertreter sozialer Bewegungen. Kaum jemand, der nicht mit Day auf der Strasse war, sich mit ihr solidarisierte und den Protest mittrug. Zu sehen, wie viele Menschen ihre Grossmutter mit ihrer Art und ihrem Wirken berührt hatte, sei sehr bewegend gewesen, erinnert sich Martha Hennessy. Als sie das erzählt, hat sie Tränen in den Augen.
Sehnsucht nach Frieden
Anders ist ihr Gesicht, wenn sie über ihr Eindringen in die «Kings Bay Naval Submarine Base», immerhin die grösste U-Boot-Basis der Welt, spricht. Dann ist da eine Entschiedenheit im Ausdruck, gepaart mit Sachlichkeit in der Sprache. Das klingt so:
«Wir sind durch den Zaun eingestiegen, hängten Protestbanner auf und bespritzten dann den Eingang mit eigenem Blut, das wir uns zuvor abgenommen hatten.» Auf den Bannern stand geschrieben: «Wir kommen nach Kings Bay, um dem Aufruf des Propheten Jesaja (2,4) zu folgen, ‹Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden› … Wir streben nach einer Welt, die frei von Atomwaffen, Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung ist. Wir appellieren an unsere Kirche, ihre Verstrickung in Gewalt und Krieg zu beenden. Wir können nicht gleichzeitig auf Frieden hoffen und für ihn beten, während wir Waffen segnen und Kriege dulden.» Erst Stunden später wurde Hennessy zusammen mit ihren Mitstreiterinnen verhaftet. Es war der 50. Todestag von Martin Luther King.
Der Kampf von Hennessys Grossmutter war nicht milder. Erstmals wurde Dorothy Day 1917 bei einer Demonstration für Frauenrechte vor dem Weissen Haus in Haft genommen. Sie kam für fünfzehn Tage ins Gefängnis, zehn davon verbrachte sie im Hungerstreik. In den 1950erJahren Jahren weigerte sie sich dann, während Luftangriffsübungen in den Schutzbunker zu gehen. Stattdessen setzte sie sich, als Zeichen gegen die Aufrüstung, demonstrativ auf eine Parkbank. Sie kam in Haft, ebenso die vielen Menschen, die sich ihrer Aktion angeschlossen und es ihr gleichgetan hatten.
Nach Jahren des Protests waren die Gefängnisse so überfüllt, dass die Kampfübungen am Himmel von der Regierung eingestellt werden. In dieser Zeit ging Day auch immer wieder mit der Catholic-Worker-Bewegung auf die Strasse, um gegen den Vietnamkrieg und den Kalten Krieg zu protestieren. Das letzte Mal wurde sie im Alter von 75 Jahren verhaftet, der Grund war die Teilnahme an einem verbotenen Streik.
«Ich war nachhaltig beeindruckt von Jeanne d'Arc, dieser Frau in Männerkleidung. Sie wurde zu einem Vorbild.» Martha Hennessy
Einen Tag nach der Urteilsverkündung im November 2019 steht Hennessy in der prunkvollen Most Holy Redeemer-Nativity Church im Südosten von Manhattan. Neben dem Altar hängen drei Bilder ihrer Grossmutter. Das grösste Bild in der Mitte zeigt Dorothy Day mit Heiligenschein. Martha legt einen Strauss lila Blumen darunter. Im Flüsterton sagt sie: «Granny kam immer hierher zum Beten, um dem Chaos einen Moment zu entgehen. Sie liebte diese Kirche.» Hennessy erinnert sich, wie sie als Kind auf dem Schoss ihrer Grossmutter sass und ihren Geschichten lauschte. «Sie war eine grosse Geschichtenerzählerin!» Als Kind hätten sie sich regelmässig getroffen, später waren es dann Briefe, in denen sie sich austauschten.
Hennessy ist das siebte von neun Enkelkindern, sie wuchs in armen Verhältnissen auf. Ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter musste sich meist allein um die Kinder kümmern. Als Martha zwölf war, schenkte ihr die Grossmutter ein Buch. Es erzählte von einer Frau namens Jeanne d’Arc. Die Lektüre war für das weitere Leben von Martha prägend: «Ich war nachhaltig beeindruckt von dieser Frau in Männerkleidung. Sie wurde zu einem Vorbild.»
Später, nach dem Verlassen der Kirche, erzählt Hennessy davon, wie sie überhaupt zu einer gläubigen Aktivistin wurde. Als junge Frau reiste sie, getrieben von der Sehnsucht nach Frieden, in den Irak und Iran, nach Afghanistan, Palästina, Russland und Südkorea. Vor Ort wollte sie die Auswirkungen der Kriege ihres Landes besser verstehen und Opfer der US-Aussenpolitik kennenlernen. Ihren Tee trinkt sie seitdem aus einer Tasse, auf die ein Foto einer Familie aus Afghanistan gedruckt ist, ein Gastgeschenk. 1979 wird Hennessy erstmals an einer Demonstration verhaftet und kommt für drei Monate ins Gefängnis. Ihr Sohn ist da gerade zwei Jahre alt. Dann kommt der 8. November 2004 und damit der US-Angriff auf das irakische Falludscha.

Dorothy Day und Martha Hennessy auf einem undatierten Familienfoto.
Der Tag wird zum Wendepunkt in Hennessys Leben. Sie steht kurz vor dem 50. Geburtstag. «Ich befand mich in grosser Verzweiflung und Schmerz, da kurz vor dem Angriff auf Falludscha mein Sohn ins Militär eingetreten war.» Hatten Glaube und Religion für Hennessy jahrzehntelang keine Bedeutung, so ging sie nun erstmals im Erwachsenenalter in eine Kirche beten – immer im Wissen, dass sie mit einem passiven Glauben, also dem reinen Gebet, eigentlich nichts anfangen kann.
Und dann war da auch noch eine alte, bis heute anhaltende Wut auf die Kirche wegen ihrer Frauenfeindlichkeit, Korruption und gewaltvollen Komplizenschaft mit den Mächtigen. Als sie in den kommenden Jahren an Protesten gegen die Folter in Guantanamo, den Krieg im Jemen und den Einsatz von Drohnen teilnahm, hatte sie bereits zum Glauben gefunden. Protest und Glaube reichen sich nun die Hand. Sie ist überzeugt, dass der christliche Glaube nicht mit kriegführender Politik vereinbar sei und ein gläubiger Mensch Widerstand leisten muss und gegen das Unrecht aufzustehen hat.
Martha Hennessys Glaubensbiografie ähnelt jener ihrer Grossmutter: Als bekennende Atheistin wandte sich Dorothy Day in ihren jungen Jahren dem Kommunismus und Sozialismus zu und interviewte als Journalistin auch einmal den russischen Revolutionär Leo Trotzki. Durch eine Bekannte kam sie in Kontakt mit der katholischen Kirche, die sie mit ihren zahlreichen Migrantinnen und Migranten als eine «Kirche der Armen» wahrnahm. 1928 wurde sie Katholikin, was sie in einen Zwischenraum führte: Weder ihre kommunistischen Freunde konnten etwas mit ihrem Glauben anfangen, noch unterstützte die katholische Kirche ihre Ideen für eine möglichst herrschaftsfreie Gesellschaft.
Aktivismus ohne Nachfolge
Martha Hennessy führt bis heute das Leben einer Aktivistin. Sie ist oft im Catholic-Worker-Haus anzutreffen, das unscheinbar zwischen Wohnhäusern und hippen Cafés in Lower Manhattan liegt und in dem sie auch den Prozess am Notebook mitverfolgt hat. Hier werden obdachlos gewordene Frauen, Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, psychisch Labile und Transpersonen aufgenommen. Ein politischer Ort, mitgegründet von ihrer Grossmutter, an dem gewaltfreie Aktionen und Demonstrationen vorbereitet werden, aber auch Rosenkranzgebete und Kontemplation Platz haben.
Es sieht danach aus, dass das aktivistische Erbe der Frauen Day und Hennessy in den nachfolgenden Generationen keine Nachfolgerinnen findet. Es ist ihr anzusehen, wie sehr sie das trifft.
Es gibt aber auch eine andere Welt im Leben von Martha Hennessy. Eine, in der sie seit vierzig Jahren verheiratet ist, Kinder und Enkelkinder hat, auf dem Land in Vermont lebt und in einem grossen, von Wäldern umringten Garten Gemüse anbaut, Schafe und Hühner hält. Seit ihrer Pensionierung kümmert sie sich auch um ihre acht Enkelkinder. Diese wissen nicht, dass ihre Grossmutter bald wieder ins Gefängnis muss. Hennessy sagt, dass sie es nicht verstehen würden. «So wie auch meine Kinder kein Verständnis haben für das, was ich tue.»
Wenn sie über ihre Familie spricht, dann wird klar, wie allein sie mit ihrem politischen Kampf mittlerweile ist. Es sieht danach aus, dass das aktivistische Erbe der Frauen Day und Hennessy in den nachfolgenden Generationen keine Nachfolgerinnen findet. Es ist ihr anzusehen, wie sehr sie das trifft. Kein Bezug zur Religion, kein politisches Engagement – das sei die Realität, sagt sie. «Ein Leben im Spagat, wie ich es führe, dazu ist niemand bereit.»
Dezember 2020. Eine Woche vor Weihnachten muss Martha Hennessy ihre Haftstrafe antreten. Von ihrem Mann wird sie von Vermont in das vier Stunden entfernte Gefängnis in Danbury gefahren. Ein Foto, entstanden nach der Ankunft auf dem Parkplatz, zeigt einen Vorhang dicker Schneeflocken, dahinter ein paar Unterstützerinnen und Unterstützer vor einem Stacheldrahtzaun. Auch nahe Freundinnen sind gekommen, um sich von Martha zu verabschieden. Auf den mitgebrachten Plakaten ist «We love you Martha» und «Fear not» zu lesen. Hennessy lächelt verschmitzt. Dann schreitet sie durchs Tor. In den kommenden Wochen und Monaten lässt sie Freunde und Familie mit Briefen aus dem Gefängnis an ihren Gedanken teilhaben. Oft sind die Zeilen voller Betrübnis.
«Die ersten neun Tage verbrachten wir eingesperrt in einer 10×10-Meter-Zelle. Das Erwachen am ersten Morgen war am schwierigsten, die Morgensonne glitzerte auf dem Stacheldraht ausserhalb des kleinen Fensters. Völlige Trostlosigkeit überspült das Herz, wenn man an die kommenden Tage, Wochen, Monate denkt.»
– Danbury, 31. Dezember 2020
«Als ich in meiner Zelle liege, wache ich mitten in der Nacht auf. […] Panik und Klaustrophobie steigen in meiner Brust auf und drohen meinen Körper und meinen Geist zu überwältigen. Ich greife auf ein Ave-Maria zurück, um meine Konzentration und mein Gleichgewicht wiederzuerlangen.»
– Danbury, 27. Januar 2021
Ein halbes Jahr später, es ist Sommer, darf Hennessy in den Hausarrest wechseln. In ihrem letzten Brief aus dem Gefängnis wirkt sie noch nachdenklicher als sonst. Sie schreibt: «Der letzte Monat war ein grosser geistlicher Kampf. Das Leben hier ist voller kleinlicher Einschränkungen, Isolation, Unterdrückung von Gefühlen und allgemeiner Depression. Kümmern wir uns so um die Schwächsten unter uns?» Sie schildert die tieftraurigen Gesichter der Mitinsassinnen. Dann zitiert sie – wie so oft – ihre Grossmutter: «Es ist eine furchterregende Angelegenheit, dieser allumfassende Staat … Wie schrecklich ist es, wenn der Staat sich der Armen ermächtigt?»
Hennessy könnte gut auch eine Romanheldin aus einer längst vergangenen Zeit sein. Vielleicht auch, weil man nur noch selten hört, dass ein Mensch sein Engagement für eine friedvolle, eine gerechte Welt derart mit der eigenen religiösen Überzeugung begründet. Bei einer Preisverleihung in New York hatte ihre Grossmutter Dorothy Day einmal gesagt: «Wenn wir den Ernst der Lage erkennen – den Krieg, den Rassismus, die Armut in unserer Welt –, dann wird uns klar, dass sich die Dinge nicht einfach durch Demonstrationen ändern werden. Es geht darum, das Leben zu riskieren. Es geht darum, unser Leben auf eine drastisch andere Art zu leben.» Sein Leben dem Glauben an eine bessere Welt zu verschreiben: Dorothy Days Enkelin hat diesen Auftrag angenommen.
Cristina Yurena Zerr ist Autorin und Filmemacherin. In ihrem letzten Dokumentarfilm, «Of Saints and Rebels», ging sie der Frage nach, wer heute die Jünger von Jesus wären. Martha Hennessy war darin eine der Protagonistinnen.
Der Illustrator Mauro Mazzara lebt in Mailand.