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Freitag, 11. Juni 2021

Herr Schwerhoff, was ist Ihnen heilig?

Die Menschenwürde.

Wie würden Sie reagieren, wenn ich mich darüber lustig mache?

Ich bin da nicht sehr empfindlich. Ich weiss, dass Spott auch zur Selbsterkenntnis führen kann.

Als Historiker wenden Sie Ihren Blick auf jene, die empfindlicher sind. Was ist Blasphemie?

Die Herabwürdigung dessen, was anderen heilig ist.

Und was ist das Heilige?

Das liegt im Auge des Betrachters und wird meist von Religionen definiert, auch heute. Im christlichen Kontext ist das sicherlich Gott und die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiliger Geist – doch schon bei der Gottesmutter Maria fängt der Streit unter den Konfessionen an. Aber auch die Nation, das Volk oder der Fussballverein können von ihren Anhängern bekanntlich zum Heiligen erhoben werden.

«Eine gewisse Grobheit gehört schon dazu. Wenn es zu feinsinnig wird, fühlt sich keiner mehr getroffen.»

Gibt es Religionskritik, die keine Blasphemie ist?

Ja, spätestens die Rechtsprechung im England des 17. Jahrhunderts unterscheidet zwischen Form und Inhalt. Wenn einer damals nüchterne Argumente gegen die Jungfräulichkeit Mariens äusserte, war das etwas anderes, als wenn er sich darüber lustig machte, dass sich Joseph erst schön die Hörner hat aufsetzen lassen und dann auch noch das Märchen vom Heiligen Geist geglaubt hat.

Was ist mit sachlichen, aber radikalen Aussagen wie «Gott gibt es nicht»?

Das ist gar nicht so einfach. Die Forschung ging lange davon aus, dass Unglauben als Blasphemie aufgefasst wurde. Aktuelle Untersuchungen zeigen aber, dass im Mittelalter zwar viel über Unglauben geredet, dieser aber weit weniger kriminalisiert wurde, als wir gemeinhin denken.

Warum schmähte man damals überhaupt das Heilige?

Tja, was treibt die Leute an? Bis in die allerjüngste Vergangenheit gab es eigentlich niemanden, der sich je selbst als Gotteslästerer definiert hätte. Blasphemie war immer eine Fremdzuschreibung. Der Betroffene hätte das stets abgestritten.

Aber was sind die allgemeinen Gründe?

Zum einen die Enttäuschung über einen Heiligen. Die reicht bis weit in die Kirche hinein, etwa mit der Entthronung von Heiligenbildern durch Ordenskleriker. Um 1600 gab es eine Verordnung, die untersagte, die Heiligenbilder nach der Prozession in den Teich zu schmeissen, wenn sie es nicht geschafft hatten, für gutes Wetter zu sorgen. Ein zweites Motiv ist die Markierung der Stärke, das Lästern als verbale Kraftmeierei im Alltagsstreit: «Du kannst mir gar nichts, bei Gottes fünf Wunden!» Die Blasphemie soll Unerschrockenheit demonstrieren. Und drittens die polemisch zugespitzte, religiöse Kritik der anderen als falscher Glaube. Wie die Katharer mit ihrer Spottrechnung: Wenn bei der Kommunion der wahrhafte Leib Christi geteilt wird und wir zusammenzählen, was alle Hostien wiegen, die in Gottesdiensten je ausgeteilt wurden, dann müsste Jesus so gross wie die Pyrenäen gewesen sein.

Ihr Buch ist voller Belege für vulgäre Schmähungen durch alle Zeitalter. Der vor Gericht verhandelte Ausspruch «Ich schiss unserem Herrn in die Wunden» eines St. Galler Wirtshausbesuchers im Jahre 1513 ist da noch einer der züchtigeren. Warum sind smarte Schmähungen so selten gegenüber Ausflügen ins Fäkalreich?

Eine gewisse Grobheit gehört schon dazu. Wenn es zu feinsinnig wird, fühlt sich keiner mehr getroffen.

Welche blasphemischen Epochen unterscheiden Sie?

Das Fundament liegt in der Antike, in der Geburt des Mono­theismus, also des Glaubens an einen einzigen Gott, und in der Grundlegung der Mosaischen Entscheidung, der Grenzziehung zwischen dem wahren und dem falschen Glauben. Damals ist der Lästerer immer der andere, das ist das Hauptmotiv. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit werden dann auch die eigenen Leute zu Lästerern, zumindest im Christentum. Das ist das Zeitalter der Zungensünder. Dann folgte eine Zwischenzeit, in der die Blasphemie zum Staats- und Gesellschaftsschutz wurde: von der Obrigkeit noch immer verfolgt, aber nicht mehr so streng wie zuvor. Und im globalen Zeitalter schliesslich steht der interkulturelle Konflikt im Vordergrund. Hier geht es darum, die einzelnen Identitäten gegen Schmähungen zu schützen. Das erleben wir heute.

Diese Unterteilung geschieht aus einer weitgehend eurozentristischen Sicht.

Eine globale Geschichte der Blasphemie niederzuschreiben ist aktuell nicht möglich. Zumindest nicht ohne Kolleginnen und Kollegen mit tiefer Kenntnis der entsprechenden Kulturkreise.

Warum läutet Justinian für Sie keine eigene Epoche ein? Schliesslich hat der römische Kaiser die Blasphemie erstmals in der Geschichte zum Gegenstand der Rechtsprechung gemacht.

Ohne Zweifel ist der machtpolitisch überaus erfolgreiche Justinian in der Spätantike eine herausragende Gestalt. Sein Wirken erscheint mir aber eher als eine Art Preview aufs Mittelalter. Jusitinian ist Vorläufer einer Zeit, die Jahrhunderte in der Ferne liegt. So sehe ich auch seine Novelle 77 zur Blasphemie. Sie ist sehr bedeutend, letztlich aber in seiner Zeit ein Unikat. Nach Justinian folgen gut sechs Jahrhunderte, in denen es zu keiner ernstzunehmenden Blasphemiegesetzgebung mehr kommt.

War das Motiv bei Justinian der Machterhalt oder das Beweisen der eigenen Rechtschaffenheit vor Gott?

Das schliesst einander ja nicht aus. Die Novelle folgte auf eine grosse Naturkatastrophe, die als Strafe Gottes wahrgenommen wurde. Mit seiner Reaktion konnte Justinian sowohl seine Macht festigen als auch als gottesfürchtiger Monarch auftreten. Wenn wir heute nach dem Motiv suchen, bewerten wir politische und finanzielle Argumente oft höher, das religiöse gilt schnell als vorgeschoben. Aber das ist Blödsinn. Man kann auch zu Werten einen rationalen Zugang haben. Dazu reicht ein Blick auf die Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Wertrationalität bei Max Weber.

Die Schmähung des Heiligen ist zwar so alt wie die Sprache selbst, nimmt aber erst mit dem Monotheismus so richtig Fahrt auf – warum?

Weil der Gott des Alten Testaments in vorher ungekannter Schärfe die Loyalität seiner Anhänger einfordert, zur Herabwürdigung anderer Götter verpflichtet und die Schmähungen der eigenen Person unbedingt verbietet. Zuvor glaubten die Menschen teils an viele Götter zugleich. Wenn der Nachbar andere Götter hatte, war das nicht unbedingt ein Problem. Und nach einer Eroberung brachte man einfach die eigenen Heiligen mit und integrierte die besiegten ins religiöse Portfolio. Der Monotheismus des Judentums machte damit Schluss.

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Im Gegensatz zum Judentum und zu dem Islam sind aus dem Christentum besonders viele Blasphemien überliefert. Ist die Gotteslästerung eine speziell christliche Disziplin?

Meine These ist: Durch die Menschwerdung Gottes in Jesus rückt der christliche Gott nahe an seine Anhänger heran. Er wird durch seinen Sohn in einer Weise nahbar, wie das weder der jüdische noch der muslimische Gott sind. Es gibt Passionsgebete, in denen das «heilige Haupt» Jesu oder seine «zarte Hand» verehrt wird. Die Kehrseite dieser Passionsgläubigkeit ist die Verbreitung der Gliederschwüre, die Bezug nehmen auf die Körperteile Gottes. Das geht von «Gots Grind», also Gottes Ausschlag, bis «Gots Zers», Gottes Schwanz. Beides hatte im Spätmittelalter zeitgleich Konjunktur.

Aus jüdischer Perspektive lautet die Höllenstrafe im Talmud für die Anmassungen Jesu das Sitzen in kochendem Kot auf alle Ewigkeit. Warum wurde damals – auf allen Seiten – derart drastisch argumentiert?

Das ist dem eigenen Wahrheitsanspruch geschuldet und lässt sich in allen Religionen finden. Geht es nach dem christlichen Dichter Dante, dann sitzt der Prophet Mohammed auch im neunten Kreis der Hölle, mit einem von der Leiste bis zum Kinn aufgerissen Körper und heraushängenden Eingeweiden. Von den judenfeindlichen Schmähungen aus dem christlichen Lager ganz zu schweigen. Diese Drastik von Erlösung und Verdammung entspricht der binären Mosaischen Unterscheidung. Wenn etwas absolut falsch ist, wird es auch in absoluten Worten verurteilt.

Geht vom Islam weniger Blasphemie aus?

Das scheint so zu sein. Wir sollten aber vorsichtig sein, wenn von «dem Islam» oder «dem Christentum» die Rede ist. Blasphemiert wird immer vom Einzelnen. Der Islam war über die Jahrhunderte weit heterogener als heute oft angenommen. Es sind die Fundamentalisten der Gegenwart, die behaupten, der Islam sei immer gleich streng gewesen. Gerade das Bilderverbot wurde zeitweise viel toleranter gehandhabt als heute.

Warum richtet sich im Islam der Spott vor allem gegen den Propheten Mohammed und nicht gegen Gott?

Vielleicht weil Mohammed als Mensch nahbarer ist. Auch sind Jesus und Mohammed unverkennbare Stellvertreter ihrer Konfession. Um als Jude oder Christ Allah zu schmähen, muss man sich mit Bedacht ausdrücken, um nicht auch den eigenen Gott zu meinen, beim Propheten Mohammed aber ist sofort klar, für wen der stellvertretend steht.

Wann reagiert ein Mensch besonders empfindlich gegenüber Blasphemie?

Wohl am ehesten da, wo das Selbstvertrauen nicht auf der Höhe ist, wo andere das eigene Heilige nicht anerkennen. Ganz grundsätzlich und über alle Epochen hinweg kann ich aber keine Typologie ausmachen. Wenn ich zu Ihnen «Du Arschloch» sage, kann das eine justiziable Beleidigung sein oder einfach auch nur die Begrüssung eines alten Freundes in rüder Vertrautheit. Die Blasphemie wirkt immer in einem konkreten Kräftefeld aus Zeit, Gesellschaft und Kultur.

Gerade in frühen Quellen zeigt sich die Blasphemie als Alltäglichkeit. Wie verträgt sich das mit dem tief verwurzelten Glauben der Menschen jener Zeit?

Die Vertrautheit etwa des spätmittelalterlichen Menschen mit seinem Gott war so gross, dass er gelegentlich die Grenzen des Taktgefühls zum Heiligen überschritt. Diese Nähe konnte leicht in Enttäuschung, Frustration und Anklage umschlagen. Das lag viel näher beieinander, als wir uns das heute, mit der Gebetsbuchfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts vor Augen, vorstellen.

Welche Spuren davon finden wir heute noch in unserer Sprache?

Sapperment, wie man in Bayern sagt, oder Sapperlott, das sind alte Sakramentschwüre aus der Reformationszeit. Potz, Kotz, Gotz sind Verballhornungen des Namen Gottes, das finden wir noch in Potzblitz oder Potztausend. Bereits seit dem 19. Jahrhundert hat das aber keine blasphemische Bedeutung mehr.

Dazwischen liegt die Aufklärung mit der Idee, dass ein allmächtiger Gott keinen braucht, der ihn vor Lästereien beschützt. Warum führte selbst dieser radikale Sinneswandel – mit Ausnahme Frankreichs – nicht zur Aufhebung der Blasphemieparagrafen?

Weil man die Notwendigkeit sah, religiöse Gruppen unter Schutz zu stellen. Religion galt als Stütze des Staates und durfte nicht unterminiert werden. Oder weniger machiavellistisch formuliert: Toleranz musste juristisch abgesichert werden, damit sich die einzelnen Gruppen nicht gegenseitig an die Gurgel gingen.

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Abschaffung der Blasphemiegesetze in Frankreich und den islamistischen Anschlägen der Gegenwart?

Das glaube ich nicht. Es wäre auch falsch zu sagen, dass im Frankreich des 19. Jahrhunderts Religion für vollkommen vogelfrei erklärt worden wäre. Damals gab es immer Diskussionen über Moralvergehen und auch Gesetze, die man als Substitute der Blasphemieparagrafen auslegen konnte. Was Frankreich auszeichnet, ist die Schärfe der Auseinandersetzung. Während sich in der Schweiz und in Deutschland die konfessionellen Unterschiede fast bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst haben und heute alles so angenehm ökumenisch ist, hat sich der Konflikt in Frankreich zwischen den Kirchen und der nicht-religiösen urbanen Elite eher noch zugespitzt. Die französische Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» mit ihrem rücksichtslosen Kurs steht ganz in der Erbschaftslinie dieser radikalen Auseinandersetzung.

«Die Kritiker des religiösen Establishments sind hier­zulande keine Underdogs mehr, sie sind der Main­stream. Das Machtverhältnis hat sich umgekehrt.»

Der Kampf ist derselbe, nur die Gegner haben gewechselt?

Genau. Früher ging es gegen die übermächtigen katholischen Bischöfe, und jetzt haut man mit der gleichen Härte auf die muslimischen Einwanderer in den Banlieues ein. Dabei verlieren manche aus dem Blick, dass sich das Machtverhältnis seither umgekehrt hat. Die Kritiker des religiösen Establishments sind hierzulande keine Underdogs mehr, sie sind der Mainstream.

Den bislang letzten Epochenwandel sehen Sie in der Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie durch den iranischen Ajatollah Ruhollah Chomeini im Jahr 1989. Warum ist der Tötungsaufruf des ehemaligen politischen und religiösen Führers so bedeutend?

Weil er das globale Zeitalters der Blasphemie einläutet. Der Ost-West-Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus wurde damals abrupt abgelöst von einer als Kulturkonflikt wahrgenommenen Auseinandersetzung zwischen Okzident und Orient. Ein Symptom für die Auflösung der alten Klassengesellschaft in die neue Identitätsgesellschaft. Seither geht es im politischen Diskurs vorwiegend um Fragen der kulturellen Identitäten. Die Blasphemie hilft dabei, diese Identitäten zu schärfen, sie sichtbar zu machen. Sie wurde zum überaus effektiven Werkzeug zur Grenzziehung zwischen «uns» und «denen». Wer den anderen beleidigt, der definiert sich dabei auch selbst. So wertet die Blasphemie nebenbei den eigenen Glauben auf und stärkt ihn.

Leben wir in einer besonders sensiblen Zeit?

Nein. Von einem Revival der Befindlichkeit kann man nicht sprechen. Das Überhöhen von Nicht-Religiösem ist historisch nichts Neues. Wir erleben aber gerade eine einzigartige Spannung zwischen neuen Phänomenen wie Hassreden im Internet und einer erhöhten Sensibilität ihnen gegenüber. Diese Gleichzeitigkeit beider Bewegungen halte ich für einmalig. Das eine ist nicht ursächlich fürs andere, aber es steht im Verhältnis zueinander.

Die Blasphemie als Brandbeschleuniger eines gefühlten Kulturkampfes?

Das könnte man so sagen.

Ist die Abgrenzung nach aussen ein Grund dafür, dass heute innerhalb der christlichen Konfessionen kaum noch gelästert wird?

Ich fürchte, dass die Religion im Alltag einer Schweizerin oder eines Deutschen oft so irrelevant geworden ist, dass sie gesellschaftlich einfach nicht mehr lästerungswürdig ist. Das hat sich totgelaufen. Bei uns muss niemand mehr Christ sein. Und ist er es doch, wird er sich kaum noch zu grundlegender Kritik herausgefordert fühlen. Die Spannung ist weg.

Mit ihr ist auch die unbewusste Alltagsblasphemie verschwunden.

Hierzulande ist der Lapsus Linguae, der versehentliche sprachliche Fehltritt, tatsächlich vom Aussterben bedroht. Aber schon in den Mittelmeerländern sieht das anders aus. Da besteht noch eine grössere Nähe zur vormodernen Schmähung. Der Fussball in Zeiten der Pandemie hat uns da ein nettes Beispiel beschert. Ohne lärmende Zuschauer sind im Fernsehen plötzlich die Flüche der Spieler zu verstehen – und die haben es bisweilen in sich. Als im vergangenen Jahr ein Mittelfeldspieler von AS Roma «Porco Dio» schimpfte, eine Wortkombination von Schwein und Gott, hatte das eine Disziplinarstrafe zur Folge. Da zeigt sich wieder, dass es die eine, monolithische christliche Gesellschaft des Westens schlicht nicht gibt.

In den von Ihnen zitierten Quellen schmähen fast immer Männer. Gibt es so wenige gotteslästerliche Frauen?

Im alltäglichen Konflikttheater der Vormoderne war die Blasphemie eine klare Männerdomäne. Die wenigen beteiligten Frauen galten als Mannweiber. Später gab es vereinzelt Insassinnen des Wiener Zuchthauses, die in ihrer Verzweiflung absichtlich Hostien frevelten, um sich auf dem Schafott zu Tode bringen zu lassen. So mussten sie nicht selbst die Todsünde des Selbstmords begehen. Bewegungen wie die feministische Punkband Pussy Riot oder die Aktivistinnen von Femen mit ihren Angriffen auf die patriarchale Stellung der Frau in der Kirche sind ein sehr modernes Phänomen.

Gerd Schwerhoff ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Dresden. Nach einer katholischen Jugend am Niederrhein und einer Promotion zur Kriminalitätsgeschichte widmet er sich seit seiner Habilitation 1997 dem Erforschen der Gotteslästerung. Nun hat er im S.-Fischer-Verlag die erste umfassende Kulturgeschichte der Blasphemie veröffentlicht.

Unterschätzen wir die Blasphemie als Teufelskreis von Missverständnis und Gegenwehr?

Das meine ich. Wir sollten versuchen, die Dialektik der Blasphemie zwischen Fremdanklage und eigener Identitätssicherung zu verstehen.

Was heisst das konkret?

Die Macht, jemanden zu verspotten, ist gross. Aber die Macht, jemanden dafür anzuklagen, ist vielleicht grösser. Wir reden zurzeit häufig über die Sache selbst, über Identitäten, über Rassismen, über Menschenwürde. Wenn wir uns aber anschauen würden, wie dieser Mechanismus von Beleidigung und Beleidigtsein funktioniert, könnten wir eine Distanz zur Sache gewinnen und Verletzungen auf allen Seiten möglicherweise besser verstehen.

Wie halten Sie es persönlich mit der Zungensünde?

Sagen wir mal so: Ich habe viel für Spott übrig. Verbote nützten nichts.

Im Zweifel also für die Meinungsfreiheit?

So einfach ist es nicht. Ich bin auch ein Freund der Selbstreflexion. Im Zweifelsfall bin ich eher für den freiwilligen Verzicht auf Spott. Im Sinne des Mitgefühls.

Gerd Schwerhoff: «Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie». S. Fischer, Frankfurt am Main 2021; 528 Seiten; 44.90 Franken.