Die Frauen in meiner Familie sind keine besonders ehrgeizigen Hausfrauen. Sie haben weder Sinn für gebügelte Wäsche noch für selbsterfundene Rezepte. Was nicht bedeutet, dass sie nicht fürsorglich oder liebevoll wären. Aber weder meine Mutter noch meine Tanten oder Grossmütter repräsentieren das, was man sich gemeinhin unter einer «guten Hausfrau» vorstellt.
Heute weiss ich, dass viele, wenn nicht gar die meisten Frauen diesem Bild nicht entsprechen. Es ist ein grausames und realitätsfernes Ideal, das Frauen untereinander zu Konkurrentinnen, zu gegenseitigen Kontrolleurinnen macht. Im Dorf meiner Kindheit zum Beispiel erinnerte uns die Nachbarin regelmässig daran, dass unser Vorplatz nicht gut genug gefegt sei. «Jeden Tag die Blätter entfernen!» liess sie mich wissen, ich sollte es meiner Mutter ausrichten. Ich tat es nicht. Ich war eisern solidarisch mit unserem Herbstblätter-Chaos – und mit meiner Mutter. Jahre später, als ich selber Kinder bekam, spürte auch ich den Druck, eine perfekte Hausfrau und Mutter zu sein. Ich habe ihn – wie die meisten Frauen – internalisiert, spüre ihn selbst dann, wenn objektiv gesehen niemand etwas Bestimmtes von mir erwartet.
Während meines Studiums der Soziologie hörte ich zum ersten Mal von der sogenannten unbezahlten Arbeit, vom, wie es im Jargon heisst, «informellen Sektor». Ich hörte davon, dass Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Kinder zu versorgen oder kranke und alte Menschen zu pflegen nicht nur privat eine Rolle spielen, sondern auch eine gesellschaftliche Relevanz haben. So hatte ich mir das noch nie überlegt: Ohne diese unsichtbaren Gratis-Tätigkeiten, sagte der Dozent, könnte unsere Marktwirtschaft gar nicht funktionieren. Eigentlich würde überhaupt nichts funktionieren, wenn niemand sich um die Bedürfnisse und Abhängigkeiten der Menschen kümmern würde.
Es dauerte weitere Jahre, bis ich verstand, dass das Thema auch mit Geschlechterverhältnissen zu tun hat. Und dass, zum Beispiel, die gesellschaftlich tradierte Minderwertigkeit von Weiblichkeit mit einer bestimmten Arbeitsteilung einhergeht: Frauen übernehmen die wenig prestigeträchtige Sorgearbeit, während Männer für Politik und Business zuständig sind.
Diese Erkenntnis war dem schlichten Zufall geschuldet, dass ich mich neben Soziologie auch für Gender Studies eintrug. Denn obwohl es bereits in den siebziger Jahren eine breite Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Hausarbeit, Lohnarbeit und Kapitalismus seitens Frauenbewegung wie Forschung gab, ist das Wissen darum nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es wird weder in den grossen Disziplinen an den Universitäten gelehrt, noch hat es sich an den Schulen oder in den Medien etabliert.
Das sagt viel über die Unsichtbarmachung weiblicher Denktraditionen aus. Frauen erleben bis heute, dass ihre Analysen immer wieder von der Bildfläche verschwinden. Und so beginnen wir also von vorne. Damit, dieses Wissen wieder auszugraben, es in Umlauf zu bringen und dabei auch weiterzudenken.
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Werfen wir zunächst einen Blick in die jüngere Geschichte, und zwar in die neunziger Jahre. In jene Zeit also, in der der Mythos der erreichten Gleichstellung Hochkonjunktur hatte, in der uns Mädchen erzählt wurde: Alles ist erreicht, ihr könnt jetzt genau gleich leben wie die Männer. Eine Phase, in der Frauen – zumindest die privilegierten – tatsächlich zunehmend an Politik, Gesellschaft und Bildung teilhatten, sogar in Jobs aufstiegen. Jene Phase auch, in der Frauen, die die Emanzipation nicht für vollendet hielten, als hässliche Emanzen verschrien waren.
1991 war das Jahr, in dem das Bild von der nackten, hochschwangeren Schauspielerin Demi Moore auf der Titelseite der Vanity Fair prangte. Damit schien ein Tabu gebrochen; der schwangere Körper wurde zum schicken Lifestyle-Asset. Doch diese offensive Art, Schwangerschaft zur Schau zu stellen, bedeutete gleichzeitig auch ihre Auslöschung. Denn die prominenten Frauen, die seither regelmässig mit Babybauch inszeniert werden, erstrahlen in vollendeter Ästhetik mit der Botschaft: Diese Frau ist schwanger, aber man sieht es ihr fast nicht an. Der Körper verändert sich kaum, er bleibt leistungsfähig, straff, schlank und verführerisch. Es gibt keine Pigmentflecken, keine Risse im Gewebe, keine Wassereinlagerungen oder Krampfadern.
Eine solche Ikonografie reduziert Schwangerschaft vollständig auf den Bauch und entschärft sie dadurch. Seither steht der schwangere Körper für eine weibliche Biografie, die beglückende Mutterschaft, Attraktivität und beruflichen Erfolg zur Norm erhebt. Eine Darstellung, die weder mit Schwangerschaft noch mit dem Leben der allermeisten Frauen etwas zu tun hat.
Warum ist diese Hochglanz-Ikonografie für das Thema Sorgearbeit relevant? Weil sie sich einreiht in die kulturgeschichtliche Auslöschung des realen Körpers. Nicht nur die christliche Religion wehrte ihn ab, auch die massgebenden abendländischen Denker befassten sich lieber mit Themen wie Vernunft, Bewusstsein und freiem Willen statt mit dem Körperlichen, das sie für profan oder minderwertig hielten.
Das Leben beginnt mit dem Gegenteil von freiem Willen oder Autonomie – nämlich mit vollkommener Abhängigkeit von anderen.
Bis heute wird der Körper daher ausgeblendet, abgewertet und tabuisiert. Und mit ihm auch jene Belange, die ihn stark betreffen und uns zu Wesen machen, die Hilfe, Pflege und Unterstützung brauchen. Stattdessen wird ein Menschenbild konstituiert, das über den körperlichen Prozessen, Beschwernissen und Einschränkungen steht. Wie Demi Moore.
In Wahrheit sind wir natürlich keineswegs frei vom Körper. Besonders Schwangerschaft und Geburt verweisen auf eine fundamentale körperliche Abhängigkeit. Geborenwerden bedeutet, wie unter anderen die Theologin Ina Praetorius ausführt, dass Menschen sich nicht selbst machen, sondern durch einen anderen hindurch in die Welt kommen. Wir entscheiden zudem nicht, geboren zu werden. Eine Art anonyme Kraft wirft uns ins Leben, jenseits unseres Einflusses. Auch sind wir nach der Geburt darauf angewiesen, dass andere sich um uns kümmern und uns am Leben halten. Kurzum: das Leben beginnt mit dem Gegenteil von freiem Willen oder Autonomie – nämlich mit vollkommener Abhängigkeit von anderen.
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Die Verdrängung dieser Tatsache ging mit einer Abwertung derjenigen einher, die gebären. Im idealen griechischen Staat sollten Frauen mit Kindern und Sklaven in einem Extrabereich leben und dort die profane Reproduktionsarbeit erledigen. Im 18. Jahrhundert formulierten die Ökonomen ihre Konzepte des autonom handelnden Wirtschaftsbürgers, den Vilfredo Pareto dann an der Schwelle zum 20. Jahrhundert den «homo oeconomicus» nannte: Der Mensch sei von Natur aus ein rationales ökonomisches Wesen, das Profitinteressen folge und Nutzenmaximierung anstrebe. Im Zuge liberaler Wirtschaftstheorien rückten produktive Tätigkeiten in den Fokus des ökonomischen Denkens, während reproduktive Tätigkeiten wie Schwangerschaft, Geburt, Kinderbetreuung, Pflege von Alten und Kranken sowie Hauswirtschaft unsichtbar blieben.
Die Industrialisierung forcierte die Trennung zwischen Erwerbsarbeit und Familienleben, der Kapitalismus knüpfte an patriarchale Vorstellungen an und verstärkte sie. Etabliert wurde das Ideal der bürgerlichen Familie, mit einer klaren geschlechtlichen Arbeitsteilung. Die Familie wurde zum «trauten Heim», zum Ort der Erholung. Frauen sollten ihren Männern eine optimale Regeneration ermöglichen und die bestmögliche Entwicklung der Kinder garantieren. Die Rede war fortan von einer «angeborenen Fürsorglichkeit» der Frau. Sorgearbeit – oder wie man heute sagen würde: Care-Work – entspreche ihrer natürlichen Bestimmung, geschehe aus Liebe und sei daher auch gratis zu leisten, in vollkommener ökonomischer Abhängigkeit von einem Ernährer.
Marktwirtschaftlich gesehen lohnt es sich auch heute, den menschlichen Bedarf nach Fürsorge und Pflege in die Privatinstitution Mutter beziehungsweise Frau auszulagern. Sorgetätigkeit ist die unsichtbare Voraussetzung des Marktes, wie Praetoriuses formuliert. Ohne die Produktion immer neuer Menschen, ohne die unablässige Regeneration derjenigen, die Erwerbsarbeit leisten, ist Marktwirtschaft nicht denkbar. Ohne Versorgungswirtschaft ist Marktwirtschaft nicht denkbar.
Doch der Care-Bereich ist in eine Krise geraten – aus vielerlei Gründen. So können sich viele Frauen ein Ernährermodell heute gar nicht mehr leisten und müssen erwerbstätig sein. Auch wurden Geschlechterrollen und Arbeitsteilung in den letzten Jahrzehnten zunehmend aufgeweicht. Der gender-flexibilisierte Mensch passt zum Markt, weil damit die Einbindung in die monetäre Wertschöpfung auf alle ausgedehnt werden kann. Beruflicher Erfolg ist für Frauen heute ein entscheidender Massstab. Entsprechend bedeutet Frauenförderung oft, Frauen fit zu machen für die Männerwelt – wie zum Beispiel das «Lean In»-Programm von Facebook-CEO Sheryl Sandberg zeigt. Sandberg rät Frauen mehr «Willen zum Erfolg», sie sollen – wie Männer – «hochstapeln und sich mehr in den Vordergrund spielen».
Viele Care-Tätigkeiten decken Frauen also nicht mehr selbstverständlich ab, sie können neben Berufsstress und den eigenen Kindern nicht auch noch den alten Vater pflegen und der kranken Nachbarin Suppe vorbeibringen. Kommt hinzu, dass die Nachfrage nach Care massiv steigt, weil die Menschen immer älter werden und weil in vielen Ländern die Sozialsysteme erodieren.
Gleichzeitig aber wird Care massiv abgewertet: Weil Fürsorge nicht als Arbeit, sondern als privater Liebesdienst von Frauen definiert ist, muss sie nicht oder kaum bezahlt werden. So verdient ein Tierpfleger im Zürcher Zoo deutlich mehr als eine Kleinkinderzieherin. Dasselbe gilt für einen Autolackierer. Ausserdem lässt sich mit Care kaum Profit erzielen. Zwar werden auch Betreuungsjobs rationalisiert. Das hat jedoch Grenzen, weil Kinder viel Zeit brauchen und der alte Mann einfach nicht schneller in die Badewanne steigen kann. Eine Möglichkeit, den rasant steigenden Betreuungsbedarf rentabel zu halten, ist, die Löhne noch weiter zu senken: Betreuungs- und Pflegeberufe werden immer schlechter bezahlt und immer stressiger.
Das erscheint umso paradoxer, als die Millionen Stunden gratis geleisteter oder unterbezahlter Sorgearbeit je nach Rechnung bis zu 50 Prozent zur Bruttowertschöpfung beitragen. Frauen leisten dabei zwei Drittel dieser Arbeit, kommen in den ökonomischen Mainstream-Lehren und BIP-Statistiken jedoch nicht vor. Wer von Wirtschaft spricht, meint industrielle Produktion und Finanzkapital. Wer von Arbeit spricht, meint bezahlte Arbeit.
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Die Anforderungen an den Care-Bereich steigen, aber wir können ihnen immer weniger gerecht werden. Diejenigen, die es sich leisten können, kaufen diese Arbeit möglichst günstig ein. So gibt es heute eine Art Care-Wander-Prekariat; ungefähr 100 Millionen Hausangestellte befriedigen rund um den Globus die wachsende Nachfrage. Ihre Arbeitsbedingungen gehören zu den widrigsten, denn für sie gilt nicht das Arbeitsrecht. Um die 5,6 Millionen philippinische Frauen arbeiten meist unterbezahlt in amerikanischen Privathaushalten, 300 000 Indonesierinnen machen sich jährlich auf den Weg, um in Hongkong, Singapur oder Saudiarabien in privaten Haushalten zu arbeiten; in England arbeiten 2 Millionen Pendel-Migrantinnen im Care-Sektor. Ihr Visum läuft nach drei Monaten ab, woraufhin sie durch neue Frauen ersetzt werden.
Die Feminisierung von Care und ihre ökonomische Ausbeutbarkeit hängen bis heute eng zusammen. Hinzu kommt nun Ethnisierung: So preisen Schweizer Care-Agenturen, wie die Soziologin Sarah Schilliger aufzeigt, Pflegerinnen aus Polen mit dem Versprechen an, osteuropäische Frauen seien besonders häuslich, freundlich und hilfsbereit. Indem migrantische Frauen eine spezielle Fürsorgequalität zugeschrieben wird, erscheinen sie als perfekt geeignet für diese prestigelose und schlecht bezahlte Arbeit. Denn sie machen das ja ohnehin gern – sozusagen aus Liebe.
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Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Thema Care kein Frauenthema, kein Sonderthema ist, sondern Gesamtstrukturen betrifft. Denn im heutigen System werden nicht nur Care-Arbeit und die Menschen, die sie verrichten, marginalisiert. Die existenziellen Bedürfnisse der Menschen wie diejenigen nach Pflege oder Geborgensein werden überhaupt abgewertet. Fetischisiert wird dagegen ein autonomes – männliches – Subjekt, ein Homo oeconomicus, der nichts und niemanden braucht und aus sich selbst heraus produktiv ist.
Dieser Fetisch ist verheerend und extrem zerstörerisch. Nicht nur wegen der Ausbeutungsverhältnisse, die er hervorbringt. Sondern auch deshalb, weil das Ideal von der Autonomie unerreichbar ist.
Kaum jemand wird am Lebensende bereuen, damals die Herbstblätter nicht perfekt weggefegt zu haben. Viel eher wird man bereuen, nicht noch mehr geliebt zu haben oder geliebt worden zu sein.
Das führt nicht zuletzt dazu, wie der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit schreibt, dass Menschen zu Gewalt greifen, wenn sie das Phantasma nicht erreichen. Wenn der grösste Horror und die tiefste Niederlage darin bestehen, bedürftig und auf andere angewiesen zu sein, dann ist die effizienteste Abwehrstrategie, andere zu vernichten.
Kein Mensch überlebt ohne Fürsorge. Feministische Denkerinnen wie Judith Butler plädieren für eine neue Ethik der Verletzlichkeit. Es sei nötig, die Vulnerabilität der menschlichen Existenz zu begreifen und anzuerkennen. Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp spricht von «Freiheit in Bezogenheit» und meint damit, dass Abhängigkeit und Freiheit sich nicht widersprechen, sondern bedingen: Wir können nur frei sein, wenn für uns in vielerlei Hinsicht gesorgt ist und wir «in Bezug» zu anderen stehen. Womöglich ist es eine der drängendsten Aufgaben unserer Zeit, dass wir nicht Konkurrenz, sondern Kooperation, nicht Abgrenzung, sondern Verbundenheit und gegenseitige Abhängigkeit ins Zentrum von Politik und Ökonomie stellen.
Dafür braucht es zunächst ein breiteres Bewusstsein, dass wir erheblichen Schaden nehmen, wenn wir Care weiterhin abwerten. Auch wenn es gerade für Frauen gewisse Fallstricke birgt, darauf zu fokussieren. Die Gefahr besteht, erneut in traditionelle Rollen zu verfallen, erneut die vom Patriarchat für Frauen vorgesehenen Aufgaben zu übernehmen. Oder gar Care zu romantisieren, weil frau sich da halt schon so gut auskennt, nicht? Doch das Thema kann nicht unabhängig von einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen gedacht werden. Wir müssen uns fragen, auf welche Gratwanderung wir uns – besonders als Frauen – einlassen, wenn wir für Care einstehen. Vor allem gilt es darauf zu beharren, dass es sich nicht um ein Frauenthema, ein sogenanntes Soft-Thema handelt, sondern um ein allgemeines Thema von politischer und ökonomischer Bedeutung.

So betrifft Care zum Beispiel die Erwerbssphäre: Wenn wir anerkennen, dass Sorgearbeit notwendig ist und Zeit braucht, ist der logische Schluss daraus, dass weniger Berufsarbeit geleistet werden kann. Dies wiederum geht Hand in Hand mit einem erweiterten Arbeitsbegriff und neuen Zeitmodellen. Die Theoretikerin Frigga Haug schlägt dazu eine Vier-in-einem-Perspektive vor. Ihr zufolge gibt es, schematisch vereinfacht, vier Bereiche, die im Leben eines modernen Menschen zentral sind: Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Tätigkeiten für die eigene, persönliche Entwicklung und politische Tätigkeiten, also die demokratische Mitgestaltung der Welt.
All diese Bereiche sollen gleich grossen Stellenwert haben: Idealtypisch gerechnet nehmen sie bei acht Stunden Schlaf jeweils vier Stunden ein. Im Vergleich zum heutigen System wird die Erwerbsarbeit also um die Hälfte gekürzt. Auf diese Weise erledigt sich auch das Problem der Arbeitslosigkeit, da die gleiche Arbeit auf mehr Menschen verteilt wird. Die Angst, uns würde darüber langweilig, ist völlig unbegründet: Vom Standpunkt des gesamten Lebens her gibt es genug zu tun, auch jenseits von Erwerbsarbeit.
So würden etwa alle Menschen – ebenfalls schematisch gedacht – vier Stunden pro Tag Kinder betreuen, Kranke pflegen oder sich um Menschen mit Behinderung kümmern. Dabei geht es nicht nur ums eigene Zuhause, sondern um alles, was für Zivilgesellschaft und Natur notwendig ist. Auf diese Weise wird Sorgetätigkeit nicht mehr privatisiert, individualisiert und auf Frauen und Mütter geschoben. Vielmehr gelten diese Tätigkeiten als qualifizierte Arbeit, die erlernt und bezahlt werden muss – wie jede andere Arbeit auch.
Haug beschreibt überdies die Ungerechtigkeit, «dass die einen so und so viele Sprachen sprechen, tanzen, musizieren, dichten, malen und reisend wie Goethe sich weiter vervollkommnen, während andere froh sein müssen, wenn sie überhaupt lesen und schreiben können». Stattdessen sollten alle Menschen Raum und Zeit erhalten, um ihr Entwicklungspotenzial zu entfalten. Zuletzt nennt Haug die politische Arbeit und meint damit: Wir alle können und sollen die Gesellschaft mitgestalten. «Nicht länger sollen die einen Politik machen, während die anderen – und das ist die Mehrzahl – deren Folgen ausbaden müssen.»
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Viele, wenn nicht die meisten Menschen werden am Ende ihres Lebens einen grossen Teil ihrer sogenannt besten Jahre ins Geldverdienen investiert haben. Für die einen mag das tatsächlich erfüllend gewesen sein. Für viele aber bedeutet es, eintönigen Abläufen, sinnentleerten Vorgängen und grossem Druck ausgesetzt gewesen zu sein. Letztlich aber wird wohl kaum jemand auf dem Sterbebett bereuen, nicht noch eine halbe Million Franken mehr verdient zu haben. Oder damals die Herbstblätter nicht perfekt weggefegt zu haben.
Viel eher wird man bereuen, nicht die Momente mit dem Kind wirklich genossen, nicht noch mehr geliebt zu haben oder geliebt worden zu sein. Bereuen wird man, die Nähe zu anderen Menschen oder die Schönheit und Sonderbarkeit dieser Welt nicht wirklich ausgeschöpft zu haben. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Die Vorstellungen von einer anderen Arbeitswelt mögen also kaum hier und jetzt durchsetzbar sein. Aber sie können ein Kompass sein für die Bestimmung von Nahzielen, von dem, was ein lebenswertes Leben ist. Sie können eine Orientierung dafür sein, um aktuelle – politische wie persönliche – Entscheidungen zu treffen. Und sie können Voraussetzungen schaffen, um Utopien konkret werden zu lassen.