Liebe Nani
Seit langem habe ich dich nicht mehr so genannt. Nani und Neni, wie es im Prättigau üblich ist. Nani warst du für mich, als ich ein Kind war und dich in Furna besuchte, in dem 200-Seelen-Dorf auf 1400 Meter über Meer, damals in den 1980er Jahren. Einige Male verbrachten meine Schwester Seraina und ich Ferien bei euch. Wir schliefen im Guckfensterzimmer unter dem Dach, wo die Betten in die Dachschrägen gezimmert sind und sich am Kopfende ein Fenster in Form eines Viertelkreises öffnet, wie in einer gemütlichen Schiffskajüte, mit Sicht auf die Sterne.
Im Winter gabst du uns einen Chriesimaa ins kalte Bett, ein mit Kirschsteinen gefülltes Stoffkissen, das du zuvor im Fach des Kachelofens gewärmt hattest. Tagsüber liebten wir es, uns auf der Schaukel im Tenn, dem langgezogenen Dachboden, hoch ins Gebälk zu schwingen. Der abgestandene Geruch dort ruft jene Zeit in Sekundenschnelle zurück.
Dass du die erste Frau in Europa warst, die von der kleinen Gemeinde in diesem Furna 50 Jahre zuvor zur Pfarrerin gewählt wurde, das wusste ich damals nicht. Dass deine Wahl Schlagzeilen bis nach Deutschland machen und sogar der berühmte Karl Barth sich einschalten würde, dass du später das Amt im Jobsharing mit deinem Ehekameraden, wie du Neni nanntest, ausüben würdest, dass du meinem Vater schon im Alter von sechs Jahren das Stricken beibringen und so den Grundstein für meinen eigenen Feminismus legen würdest – von all dem hatte ich keine Ahnung.
Erst Jahre später fand ich im Haus in Furna den Schatz, den du hinterlassen hast. Möglicherweise sortiertest du just an jenen Abenden, als ich oben im Dachzimmer im Bett schlief, unten in der Stube deine Briefe, Tagebücher und Fotos. Schliesslich stand der Umzug ins Altersheim bevor. Du warfst weg, was dir nicht überlieferungswürdig schien, legtest alles andere fein säuberlich geordnet im Estrich des Furner Hauses in eine Kommode und notiertest auf einem Zettel: «Für eine evt. Theologin unter meinen Enkelinnen und Enkeln.» Als ich Jahre nach deinem Tod deinen Nachlass sichtete, nahm ich deine Notiz als Gruss an mich: Von uns dreizehn Enkelkindern studierte niemand Theologie, aber mein Interesse als Soziologin, Historikerin und Journalistin war geweckt. Als Enkelin sowieso.
Damals als Kind warst du für mich einfach meine strenge Grossmutter mit den eulenhaften Augen und dem grau melierten, zu einem Knoten gebundenen Haar. Jeden Abend befreitest du die langen Strähnen, nahmst die Bürste und zähltest hundert Striche ab. Ich sass neben dir und sah fasziniert zu. Dein Essen schmeckte uns Kindern nicht immer – doch beim Tellerleermachen kanntest du kein Pardon. Ich erinnere mich, wie meine Schwester die Griessspeise einmal nicht hinunterbrachte und ich ihr die Meringue, die es zum Dessert gab, heimlich unter dem Tisch zuschob.
Dein Vater, selber Pfarrer, sah dich schon früh als seine Nachfolgerin. Du wehrtest dich zuerst – Ein Mädchen geht doch nicht auf die Kantonsschule! –, doch er setzte sich durch.
Nach dem Mittagessen habt Neni und du euch mit Kaffee und Guatali in die Stube gesetzt und für Menschen in eurem Umfeld gebetet. Du hattest dazu ein Heft mit allen Namen von Personen, die ein Gebet nötig hatten. Danach hast du Wörterrätsel gelöst oder Patience gespielt. Neni war der weitaus Lustigere von euch beiden. Er brachte uns mit kleinen Kartentricks zum Lachen oder knotete aus einem Stofftaschentuch eine Maus, die ihm aus der Hand hüpfte.
Auch du hast als Kind deine Ferien in jenem Walser Holzhaus auf dem Furner Boden bei den Grosseltern verbracht. Sie hatten Kühe, Schweine, Hühner und einen Gemüsegarten. Als Pfarrerskind in Igis bei Landquart fühltest du dich oft anders als die andern – in Furna gingst du in der Bande der Bauernkinder auf. Furna war dein Sehnsuchtsort, den du manchmal auch idealisiert hast.
Dein Vater, Joos Roffler, war in dem Bergdorf aufgewachsen. Weil er dem Lehrer und dem Pfarrer durch seine Intelligenz auffiel, durfte er in Chur auf die Kantonsschule, studierte Theologie und wurde später selber Pfarrer in Igis. Über deine Kindheit im Pfarrhaus erfuhr ich viel aus deinem Curriculum Vitae, das du als Maturaaufgabe im Deutschunterricht verfasst hast. Was für ein Glück, dass du seit deiner Jugend gern geschrieben hast! Dein Vater, ein stattlicher, zum Cholerischen neigender Mann, sah dich schon früh als seine Nachfolgerin. Du wehrtest dich zuerst – Ein Mädchen geht doch nicht auf die Kantonsschule! –, doch er setzte sich durch.
* * *
Im Lauf der letzten fünf Jahre, während ich mich mit deiner Geschichte beschäftigte, habe ich oft Zwiegespräch mit dir geführt. Was hätte ich darum gegeben, dir Fragen stellen zu können. Etwa: Wie kam dein Vater dazu, in dir eine Pfarrerin zu sehen? Klar, du warst die Erstgeborene, vermutlich hatte er sich einen Jungen gewünscht, und deine Mutter gebar zwei weitere Mädchen, bevor zehn Jahre nach dir der ersehnte Bub zur Welt kam.
Dennoch brauchte es damals wohl schon eine aussergewöhnliche Fantasie, um sich eine Frau auf der Kanzel vorstellen zu können. «Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man es ebenso selbstverständlich findet, dass die durch die Schule dem Manne ebenbürtig ausgebildete Frau diese Bildung auch gleich dem Manne frei betätigt», schrieb Pfarrer Joos Roffler – dein Vater – 1918 im Graubündner General Anzeiger.
Du aber stelltest die väterlichen Pläne in Frage. Du fühltest dich zu schüchtern, sahst dich nicht auf der Kanzel. Schon früh hattest du den Wunsch, zu lieben und eine Familie zu gründen. Lateinlehrerin schien dir ein passender Plan für deine Zukunft, ein Beruf, der am ehesten mit Ehe und Mutterschaft vereinbar schien. Doch schon im ersten Semester der Altphilologie an der Universität Zürich stelltest du deine Studienwahl in Frage. Stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten, schien dir öd. Unter der Woche zog es dich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die dich brennend interessierten: Was ist der Sinn von Leben und Tod? Worin besteht die menschliche Existenz?
Just in diesem Moment lerntest du meinen Grossvater kennen, an einem Anlass in Zürich, bei dem sich die heimwehkranken Studierenden aus dem Bergkanton trafen: dem Bündnerball im Kaufleuten. Du ahntest schon damals, dass es eine grosse Liebe werden würde. Doch bei aller Anziehung: Die Begegnung mit Gian Caprez, dem Ingenieursstudenten aus Pontresina, warf dich in ein Dilemma, das dich ein Leben lang begleiten sollte.
Am 2. Februar 1926 schriebst du ins Tagebuch: «Es geht mir so viel im Kopf herum, und doch weiss ich nicht, was oder auch wie schreiben, am allerwenigsten aber was tun. (…) Und was ist schuld an der Geschichte? Der Bündnerball! Er hat uns beide verrückt gemacht! Ich war vorher so ruhig, hatte mit allem abgeschlossen und mich ganz auf zukünftiges Altjungferntum eingestellt. Und da muss mir dieser Gianin in den Weg laufen.»
Der Wunsch, Theologin zu werden, und die Sehnsucht nach einer grossen Liebe waren gleichermassen stark, du wolltest keines von beidem aufgeben. Als dein Liebster ein Jahr vor dir die ETH mit dem Ingenieursdiplom verliess und eine Stelle am Polytechnikum in São Paulo angeboten bekam, habt ihr geheiratet.
Mir blieb der Atem weg, als ich den Brief las, den du wenige Wochen vor deiner Ankunft in Brasilien deiner Mutter schicktest: «Anfang Mai Zeugung, Oktober Reise, Ende Oktober Examen.»
Du hast deine Theologiebücher fürs Schlussexamen eingepackt und bist mit ihm über den Ozean gereist. Mir blieb der Atem weg, als ich den Brief las, den du im Dezember 1929, wenige Wochen nach der Ankunft in Brasilien, deiner Mutter schicktest. Du hattest einen klaren Plan: «Anfang Mai Zeugung (es wird dann schon grad gehen, wie wir wollen!), Anfang Oktober Reise, Ende Oktober Examen. Dann würde ich November, Dezember und Januar bei Euch sein und bei Dir mein Kind bekommen.» Deine Mutter lachte dich nur aus: Ein Kind könne man doch nicht so planen!
Und ausserdem fände es der Vater keine gute Idee, schwanger vor die Professoren zu treten. Doch du bliebst dabei: «Dass eine schwangere Frau doch nicht ein Examen machen könne, ästhetisch oder sittlich oder weiss ich was nicht, rührt mich gar nicht. Das geht die Professoren dann nichts an, ob ich als schwangere Frau Examen machen will oder nicht. Darüber gibt es zum Glück keinen Paragraphen. So was gibt es einfach nicht. Das ist noch nie da gewesen. Es würde mich aber schrecklich reizen. Die Frau ‹mit ihrem hohen, hehren Mutterberuf› macht just während der Schwangerschaft Schlussexamen. Welche Schändung ‹der göttlichen Schöpfungsordnung›. (…) Wenn es nicht geht, verzichte ich lieber auf das Kind als auf das Examen.»
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Wider jede Wahrscheinlichkeit ging dein Plan auf. Im September 1930 bist du allein, mit dem Kind im Bauch, über den Ozean gefahren und hast wenige Tage nach der Ankunft in Zürich deine Prüfungen abgelegt. Im Archiv der Universität stiess ich auf dein schriftliches Examen in Ethik bei Professor Emil Brunner. Thema: Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik. Darin stelltest du zwei Grundfesten des traditionellen Eheverständnisses in Frage: die Monogamie und die Rollenteilung zwischen Mann und Frau.
«Es handelt sich nicht darum, ob der Mensch nun nur eine Frau oder einen Mann lieb hat, sondern darum, wie ihre Herzen dabei stehen. Denn wer will bestehen, wenn wir an die Forderung Jesu denken! Es gibt keine Sicherung dagegen, dass ein zweiter Mensch unserem Herzen ebenso lieb sein wird. Es gibt nur Eines: einander die Freiheit zu lassen und es miteinander zu tragen und erleben.»

Greti Caprez-Roffler und Ehemann Gian 1929 in den Strassen von São Paulo.
Ein Plädoyer für die Polyamorie – verbunden mit einer Fundamentalkritik der Rollen von Hausfrau und Alleinernährer. «Der Vater ausserhalb der Familie, die Mutter innerhalb der Familie ergibt eine ganz falsche Zusammensetzung. Dass der Vater seine Kinder oft überhaupt nicht kennt, weil er nur während der beiden Mahlzeiten mit ihnen zusammen ist, die Mutter – und vor allem unsere Schweizer und deutschen Mütter – vor lauter Flickkorb und Küche nichts anderes mehr sehen, dies bedeutet eine ungeheure Verarmung der Familie. Wenn unsere Zeit für die Frau Freiheit zum Beruf fordert, so ist dies nur die eine Seite, wenn auch eine ungeheuer wichtige, die andere ist: mehr Zeit dem Vater für seine Familie.»
Was Professor Brunner wohl gedacht haben mag, als er deine kühnen Thesen las? Dazu habe ich im Archiv nichts gefunden und auch in deinen Tagebüchern und Briefen nicht. Hingegen stiess ich auf ein Erlebnis, das dich in jenen Prüfungstagen erschütterte: #MeToo anno 1930. Ein anderer Theologieprofessor, Ludwig Köhler, damals Rektor an der Universität, versuchte dich im Rektoratsbüro zu küssen.
Du wehrtest ab, doch er insistierte und lud dich zu sich nach Hause ein, er sei allein, Frau und Töchter seien fort. «Es gab für mich aber keine Möglichkeit zur Illusion, ich musste wissen, dass er viel mehr als nur einen Kuss wollte. Und ich ging nicht. Es gelang mir, dies alles und die Erregung darüber, die Angst vor ihm hinauszuschieben, auszulöschen, wenn auch mit Gewalt.»
Vor der mündlichen Prüfung bei einem Kollegen passte er dich auf dem Gang ab und lud dich in sein Büro ein. Du gingst mit, wolltest erklären, dass du nicht interessiert seist. Doch dazu kam es nicht. «Kaum standen wir in seinem Zimmer, riss er mich an sich und es wäre wie ein Sturmwind über mich dahingebraust, wenn ich ihm nicht gewehrt. ‹Gib mir deinen Mund›, bat er zwei Mal, und er nahm ihn sich. Ich riss mich los, und im selben Augenblick sprach er von etwas anderem, mir die Türe zur Aussprache verschliessend.»
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Drei Monate später, Ende Januar 1931, brachtest du bei deinen Eltern im Pfarrhaus von Igis das Kind zur Welt. Dein Mann, mein Grossvater, kam erst im März aus São Paulo zu euch. Doch das Glück als junge Familie war überschattet von deiner Verzweiflung darüber, nicht arbeiten zu können. Noch hatte kein Kanton das Pfarramt für Frauen geöffnet. Die wenigen Theologinnen arbeiteten als Pfarrhelferinnen neben einem männlichen Pfarrer.
Im Sommer 1931 lehnte der Bündner Kirchenrat deine Bitte, wenigstens aushilfsweise predigen zu dürfen, ab. «Ich habe es zuvor vielleicht geahnt, aber noch nie mit so grausamer Deutlichkeit gewusst, erfahren müssen: dass es eine Schande ist ein Weib zu sein», schriebst du daraufhin in dein Tagebuch. «Es ist von grösserem Übel, ein Weib zu sein, als das Amt unwürdig zu übernehmen. Es handelt sich für den Kirchenrat nicht um die Berufung, Eignung und den Ernst der Auffassung vom Amt durch die Diener am Wort, sondern einzig und allein darum, dass dieselben Hosen anhaben und mit hochdenselben auf einer Universität herumgerutscht sind.»
Hier hätte deine Geschichte enden können wie die vieler Akademikerinnen deiner Generation – wenn nicht genau in jenem Sommer 1931 in Furna der Pfarrer gekündigt hätte. Schon mehrere Pfarrer hatten das Dorf verlassen, weil es ihnen zu abgelegen war. Ohne Strom und ohne Verkehrsverbindung ins Tal hatte die Gemeinde schlechte Karten, noch dazu in Zeiten des Pfarrermangels.
Es war deine Mutter, die die unerhörte Idee hatte und dem Kirchgemeindevorstand einen Brief schrieb mit der Frage, wie sich Furna zur Wahl einer Pfarrerin stellen würde. Und tatsächlich: Am 13. September 1931 wählten dich die Furnerinnen und Furner – Frauen hatten in der Evangelisch-reformierten Landeskirche Graubündens seit 1918 das Stimmrecht – einstimmig zu ihrer Pfarrerin, mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ein Pfarrer. «Ich habe es so plötzlich gewusst, dass ich dies versuchen müsse», hieltest du rückblickend fest. «Und doch hoffte ich heimlich, weder der Gemeindevorstand noch die Gemeinde selber werden so etwas Gewagtes unternehmen. Denn ich fürchtete mich noch immer und nicht minder vor dem Amt.»
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Am 3. Oktober zogst du mit dem kleinen Kind und einer Haushälterin ins Pfarrhaus, dein Mann blieb bei seiner Arbeit in Pontresina. Das war ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen machte. Schliesslich wagtest du es als erste Frau in der Schweiz, alleinverantwortlich ein Gemeindepfarramt zu übernehmen, und das ohne die Erlaubnis des Kirchenrats. Ausserdem warf man dir vor, du vernachlässigest Mann und Kind. «Für ein solches Vorbild, eine solche Missgestalt einer Familie im Pfarrhaus, würden gesund denkende Gemeinden sich bedanken», wetterte dein Erzfeind, Jakob Rudolf Truog, der Pfarrer von Jenaz, in der Zeitung.
«Ein solcher Anfang des Pfarrerinnentums ist sicher am wenigsten geeignet, unser reformiertes Volk für die Zulassung der Frau zum Pfarramt zu begeistern», schrieb er im Freien Rätier. Tatsächlich lehnten die reformierten Bündnerinnen und Bündner das Frauenpfarramt am 24. April 1932 an der Urne wuchtig ab. Furna hielt trotz allem zu dir. Als die Landeskirche drohte, das Kirchgemeindevermögen zu konfiszieren, schickte der Kassier seine Tochter mit einem Jahreslohn ins Pfarrhaus. Wenige Tage später machte der Kanton seine Drohung wahr und sperrte die Konten der Kirchgemeinde Furna.
Wie du dich damals gefühlt haben magst, kann ich heute nur erahnen. Zwar kamst du in der Gemeinde gut an, ja, sogar die Männer gingen wieder häufiger zur Predigt. Zeitzeugen haben mir von deinem Charisma erzählt, das dir half, auch unerhörte Ideen durchzusetzen. So führtest du Skihosen für Mädchen ein und sprachst mit Müttern offen über Verhütung. Aber abends in der Pfarrhausstube befielen dich manchmal Zweifel.
«Liebes, kleines Brüderlein, wohin wird mich das noch führen?», schriebst du meinem Grossvater, der nur jedes zweite Wochenende nach Furna kommen konnte. «Ich habe Angst. Werde ich mir eines Tages die Flügel an der Sonne verbrennen?» Immerhin bekamst du Rückendeckung von Karl Barth, damals Professor in Bonn. Er verteidigte dich gegen einen Pfarrer, der dein Verharren in Furna in der konservativen Reformierten Kirchenzeitung Deutschlands als eine nur bei Frauen sich findende Hartnäckigkeit bezeichnet hatte.
Er verstehe nicht, schrieb Pastor Wilhelm Kolfhaus, dass eine sich christlich nennende Frau so unbekümmert um göttliche und menschliche Ordnungen sein kann. Karl Barth entgegnete ihm in einem offenen Brief: «Sollte Renitenz gegen eine Kirchenbehörde nicht mindestens auch zu den Dingen gehören, die nach der Schrift gelegentlich höchst geboten sein können? Welche Bibelstellen wollten Sie, wenn es darauf ankäme, als göttliches Verbot der Renitenz gegen eine Volksabstimmung anführen und welche als Verbot eines räumlichen Getrenntlebens von Mann und Frau? Und ist es Ihnen andererseits nicht erinnerlich, mit welcher strammen biblischen Begründung einst die Theologen der amerikanischen Südstaaten die Notwendigkeit und Rechtmässigkeit der Sklaverei zu verteidigen wussten?»
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Drei Jahre nach der Wahl in Furna gabst du dein Amt auf. Zwar hatte sich die Landeskirche mit deinem ungesetzlichen Wirken arrangiert – nach der Konfiszierung hatte sie keine Sanktionsmöglichkeiten mehr. Du aber warst zermürbt von der Trennung von deinem Ehekameraden. Vor allem aber tat sich Ende 1933 eine neue Perspektive auf: Gian entschloss sich, den Ingenieursberuf an den Nagel zu hängen und, inspiriert durch dich, Theologie zu studieren. «So werden wir auch hier Gefährten sein», notiertest du in dein Tagebuch und zogst zu ihm nach Zürich.
Im Sommer 1941 geschah das Unerwartete: Dieselbe Behörde, die Furna das Kirchenvermögen beschlagnahmt hatte, bot euch nun eine Stelle an. Ihr wurdet Seelsorger an der neu geschaffenen Stelle an den kantonalen Gefängnissen, Spitälern und psychiatrischen Anstalten. Deine Aufzeichnungen aus jener Zeit haben für mich etwas Zwiespältiges. Denn trotz deiner feministischen Haltung hast du die Praxis, sogenannt liederliche Frauen teilweise jahrelang in Arbeitsanstalten zu stecken, nicht kritisiert. Damals reichte es, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, um als Frau gebrandmarkt und weggesperrt zu werden. Doch darin warst du ganz Kind deiner Zeit: Du hast mit deinen Schützlingen gebetet, dass sie auf den rechten Weg zurückfinden möchten.
Die Erkenntnis, dass es ausgerechnet die Geburt meines Vaters war, die dich dein Amt aufgeben liess, hat mich im ersten Moment erschüttert.
Jene Jahre in Chur gehörten zu den glücklichsten deines Lebens. Du lebstest mit deinem Eheliebsten und den mittlerweile fünf Kindern in einem Einfamilienhaus in Chur und hast mit dem Segen der Landeskirche als Seelsorgerin gearbeitet. Doch das Glück währte nicht lang. Es kam alles zusammen: Die Haushälterin kündigte, dein Vater starb, ein Kind brach sich das Bein, die andern erkrankten an Masern und Lungenentzündung.
Schliesslich entdecktest du, dass du wieder schwanger warst, mit fast 40. Es war dein sechstes Kind – mein Vater. Du nahmst es als göttliches Zeichen. Nun aber wurde es endgültig: «Eine Rückkehr ins Amt ist unmöglich, ich habe nun meinen Platz allein bei Gianin und unsern sechs Kindern. Und vielleicht ist das das Schwerere. Den ganzen Tag Kinderlärm und Streit und Rufen und immer wieder das Bewusstsein, zu wenig Geduld zu haben.» Mein Grossvater war dir im Haushalt keine Hilfe – deinen Forderungen an den modernen Mann, die du damals im theologischen Schlussexamen formuliert hattest, kam er nicht nach.
Die Erkenntnis, dass es ausgerechnet die Geburt meines Vaters war, die dich dein Amt aufgeben liess, hat mich im ersten Moment erschüttert. Wäre er nicht geboren, hättest du deinen Traum, alles zusammen zu leben, vielleicht weiterleben können. So aber wurdest du Hausfrau und Mutter, zwei Jahrzehnte lang. Du schöpftest kurzzeitig Hoffnung, als mein Grossvater eine Stelle als Gemeindepfarrer in Kilchberg am Zürichsee fand: Dort würdest du vielleicht wieder predigen können, auch ohne selber gewählt zu sein, ähnlich wie deine Freundin Verena Pfenninger-Stadler, die ebenfalls mit einem Pfarrer verheiratet war.
Ja, ich vermute sogar, dass mein Grossvater auch darum Pfarrer wurde, um dir die Mitarbeit in einer Gemeinde, in der er offiziell gewählt wäre, zu ermöglichen. Du wusstest ja, dass nach dem Skandal von Furna kaum eine Gemeinde den Mut haben würde, dich als Pfarrerin zu wählen. Doch die Hoffnung zerschlug sich bald: Eduard Schweingruber, der eifersüchtige zweite Pfarrer in Kilchberg, ein Mann mit aufbrausendem Temperament und grossem Einfluss in der Kirchenpflege, verhinderte jegliche Mitarbeit.
Im Tagebuch schriebst du dir den Frust von der Seele. «Ich hätte nie gedacht, dass es für mich so schwer werden könnte, einem brennenden Feuer gleich, nicht predigen zu dürfen.» Ich litt beim Lesen mit dir. Doch die Art, wie du mit dem Predigtverbot umgingst, befremdete mich. «Ich habe immer mehr gesehen, wie sehr mein Geliebter meiner bedarf, auch in der Arbeit, in der gemeinsamen Vorbereitung.
Fast in jedem Gottesdienst, den er gehalten, waren wir beide da, sei es in der Predigt, sei es dass ich ein Gebet oder die Taufliturgie verfasst. (…) Und das Merkwürdige geschah, dass ich darob immer glücklicher wurde. Ich dachte schon, dass wir nun so eins geworden, dass Gottes Wille uns so sehe: gemeinsam in der Vorbereitung, aber unser gemeinsames Werk von ihm nach aussen getragen.»

Pfarrerin Greti Caprez-Roffler 1966, an der Spitze einer Hochzeitsgesellschaft im Bündner Bergdorf Nufenen.
Vollends perplex sass ich schliesslich vor einem Artikel, den du 1957 zum Thema Haushalten und Wohnen schriebst. Darin hast du die modernen Haushaltsgeräte begrüsst, doch anstatt dafür zu plädieren, dass Frauen die gewonnene Zeit nun für Erwerbsarbeit nutzen, sahst du die Frau umso mehr daheim am Herd. «Die Zeit (…) dürfen wir nun brauchen für grössere und schönere Aufgaben. Es dünkt mich, die Linie unserer Töchter sollte mehr und mehr zu einer klaren Entscheidung führen: Hausfrauenberuf oder ausserhäuslicher Beruf, d.h. im Grunde Ehe oder Beruf.»
Paukenschlag! Wo war die Greti geblieben, die alles wollte und allen bewies, dass es auch möglich war, es zu haben? Wo die streitlustige Feministin, die 1931 den Mann und Vater mehr zurück in die Familie holen wollte? War es der Zeitgeist der 1950er Jahre, der dir die jugendlichen Visionen ausgetrieben hatte? Oder war es vielmehr die Erfahrung, jahrelang gegen Windmühlen gekämpft zu haben? Dich aufgerieben zu haben an der täglichen Aufräum-, Koch- und Putzarbeit eines grossen Haushalts mit sechs Kindern, an der Erziehungsverantwortung, die du allein trugst – um an jedem neuen Wohnort wieder derselben alten patriarchalen Macht gegenüberzustehen, in der Figur von Kirchenvorständen, Professoren oder Pfarrherren? Wie gern hätte ich dir diese Fragen gestellt.
Erst 1966, als alle sechs Kinder ausgeflogen waren, tat sich noch einmal ein Fenster auf: Ihr erhieltet das Angebot, die fünf Kirchgemeinden des Rheinwalds zwischen Splügen und Hinterrhein zu übernehmen. Zurück in Graubünden, in einem Walsertal gemeinsam mit deinem Mann als Seelsorgerin zu arbeiten – endlich wurde dein Traum wahr. Zuvor noch, am 17. November 1963, erhieltst du die kirchliche Weihe – im Alter von 57 Jahren. Zusammen mit elf weiteren Theologinnen wurdest du im Zürcher Grossmünster ordiniert. Als Pensionierte seid ihr, Gian und du, 1970 nach Furna zurückgekehrt. Hier schloss sich der Kreis: Wieder war das Dorf ohne Pfarrer, und ihr seid für zwei Jahre eingesprungen.
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Dein Wunsch nach einem vollen Leben hat dich bis zum Tod begleitet. In der Frage, wie Berufung, Liebe, Sexualität und Familie lebbar sind, unabhängig von gesellschaftlichen Normen, fühle ich mich dir nah.
Erst gegen Schluss meiner Recherche sah ich mir die Fotokiste in deinem Nachlass an – auch sie ein grosser Schatz. Zuhinterst fand ich ein Bild von mir. Ich bin anderthalb, ein Blondschopf in einer Plüsch-Latzhose, zeitgemäss in den Unisex-Farben dunkelblau und senfgelb.
Ich habe ein Bild davon, wie ich zwischen deinen Beinen die ersten Schritte mache. Dass ich spät laufen lernte, wusste ich. Dass du mir dabei den Weg gewiesen hast, sehe ich erst jetzt.
Du, 72jährig, trägst wie meist ein Kleid mit Schürze, darunter blickdichte Strümpfe. Zwischen deinen Beinen mache ich, Enkelin Nummer elf, die ersten Schritte. Konzentriert schauen wir beide zu Boden. Du hältst nicht meine Hände, sondern drückst meine Schultern zurück. Typisch, deine bestimmende Art, denke ich, als ich das Foto anschaue. Dass ich früh reden, aber spät laufen lernte, hat mir meine Mutter immer wieder erzählt. Dass du mir dabei den Weg gewiesen hast, sehe ich jetzt erst.
Liebe Nani, was du wohl zu meinem heutigen Lebensentwurf sagen würdest? Über meinen Alltag in einer grossen Hausgemeinschaft mit sieben Erwachsenen und drei Kindern, darüber, dass ich meine Tochter mit zwei Co-Vätern erziehe? Just als ich Mutter wurde, tauchte ich in deine Geschichte ein, las aufgeregt in Briefen und Tagebüchern und erkannte allmählich, wie viel von dir in mir steckt.
Ich fand mich wieder in deinem Hunger auf das Leben – aber auch in der unbedingten Direktheit, die zum Taktlosen tendiert, und im naiven Glauben an Gerechtigkeit, der einen gegen Mauern anrennen lässt. Ich bin in einer anderen Zeit gross geworden, musste für meinen Lebensentwurf nicht denselben Preis bezahlen wie du, sondern ernte eher Bewunderung für meinen Mut.
Ich habe den Ball aufgenommen, den du uns Enkelinnen und Enkeln mit deiner Notiz zugespielt hast. Was du wohl zu meinem Buch über dich sagen würdest? Mit einigen Aspekten wärst du vermutlich nicht einverstanden. Das Kapitel im Buch, in dem ich deine mittlerweile 70- bis 85jährigen Töchter und Söhne zu Wort kommen lasse, die mit deiner autoritären Art zum Teil noch heute hadern, hätte dir vermutlich nicht gefallen. Bestimmt hättest du Punkt für Punkt widerlegt, gern schriftlich. Und wie du es fändest, dass ich das Gespräch mit der Haushälterin, die in den 1930er Jahren bei deinen Eltern in Igis arbeitete und jetzt 100jährig ist, so ungeschminkt wiedergebe?
Sie spricht ein Thema an, das bis heute ein Tabu ist in der reformierten Kirche: sexuellen Missbrauch im Pfarrhaus. Als ich der Theologin Christina Tuor, der ehemaligen Leiterin des Instituts für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, davon erzählte, zeigte sie sich wenig erstaunt. Sie hat schon ähnliche Geschichten aus reformierten Pfarrhäusern gehört.
Schliesslich waren Pfarrer Autoritätspersonen mit einem enormen Einfluss in der eigenen Familie wie auch in der Gemeinde. Und schliesslich geht es bei sexuellen Übergriffen um Macht. Während die katholische Kirche am Pranger stehe, gebe es bei den Reformierten noch wenig Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Gewalt, so Christina Tuor. Aufarbeitung und Sensibilisierung täten auch da Not.
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Ob du, liebe Nani, stolz auf mich wärst, obschon – oder gerade weil – ich solche Dinge in meinem Buch benenne?
Wer permanent gesagt bekommt, sie liege falsch, verlässt sich entweder nur noch auf sich selber oder beginnt zu zweifeln. Dass du zum ersteren tendiertest, ist ein Glück.
Ich werde es nie wissen. Was ich weiss: Dass du ohne deine strenge Art, die keinen Widerspruch zuliess, die vielen Kämpfe wohl nicht durchgestanden hättest. Und dass die Niederlagen, die du immer wieder erlitten hast, sicher eher zu einer Verhärtung deines Charakters beitrugen. Wer von aussen permanent gesagt bekommt, dass sie nicht richtig liegt, verlässt sich entweder nur noch auf sich selber oder beginnt sich zu hinterfragen. Dass du zum ersten tendiertest, ist auch ein Glück für den Kampf um das Pfarramt für Frauen.
Oder in den Worten einer Zeitzeugin: «Sie war dominant. Wenn sie das nicht gewesen wäre, wäre sie wohl nicht Pfarrerin geworden. Eine andere hätte längst aufgegeben.»
Ich grüsse dich, wo auch immer du jetzt sein magst,
deine Enkelin Christina
Christina Caprez: Die illegale Pfarrerin. Limmat Verlag, Zürich 2019; 392 Seiten; 44 Franken.