Tim Bucher fällt sofort auf. Für das Unservater ist er am schnellsten auf den Beinen. Zum Ausklang des Gottesdienstes mit Klavier und Klarinette wippt er ungeduldig mit den Füssen, die in Sneakers stecken. Er ist der einzige junge Mensch an diesem Sonntagmorgen in der Kirche Laufen am Rheinfall. Alle anderen 15 Personen im Raum sind zweimal so alt wie er. Mindestens.
Wäre die Schweiz nicht im Lockdown, würde er im Anschluss an den Gottesdienst im Kirchgemeindehaus nebenan gleich noch Kaffee und Tee servieren. Es gab Sonntage, an denen er bis kurz vor Glockengeläut im Ausgang in Schaffhausen war. Seit zwei Jahren ist Tim Bucher, 23, Mitglied der Kirchenpflege. Was um Himmels willen macht er in der Kirche?
Dass Bucher auch schon mit brummendem Schädel im Gottesdienst sass, dass er in der Kirche aktiv ist, hat damit zu tun, sagt er, dass er hier zwei Dinge gefunden habe, auf die er sonst nirgends gestossen war. Es sind zwei Dinge, nach denen sich eigentlich alle jungen Menschen sehnen: «Freiraum und Gemeinschaft.»
In den letzten drei Jahren hat Tim Bucher in der Gemeinde ein Netzwerk junger Leute aufgebaut. Mit seinem Team organisiert er Ausflüge für Gleichaltrige in die Berge, in die Badi oder an den Weihnachtsmarkt. Er hat Treffen mit Asylsuchenden auf die Beine gestellt und eine Führung durch Zürich mit einer Gruppe Blinder. Die Fotos der Events auf der Website der Gemeinde zeigen Jugendliche, die in die Kamera lachen.
Junge Männer und Frauen, die sich umarmen, mit Sneakers an den Füssen wie Tim Bucher. Auf einem anderen Bild inszenieren sie sich an einem langen Tisch des Gemeindehauses in den Posen von Jesus und seinen Jüngern beim Abendmahl nach Michelangelo: «Die Message der Kirche ist: Helft einander, schaut nicht nur auf euch selber. Wir wollen das leben», sagt er.
Seit 2018 ist der gelernte Automatiker Mitglied der Grünliberalen und Co-Präsident des Jugendparlaments Schaffhausen. Seit kurzem studiert er Wirtschaft, seit Anfang dieses Jahres sitzt er für seine Partei im Kantonsrat. Nebenher arbeitet er ein bis zwei Tage die Woche an der Kasse im Coop. Sieben Jahre schon ist er in der Kirche aktiv.
Er spricht von ihr als einer «gesellschaftlichen Kraft», einer «etablierten Gemeinschaft», die so wichtig sei wie noch nie. «Gerade für junge Menschen.» Was er sagt, hört sich wie die Analyse eines Soziologen an.
«Wir wurden ernst genommen. Sie liessen uns das Programm mitbestimmen. Da war nichts mit Mandala ausmalen und Singkreis.» Tim Bucher, 23
Dabei hätte auch alles anders kommen können. Tim Buchers Familie ist nicht besonders religiös. Als Kind hatte er kaum Bezug zur Kirche. Den Religionsunterricht besuchte er erst in der Oberstufe. «Ich war kein guter Konfirmand», sagt er. «Zetteli», also die nötigen Bescheinigungen, dass er soundsoviele Gottesdienste besucht hatte, sammelte er widerwillig. Reingezogen hat ihn dann das Konfirmandenlager vor acht Jahren.
Das Spezielle daran: Das Lager wurde von jungen Menschen mitgeleitet, einige kaum älter als Tim Bucher selbst. Die setzten sich mit den Konfirmanden im Massenschlag hin und fragten, was sie im Leben beschäftige. «Wir wurden ernst genommen. Sie liessen uns das Programm mitbestimmen. Da war nichts mit Mandala ausmalen und Singkreis.» Das machte ihm Eindruck.
Eine der jungen Begleiterinnen dieses Lagers war Bettina Bart. Sie ist heute Anfang 30 und wie Tim Bucher seit zwei Jahren in der Kirchenpflege der Kirchgemeinde Laufen am Rheinfall. Nach der eigenen Konfirmation fragte sie der damalige Pfarrer, ob sie nicht Lust hätte, ein Lager mitzuleiten. Bart, heute Beraterin für berufliche Integration, hatte Lust: «Das Tolle war, dass die Pfarrer uns das einfach zutrauten – und uns ausprobieren liessen.»

Tim Bucher, 23, Mitglied der Kirchenpflege Laufen am Rheinfall
Die Gemeinde Laufen am Rheinfall, 2230 Mitglieder, gilt in der Zürcher Landeskirche als Vorzeigegemeinde in Sachen Jugendarbeit. Für Dominik Schenker, Theologe, Sozialwissenschaftler und Experte für Kirche und Jugend, ist der Erfolg kein Zufall: «Da hat eine Gemeinde vieles richtig gut gemacht.» Wenn die Kirche junge Menschen nicht verlieren wolle, gebe es nur eines: Jugendliche in die Jugendarbeit miteinbeziehen, «und zwar auf Augenhöhe». Diese seien zu vielem bereit. Wenn man sie ernst nehme. Die Gesellschaft traue Jungen wenig zu.
«Sie sind eine Gruppe, die viel Kompetenzen hat, aber diese kaum ausschöpfen kann, weil man sie oft unterschätzt oder bevormundet.» Wenn die Kirche ihnen einen Raum und Verantwortung gebe, sei vieles möglich. Er ist überzeugt, dass dabei gute Jugendarbeit entsteht: «Jugendliche orientieren sich an anderen Jugendlichen.» Man teile die Welt und das Leiden daran, grüble über dieselben Dinge nach, höre dieselbe Musik, spiele dieselben Games. Erwachsene hätten es schwerer, an Teenager ranzukommen.
Nach der Konfirmation begleitete Tim Bucher die Lager selber. Und er begann, mit zwei, drei anderen Kollegen einmal im Monat im Gemeindehaus mit Kindern zu spielen und zu basteln. «Anfangs war das schräg. Ich fragte mich, was ich als 16jähriger mit 9- und 10jährigen Kindern mache: Male ich da wirklich Bilder aus?» Tim sagt aber auch, dass sich für ihn damit eine Welt aufgetan hat: «In meiner Lehre als Automatiker drehte sich alles um 0 und 1. Ich hatte es vor allem mit Maschinen zu tun. Hier entdeckte ich, dass ich gerne zusammen mit anderen Menschen was mache – und gut darin bin.»
Als Lilli Klein mit 11 das erste Mal vor versammelter Gemeinde die Fürbitten las, wünschte sie sich, dass keiner ihrer Schulkollegen etwas davon mitbekommt. «Ich wollte kein Sonderling sein.»
Auch Lilli Klein engagierte sich als Teenager in der Kirche. Als sie mit 11 das erste Mal in der Pilgerkirche Ligerz am Bielersee vor versammelter Gemeinde die Fürbitten las, wünschte sie sich allerdings, keiner ihrer Schulkollegen möge etwas davon mitbekommen. «Ich wollte nicht der Sonderling sein», sagt sie beim Spaziergang am See, wo die heute 19jährige öfters anzutreffen ist.
Letztes Jahr hat Klein in einem Berner Gymnasium ihre Matura abgelegt. Nun ist sie im Zwischenjahr. Eigentlich hätte sie gerne ein Praktikum gemacht, «eine Art Sozialjahr». Sie bewarb sich im Kulturzentrum Progr mitten in Bern, bei einem Radiosender und beim Hilfswerk Brot für alle. Vergeblich. Im kommenden Herbst will sie ein Studium beginnen. «Vielleicht Religionswissenschaft. Oder interreligiöse Studien. Religion interessiert mich einfach.»
Anders als Tim Bucher ist Lilli Klein mit der Kirche aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitet in der Verwaltung einer reformierten Kirche in Bern, der Vater ist Synodenmitglied der Landeskirche Bern-Jura-Solothurn. «Früher dachten alle, ich bin nur in der Kirche aktiv, weil meine Eltern es schon sind.» Dabei musste sie erst einen eigenen Zugang finden, sagt sie. «Als kleines Kind fand ich Kirche langweilig.» Sie erinnert sich an die endlosen Predigten, in denen sie beobachtete, was die Menschen für Kleider trugen oder wo die Leute hinschauten, wenn sie die Hände zum Gebet falteten. «Die Kinder des Pfarrers, mein Bruder und ich waren die einzigen, die sonntags in den Gottesdienst mussten.»
Freude, in der Kirche zu sein, hatte sie erst, als sie in der zweiten Klasse im Theaterspiel mitmachte. «Ich war die Hirtin und ein Engel.» Die biblischen Geschichten seien es gewesen, die sie faszinierten, sagt Lilli. Und, vor allem: «Die Pfarrerin und der Pfarrer waren toll.» Als es im KUW-Unterricht zu einer Schlägerei zwischen zwei Jungen kam, schaute die kinobegeisterte Pfarrerin mit ihrer Klasse den Film «De Goalie bin ig». «Noch bevor der offiziell als DVD rauskam.» Danach diskutierte die Klasse über Freundschaften, Konflikte, «und wie man mit negativen Gefühlen umgeht, ohne dass es in Gewalt mündet». Dinge, die Lilli Klein beschäftigten. Die Atmosphäre war offen. «So was hatte in keinem regulären Schulfach Platz. Es war für mich ein ‹Safe Space›.» Die Kirche als Schutzraum.
Gemeinschaft, nicht Glaube
Lilli Klein denkt viel nach. Wie alle, die das tun, weiss sie: «Auf die meisten Dinge gibt es keine einfachen Antworten.» Darum mochte sie es auch, dass die Pfarrer und Katechetinnen nie versuchten, ihr und den anderen Jugendlichen eine aufzudrängen.
Und da gab es auch eine Zeit, als es Lilli Klein nicht gut ging. Mit 15 Jahren entwickelte sie eine Essstörung. Sie hatte eben das Gymnasium in Biel begonnen. Bald schon fühlte sie sich in den langen Korridoren voller fremder Schüler verloren und alleine, bald konnte sie mit der kompetitiven Stimmung in der Klasse nicht mehr mithalten. «Ich setzte mich komplett unter Druck und hörte auf zu essen.» Eines Morgens schaffte sie es nicht mehr, sich in den Regionalzug Richtung Biel zu setzen.
Für ihre Mutter war die befreundete Pfarrerin in den langen Monaten, als es Klein nicht gut ging, ein Anker: «Sie konnte mit ihr über ihre Sorgen um mich sprechen.» Und auch sie selber verbrachte oft ganze Nachmittage im Pfarrhaus. «Ich hatte Mühe, alleine zu sein, und wusste, ich kann da einfach hin.» Als es ihr wieder besser ging, wechselte sie an ein Gymnasium in Bern, schrieb Bestnoten und begann, in der Kirche zu arbeiten.
Bis vor einem Jahr leitete Lilli Klein gemeinsam mit einer Freundin und anderen Jugendlichen im Pfarrsaal der Gemeinde einmal im Monat einen Kindertreff. Dass sie die einzige Volljährige war, sei allerdings nicht ideal gewesen. «Ich war knapp 18, alle anderen im Kindertreffteam jünger. Die ganze Verantwortung lastete auf mir.» Es fand sich keine weitere erwachsene Person, die sie unterstützen wollte. Wegen der bevorstehenden Matur gab sie schliesslich den Job auf. Seither ist das Angebot eingeschlafen.

Lilli Klein, 19, Mitglied der reformierten Kirchgemeinde Ligerz BE
Lilli Klein bedauert, dass nicht mehr Menschen die Kirche als das sehen, was sie sei: ein Ort für alle. «Die Kirche muss das mehr rüberbringen.» Sie findet, dass die sozialen Angebote der Kirche mehr in den Fokus gerückt werden sollten. «Viele glauben ja, Kirche habe nur was mit blindem Glauben zu tun. Und dass man fromm sein muss.» Einem naiven Glauben kann sie nichts abgewinnen. «Mit den Händen in der Luft Gott loben ist gar nicht mein Ding.»
Was auffällt: Lilli Klein und Tim Bucher sprechen wenig über Glauben. Kirche ist für sie vor allem Gemeinschaft. Dominik Schenker erstaunt das nicht: «Jugendliche, die sich in der Landeskirche engagieren, suchen weder ein religiöses Gesamtpaket noch ein Erweckungserlebnis.» Gerade deshalb besuchten sie nicht eine Freikirche wie die ICF oder Vineyard. In der Regel seien positive persönliche Erfahrungen der Grund, warum sich junge Menschen wie Klein oder Bucher in der Kirche engagieren: «Weil sie eine Bezugsperson in der Kirche finden oder weil andere Jugendliche dazukommen.»
Und auch wenn junge Menschen die Kirche unterstützen: «Ein vollumfängliches Ja zur Kirche mögen viele deshalb aber noch lange nicht ablegen.» Nur schon, weil sie ein verstaubtes Image habe, das abfärben könnte. «Vergessen wir nicht: Kirche ist alles andere als sexy und cool.» Wer zu viel Nähe bekunde, riskiere, Aussenseiter zu werden. Junge Menschen, die sich in der kirchlichen Jugendarbeit engagierten, würden sich oft im Mainstream verorten und an den Idealen ihrer Peergroup orientieren: Klima, Feminismus und Black Lives Matter.
Die Tendenz, sich mit fast professioneller Distanz gegenüber der Kirche zu positionieren, sei Reflexionsleistung und Selbstschutz in einem. Entsprechend träten die Jugendlichen als Advokaten, nicht aber als Verkündiger auf. Schenker findet daran nichts Schlimmes. «Im Gegenteil.» Schliesslich sei dies eine Haltung, die nicht wenige Erwachsene, die im Kirchenbereich tätig seien, ebenfalls an den Tag legten: «Vor allem in städtischen, eher linken Kirchenmilieus ist dieser Approach verbreitet. Auch hier existiert ein Legitimationszwang.» Gegenüber Bekannten werde der Einsatz für die Kirche als gesellschaftliches Engagement dargestellt. «Da sagt auch keiner, dass die zu wenig fromm sind.»
Ihre Maturaarbeit schrieb Lilli Klein über ein Thema, das für die meisten Jugendlichen abwegig scheint: Frauen in der Reformationszeit. Sie interessierte sich für Zwinglis Ehefrau Anna Reinhart, Zürichs letzte Äbtissin Katharina von Zimmern und Marie Dentière, eine Reformatorin aus Genf. Für ihre Arbeit kniete sie sich in Fachliteratur, besuchte das Reformationsmuseum und interviewte zwei Pfarrerinnen. Von diesen wollte sie wissen, ob Frauen wie Reinhart und von Zimmern Vorbild für sie seien und wie man als Frau in der Kirche damit umgeht, dass die Vorgängerinnen in der Geschichtsschreibung so wenig Raum bekamen.
Selber Pfarrerin zu werden, kann Lilli Klein sich nicht vorstellen. Sie sieht sich eher im Hintergrund. «Ich bin kritisch, analysiere gerne.» Darum vielleicht interreligiöse Studien. Darum vielleicht Religionswissenschaft. Sie kann sich auch gut vorstellen, irgendwann wieder in der Kirche mitzutun. Nur: «Eine Predigerin bin ich nicht.»
Frecher Konfirmand
Ein Prediger ist auch Silvan Holenweg nicht. Trotzdem hat er es in die Lokalzeitungen geschafft. Mit nur 18 Jahren haben ihn die Kirchbürger von Wildhaus, dem Wintersportort im Toggenburg, wo er aufwuchs und noch heute die meiste Zeit verbringt, ins Kirchenparlament gewählt. Damit ist der er jüngste Synodale in der St. Galler Kirchengeschichte. Dabei hatte Silvan Holenweg, heute 20 und HSG-Student, mit der Kirche schon abgeschlossen.
«An die Sprache musste ich mich gewöhnen. Ich finde sie aber immer noch verständlicher als Goethe – den habe ich in der Kanti gar nicht gern gelesen.» Silvan Holenweg, 20
Der Pfarrer, der ihn konfirmierte, sah das anders. Er fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, sich in der Kirchenpolitik zu engagieren. Silvan Holenweg, der in seiner Freizeit alle möglichen Sportarten betrieb und als Handballtrainer ein Mädchenteam leitete, musste erst überlegen. «Damit hatte ich nicht gerechnet.» Er sei doch ein frecher Konfirmand gewesen, habe viel Seich gemacht. Irgendwie muss ihn das Angebot doch stolz gemacht haben.
Beim Erzählen errötet er. Er sprach mit seinen Eltern darüber, die fanden es eine gute Idee. Sie sagten: «Silvan, da lernst du was fürs Leben: wie ein Budget funktioniert, was eine Verfassung ist, wie man eine Motion einreicht.» Er sagte zu. Und besuchte die Delegiertenversammlung als Gasthörer, um sich vorzubereiten. Weil er erst 17 war, die Wahlfähigkeit im Kirchenparlament aber erst mit 18 erreicht wird, vertrat ihn Pfarrer Tobias Claudy bis zu seiner Volljährigkeit. Wie Tim Bucher in der Kirche Laufen am Rheinfall fällt auch Silvan Holenweg im barocken Kantonsratssaal auf. Das Durchschnittsalter der 180 Synodalen: 56 Jahre.
Pfarrer Claudy sagt, Silvan Holenweg anzufragen sei Intuition gewesen: «Er steht hin und sagt, was er denkt.» Und er habe gewusst, dass der Gymnasiast sich für Wirtschaft und Politik interessiere. «Natürlich schaute ich mit ihm zuerst sorgfältig an, ob die Arbeit ihn zeitlich nicht überfordern würde.» Gemeinsam entschieden sie, es zu probieren.
«Früher rissen sich gestandene Stadträte um einen Sitz im Kirchenparlament, heute finden sich oft kaum mehr Leute. Das öffnet für junge Menschen ein Feld der Möglichkeiten.» Dominik Schenker, Theologe und Sozialwissenschaftler
«Warum nicht?» findet Dominik Schenker zu Holenwegs Amt. Dass ein Jugendlicher, der relativ wenig mit Religion zu tun hatte, nun im Kirchenparlament sitzt, findet er interessant, aber nicht abwegig. Tatsächlich sei es heute sogar wahrscheinlicher, dass ein junger Mensch sich für ein Amt in der Kirche zur Verfügung stelle, als noch vor 20 Jahren: «Paradoxerweise ist es gerade die Entfremdung, die die Kirche wieder attraktiv macht.» Heute wüchsen viele Jugendliche in relativer Distanz zur Kirche auf. Darum werde sie nicht mehr als Autorität wahrgenommen, gegen die man rebellieren muss. «So gesehen könnte man sagen: Die Kirche war für Junge auch schon mehr No-Go.»
Ein Anreiz, der dabei nicht zu unterschätzen ist: Erfahrungen sammeln zu können. In allen anderen Bereichen der Gesellschaft sind Weiterbildungen, Zeugnisse und Zertifikate gefragt. Noch nie war es so schwer für Junge wie heute, an Jobs und Ämter zu kommen. Dominik Schenker spricht von einer Win-win-Situation, und dies gerade, weil die Kirche an Prestige verloren habe. Früher rissen sich gestandene Stadträte um einen Sitz im Kirchenparlament, heute sei es schwer, die Posten überhaupt zu besetzen. «Kirchenpolitik setzt keinen Glanz mehr auf den gesellschaftlichen Palmarès.» Für junge Menschen öffne sich damit ein Feld der Möglichkeiten.
Tatsächlich ist Silvan Holenweg nicht der einzige junge Synodale im St. Galler Kirchenparlament. Zwei weitere Abgeordnete sind wie er Anfang 20, sieben weitere unter 30 Jahren. Schweizweit ein Unikum. Seit Jahren wirbt die Landeskirche dafür, vakante Sitze mit jungen Menschen zu besetzen. Die Unterlagen studieren sei nicht immer einfach, sagt Holenweg zu seinem neuen Amt. «An die Sprache musste ich mich gewöhnen.» Er fände diese aber immer noch verständlicher als Goethe, fügt er an – «den habe ich in der Kanti gar nicht gern gelesen». Und: «Bei Verständnisproblemen frage ich meine Eltern.»
Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie Silvan Holenweg, der von sich sagt, er sitze nicht gerne still, Budgets und Verfassungsunterlagen wälzt und ganze Sessionen im dunkel getäferten Saal verbringt. Manchmal gingen ihm die Diskussionen schon etwas zu lange, meint er. In der letzten Synode dauerte es zweieinhalb Stunden, bis man sich schliesslich darauf einigte, die Diskussion um die bevorstehende Verfassungsrevision aufgrund der Pandemie zu vertagen. «Ich fragte mich, wie lange man da hin und her reden kann.» Interveniert habe er aber nicht.
Er sei zwar selbstbewusst, erklärt er, aber als Frischling einfach ans Rednerpult zu marschieren und «Schluss jetzt!» zu rufen, das sei nicht sein Ding. Selber erklärt der Wirtschaftsstudent sein Engagement damit, dass er ein Teamplayer sei. «Im Sport, aber auch sonst im Leben.» Er machte die RS, «weil es dazugehört», es sei für ihn eine Schule gewesen, einfach mal die Klappe zu halten und mitzumachen.

Silvan Holenweg, 20, Parlamentsmitglied der reformierten Kirche des Kantons St. Gallen
Ähnlich sieht er die Kirche: «Die gehört einfach dazu.» Sie sei Teil der Geschichte seines Ortes. Gerade in seinem Dorf Wildhaus, dem Geburtsort Zwinglis. Neben den drei Skiliften, den Kurhäusern, dem Turnverein gehört auch der Reformator zum Dorf. Er sagt: «Ich will nicht, dass die Kirche verschwindet.» Die Leute, fährt er fort, sollten nicht einfach alles aufgeben.
Verkatert im Kirchenkafi
Silvan Holenweg ist nicht der einzige Jugendliche im Dorf, der in der Kirche mitmacht. Eine Gruppe von Jugendlichen hat eine Cevi-Sektion auf die Beine gestellt. Pfarrer Claudy sagt: «Hier oben setzen sich die meisten ein: Man macht mit im Sportverein, im Chor oder eben in der Kirche.» Die sei Teil des öffentlichen Lebens. Und er sagt auch: «Niemand verlangt, dass du jeden Sonntag in der Predigt sitzt.» Auch Silvan Holenweg ist selten in der Kirche anzutreffen. Das zumindest hat sich bewahrheitet: Gottesdienst hat sich für ihn mehr oder weniger erledigt. Er macht seinen Job für die Kirche anders.
Tim Bucher, Lilli Klein, Silvan Holenweg sind mit ihrer Arbeit für die Kirche bis heute die Ausnahme. Weil die Kirche nicht sexy und nicht cool ist. Doch die Zeiten der Totalrebellion sind vorbei, auch das zeigt ihr Beispiel. Könnte es Schule machen? Dominik Schenker wägt ab: «Dazu muss die Kirche ihre Aufgaben machen. Heisst: umdenken.» Denn das grösste Hindernis sieht er gerade in einer Sache, die viele Gemeinden dann eben doch tun. Weil sie quasi systeminhärent ist: Verkündigen. Wolle man für Jugendliche attraktiv sein, sei genau dies tabu. Gemeinden wie Laufen am Rheinfall, Ligerz oder Wildhaus hätten dies erkannt.
«Man darf die Jungen nicht zu Botschaftern machen wollen.» Weil Kinder und Jugendliche merken, wenn sie instrumentalisiert werden. Man werde ihnen nicht gerecht, wenn man sie einzig als Garanten dafür sehe, dass die Botschaft der Kirche überlebe und ihre Organe weiterlaufen wie bisher. Die Gesellschaft verändere sich, junge Menschen suchen Antworten auf ihr Leben, die sie nicht unbedingt in der Kirche fänden. Hier sei Loslassen gefragt. Und vor allem: «Vertrauen.» In die Jugend. Und in sich selbst.
Kirchenpfleger Tim Bucher sagt, er könne und wolle kein Bekenntnis ablegen. Aber dann sagt er doch etwas, das in die Richtung geht: «Ich stehe als junger Mensch erst am Anfang. Alles im Leben muss man lernen und entdecken. Warum sollte das mit dem Glauben anders sein?» Bucher sieht den Glauben als einen Weg, der ein Leben lang andauert. Diese Reise mache er gerne mit der Kirche.
Denn ohne sie, sagt er, wäre er heute ein anderer Mensch. Die Kirche habe Seiten aus ihm herausgeholt, die er sonst nie entdeckt hätte. Ohne sie wäre er vielleicht nie in die Politik, hätte er nie die Gemeinschaft entdeckt. Er bereue keine einzige Stunde, in der er Kirchenkafi serviert habe oder mit Kindern gebastelt. Auch wenn er manchmal verkatert da sass und sich dachte: «Was mach’ ich da eigentlich?»