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Autor: Roger Nickl
Freitag, 21. April 2023

Religion und Technik sind eng miteinander verzahnt. Das zeigte sich schon vor 500 Jahren: Die Erfindung des Buchdrucks beflügelte die Reformation. Während zu jener Zeit die Menschen noch fleis­sig in die Kirche gingen, besuchen im 21. Jahrhundert immer weniger Leute Gottesdienste. Seit Jahrzehnten leeren sich die Kirchen.

Diese Entwicklung scheint der Säkularisierungsthese recht zu geben. Sie wird von Religionssoziologinnen vertreten und besagt, dass Glaube und Religion in der modernen, hochtechnologisierten Welt immer mehr an Bedeutung verlieren. Dem ­widerspricht die Theologin Sabrina Müller: «Menschen glauben heute nicht weniger. Das Bedürfnis nach Spiritualität nimmt nicht ab, es wird aber pluraler, diverser und individueller.» ­Müller ist Geschäftsführerin des Universitären Forschungsschwerpunktes «Digital Religion(s)» an der Universität Zürich und untersucht religiöse Bewegungen und Innovationen in der Kirche.

Laut Müller bauen sich viele ihre religiöse Identität nach eigenen Vorlieben zusammen. Und sie tun das immer öfter online. Zwar ist der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung von Lebensentwürfen schon länger zu beobachten; er setzte weit vor der Digitalisierung ein, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Die Onlinemedien haben ihn aber weiter beschleunigt. Das betrifft auch den Umgang mit Religion und Spiritualität.

Im religiösen Gemischtwarenladen

Online gibt es mittlerweile eine breite Palette von spirituellen und religiösen Angeboten. Von Gebet-Apps aller Konfes­sionen über spirituelle Podcasts bis zu Websites, die neben Achtsamkeitsübungen, Anleitungen zu Meditation und Yoga auch Predigten aller Art bieten. Die App Insight Timer etwa ist ein solcher spiritueller Online-Gemischtwarenladen.

Blogs, Videos und Podcasts findet man aber auch beim Reflab, hinter dem die Reformierte Kirche des Kanton Zürich seht. «Digitale Medien eröffnen ganze neue Möglichkeiten, sich inspirieren zu lassen», sagt ­Müller. «Ich kenne viele Menschen, die sich von überall Ideen und Glaubensinhalte nehmen, so dass sie sich keiner bestimmten Religion mehr zuordnen würden.» In den USA, wo die Theologin eine Zeitlang geforscht hat, könne man heute problemlos und glaubwürdig sagen: «I’m a christian-buddhist-moslem.»

Der Glaube steht im digitalen Zeitalter nicht mehr felsenfest und in Stein gemeisselt, sondern ist fluid geworden. «Vielen geht es nicht mehr um absolute Wahrheiten», sagt Müller, «sondern darum, was einem gerade hier und jetzt wichtig ist und was einem guttut.» Und das können eben Yogaübungen sein, aber auch aufmunternde Worte und inspirierende Gedanken.

Letztere werden online von religiösen «Sinnfluencerinnen» verbreitet. «Sinnfluencerinnen sind Influencerinnen, die Sinn generieren», sagt Müller. Mit regelmässigen Video-Blogs und Posts in den sozialen Medien erreichen sie ein wachsendes, vor allem auch jüngeres Publikum. So schart etwa die deutsche Pfar­rerin Josefine Teske mit seligkeitsdinge.de eine Commu­nity von über 40 000 Followern um sich. Erfolgreich sind auch ­Ellen und Steffi. In ihrem viel genutzten Video-Blog Anders amen beschäftigt sich das lesbische Paar auf unterhaltsame ­Weise mit Lebens- und Glaubensangelegenheiten. Angestellt sind die beiden Frauen von der Evangelisch-lutherischen ­Landeskirche Hannover als (Digital-)Pastorinnen.

Die digitalen Medien beleben die Diskussion religiöser Themen. Während in Deutschland die Landeskirchen auf diese Entwicklung relativ schnell reagiert haben, gibt es in der Schweiz erst wenige Initiativen.

In ihren Videos diskutiert das Paar über Beziehungs­themen wie Treue, Scheidung und Sexualität genauso wie über Reichtum oder die Fussball-WM in Katar. Zuweilen wird geturnt oder Ostern gefeiert. Die beiden Pastorinnen ver­binden die Themen mit ihrem eigenen Leben, das macht sie ­nahbar und authentisch. Und sie sprechen immer wieder Tabu­themen an, etwa künstliche Befruchtung oder queere Familien mit Kindern. «In solchen Formaten entsteht eine neue Theologie», sagt Sabrina Müller. Zum Beispiel hätten Themen der ­feministischen Theologie in den Hochschulen nie Fuss gefasst, in den sozialen Medien würden sie nun aber intensiv besprochen.

Die digitalen Medien beleben die Diskussion religiöser ­Themen. Während in Deutschland die Landeskirchen auf diese Entwicklung relativ schnell mit religiösen Online-Angeboten und digitalen Pfarrämtern reagiert haben, gibt es in der Schweiz erst wenige Initiativen wie etwa das Reflab. «Die Kirchen sollten den App-Markt nicht verschlafen», sagt Müller. Die Arbeit an neuen, attraktiven Digitalformaten sei zwar eine Herausfor­derung, damit verbunden sei aber die Chance, mehr und jüngere Menschen zu erreichen.

Roboter als Priester

Auch die Church of England ist heute digital unterwegs, etwa mit einem Angebot, das auf virtuelle Sprachassistenten setzt. So können Gläubige mit Alexa Skills, einer für die Kirche massgeschneiderten intelligenten Software, beten. Die smarte App gibt aber auch Auskunft über Glaubensfragen aller Art und zu kirchlichen Aktivitäten und Veranstaltungen. So ersetzt die KI-unterstützte Software zwar nicht den lieben Gott, aber in gewissen Momenten doch den Pfarrer oder die Pfarrerin.

Die britische Forscherin Beth Singler, Assistenzprofessorin bei «Digital Religion(s)», meint: «Künstliche Intelligenz tangiert heute die meisten unserer Lebensbereiche, Glaube und Reli­gion sind da keine Ausnahme.» Eines der in dieser Hinsicht wohl kuriosesten und umstrittensten Phänomene der letzten Zeit sind Roboterpriester wie der Segensroboter BlessU-2.

Gebaut ­wurde er anlässlich des deutschen Reformationsjubiläums 2017. Vor zwei Jahren stand BlessU-2 eine Zeitlang in der Stadt­kirche Winterthur. Die Maschine mit dem kindlichen Roboterkopf und dem in der Blechbrust integrierten Computerdisplay kann ihre Metallarme heben und Menschen in verschiedenen Sprachen segnen. Wie segensreich BlessU-2 allerdings für die Kirche ist, bleibt umstritten. Während laut Studien 60 Prozent der Besucherinnen der Begegnung mit dem Roboterpriester durchaus etwas abgewinnen konnten, fanden andere die Aktion einfach nur geschmacklos und infantil.

Mittlerweile kommen religiöse Roboter wie BlessU-2weltweit zum Einsatz: So segnete und predigte der katholische Roboter Santo während der Corona-Pandemie in polnischen Kirchen. Und im japanischen Kyoto leitet sein buddhistischer Kollege Mindar religiöse Zeremonien.

Auch hier fallen die Reaktionen der Tempelbesucherinnen gegensätzlich aus. «Auf der einen Seite faszinieren uns sprechende Maschinen, auf der anderen Seite sind sie auch etwas unheimlich», sagt Beth Singler. Interessant an der Diskussion rund um Robotertechnik und künstliche Intelligenz findet die Forscherin, dass sie existenzielle Fragen aufwirft. «Wenn es uns gelingt, immer intelligentere Maschinen zu bauen, stellt sich die Frage, was menschlich ist und was eben nicht.»

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Tobias Haberl
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Das sind Themen, mit denen sich Religionen schon seit Jahr­tausenden beschäftigen. Deswegen ist Religion auch gefragt, wenn es um ethische Fragen rund um die Digitalisierung geht. So haben Vertreter von Judentum, Islam und katholischer Kirche Anfang dieses Jahres in Rom einen gemeinsamen Appell unterzeichnet, der einen gerechten, nicht-diskriminierenden Umgang mit künstlicher Intelligenz fordert. Es wurde etwa ­kritisiert, dass Asylanträge aus Effizienzgründen teilweise mit KI-unterstützter Software bearbeitet würden. Damit werde das Schicksal eines Menschen einem Algorithmus anvertraut.

Gesegnet vom Algorithmus

Algorithmen als Schicksalsmächte: Singler hat in ihrer Forschung festgestellt, dass Menschen den smarten Programmen manchmal schon fast göttliche Qualitäten zuschreiben. So ist ihr bei der Analyse von Posts in den sozialen Medien immer wieder die Formulierung «I’m blessed by the algorithm» («Ich bin vom Algorithmus gesegnet worden») aufgefallen. Geäussert wurde sie oft von Beschäftigten der sogenannten Gig-Ökonomie, von Uber-Fahrerinnen und Food-Kurieren, deren Aufträge von Onlineplattformen vermittelt werden. Waren sie in einer ­Woche besonders erfolgreich, schrieben sie das dem Algorithmus zu, der sie quasi auserwählt und eben ­gesegnet hatte.

Die digitale Technik beeinflusst also nicht nur Glauben und Religion, sondern formt umgekehrt auch religiöse Sprache und religiöses Denken. 500 Jahre nach der Gutenberg-Revolution gilt dies noch immer. Die Digitalisierung beschleunigt das Entstehen von religiösen Bewegungen jeglicher Couleur. Laut Sabrina ­Müller ist deswegen die religiöse Bildung wesentlich, damit ­Leute im Dschungel der Ideen selbstbestimmt und vernünftig wählen können, was sie glauben – und was nicht.

Dieser leicht gekürzte Artikel erschien erstmals im «UZH Magazin 1/2023».