Religion und Technik sind eng miteinander verzahnt. Das zeigte sich schon vor 500 Jahren: Die Erfindung des Buchdrucks beflügelte die Reformation. Während zu jener Zeit die Menschen noch fleissig in die Kirche gingen, besuchen im 21. Jahrhundert immer weniger Leute Gottesdienste. Seit Jahrzehnten leeren sich die Kirchen.
Diese Entwicklung scheint der Säkularisierungsthese recht zu geben. Sie wird von Religionssoziologinnen vertreten und besagt, dass Glaube und Religion in der modernen, hochtechnologisierten Welt immer mehr an Bedeutung verlieren. Dem widerspricht die Theologin Sabrina Müller: «Menschen glauben heute nicht weniger. Das Bedürfnis nach Spiritualität nimmt nicht ab, es wird aber pluraler, diverser und individueller.» Müller ist Geschäftsführerin des Universitären Forschungsschwerpunktes «Digital Religion(s)» an der Universität Zürich und untersucht religiöse Bewegungen und Innovationen in der Kirche.
Laut Müller bauen sich viele ihre religiöse Identität nach eigenen Vorlieben zusammen. Und sie tun das immer öfter online. Zwar ist der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung von Lebensentwürfen schon länger zu beobachten; er setzte weit vor der Digitalisierung ein, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Die Onlinemedien haben ihn aber weiter beschleunigt. Das betrifft auch den Umgang mit Religion und Spiritualität.
Im religiösen Gemischtwarenladen
Online gibt es mittlerweile eine breite Palette von spirituellen und religiösen Angeboten. Von Gebet-Apps aller Konfessionen über spirituelle Podcasts bis zu Websites, die neben Achtsamkeitsübungen, Anleitungen zu Meditation und Yoga auch Predigten aller Art bieten. Die App Insight Timer etwa ist ein solcher spiritueller Online-Gemischtwarenladen.
Blogs, Videos und Podcasts findet man aber auch beim Reflab, hinter dem die Reformierte Kirche des Kanton Zürich seht. «Digitale Medien eröffnen ganze neue Möglichkeiten, sich inspirieren zu lassen», sagt Müller. «Ich kenne viele Menschen, die sich von überall Ideen und Glaubensinhalte nehmen, so dass sie sich keiner bestimmten Religion mehr zuordnen würden.» In den USA, wo die Theologin eine Zeitlang geforscht hat, könne man heute problemlos und glaubwürdig sagen: «I’m a christian-buddhist-moslem.»
Der Glaube steht im digitalen Zeitalter nicht mehr felsenfest und in Stein gemeisselt, sondern ist fluid geworden. «Vielen geht es nicht mehr um absolute Wahrheiten», sagt Müller, «sondern darum, was einem gerade hier und jetzt wichtig ist und was einem guttut.» Und das können eben Yogaübungen sein, aber auch aufmunternde Worte und inspirierende Gedanken.
Letztere werden online von religiösen «Sinnfluencerinnen» verbreitet. «Sinnfluencerinnen sind Influencerinnen, die Sinn generieren», sagt Müller. Mit regelmässigen Video-Blogs und Posts in den sozialen Medien erreichen sie ein wachsendes, vor allem auch jüngeres Publikum. So schart etwa die deutsche Pfarrerin Josefine Teske mit seligkeitsdinge.de eine Community von über 40 000 Followern um sich. Erfolgreich sind auch Ellen und Steffi. In ihrem viel genutzten Video-Blog Anders amen beschäftigt sich das lesbische Paar auf unterhaltsame Weise mit Lebens- und Glaubensangelegenheiten. Angestellt sind die beiden Frauen von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover als (Digital-)Pastorinnen.
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