Frau Famos, wir leben in bildmächtigen Zeiten. Als Präsidentin der Schweizer Reformierten verfügen Sie nicht einmal über den Titel einer Bischöfin. Wäre es nicht an der Zeit, dies zu ändern?
Sie meinen ein Amt mit viel Pomp, um sichtbarer zu sein ?
Es kann auch schlichter sein, Hauptsache erkennbar.
Eine Person, die allein und für alle klar erkennbar im Talar an der Spitze der Reformierten steht, das entspricht einfach nicht unserem Verständnis von Repräsentanz. Es ist gerade die Stärke der Reformierten, dass sie über verschiedene Köpfe in der Öffentlichkeit verfügen.
Aber können sich die Reformierten diese Unsichtbarkeit überhaupt noch leisten?
Ist diese Sichtbarkeits-Debatte nicht viel eher eine unter Journalisten ? Ich bin nun seit über neun Monaten Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. In dieser Zeit dachte ich noch kein einziges Mal: Schade, dass ich nicht Bischöfin bin. Als Präsidentin kann ich mich weder über mangelndes Medieninteresse beklagen noch über mangelnde Glaubwürdigkeit bei Zusammenkünften mit anderen Religionsvertretern. Ich kann darum in dieser Frage keine Dringlichkeit erkennen.
Unter Ihrem Vorgänger Gottfried Locher war sie das sehr wohl. Immer wieder wurden ihm Bischofsambitionen nachgesagt. Dann und wann trug er gar ein grosses Hugenottenkreuz. Irritierte Sie das?
Ich nahm es zur Kenntnis. Meine Art ist das nicht. Ich möchte nicht mit Insignien oder einem Titel öffentlich für die Reformierten auftreten, sondern mit meiner Person, meinen Überzeugungen und meinem Glauben. Rückblickend hat mich diese Episode aber etwas ganz anderes gelehrt.
Rita Famos, 55, ist die erste Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Für das Amt kandidierte sie erstmals 2018, unterlag damals aber gegen den zur Wiederwahl stehenden Amtsinhaber Gottfried Locher. Nach seinem Rücktritt trat sie Ende 2020 erneut an und setzte sich dabei gegen die Westschweizer Kandidatin Isabelle Graesslé durch. Famos studierte Theologie in Bern, Halle (DDR) und Richmond (USA) und arbeitete nach ihrer Ordination als Pfarrerin in Zürich und in Uster ZH. Zudem war sie Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz, in der Fragen der Ökumene verhandelt werden. Bis zu ihrem Amtsantritt am 1. Januar leitete sie die Abteilung Spezialseelsorge der reformierten Kirche des Kantons Zürichs. Famos ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Was?
Über welche Kraft die demokratische Tradition der Reformierten verfügt. Ein Präsident kann das Amt nicht gegen den Willen der Institution ausreizen oder umgestalten. Seine Macht ist beschränkt. Ganz egal, wie er bei den Menschen und den Medien ankommt. Bei den Reformierten geht es nur im Miteinander. Zuhören, unterschiedliche Meinungen integrieren und dann Position beziehen, dafür wurde ich gewählt.
Das klingt nach verwalten statt gestalten.
Das eine bedingt das andere. Ideen zu lancieren, den Rahmen für die Diskussion darüber zu gewährleisten, das sehe ich als Führungsaufgabe von mir als Präsidentin.
Mit rund zwei Millionen Mitgliedern sind die Reformierten die zweitgrösste Konfession im Land, Tendenz sinkend. Wo steht die Kirche unter Ihnen in fünf Jahren?
Sehen Sie, das ist eben der Unterschied: Diese Kirche steht nicht unter mir. Unsere Kraft ist nicht die Grösse, sondern das, wofür wir stehen. Dazu gehört eben auch, dass wir an der Spitze keine Bischöfin kennen, Frauen und Männer Zugang zu allen Ämtern haben und Diversität nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Unsere Theologie muss Teil der Gesellschaft sein. Das hat sich gerade bei der Abstimmung zur «Ehe für alle» gezeigt. Da haben wir zuerst darüber gestritten, um im Anschluss öffentlich Position zu beziehen. Kurz : Die Reformierten sind eine moderne Religionsgemeinschaft. Dieses Profil möchte ich in fünf Jahre besser geschärft wissen.
Das dürfte schwierig werden. Unter dem Dach der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz sammeln sich sehr unterschiedliche Kirchen. Moderne, aber auch sehr konservative.
Diese Verschiedenheit ist anspruchsvoll, einverstanden. Die theologischen Ausprägungen innerhalb der Reformierten beugen aber auch einer Ghettobildung vor. Sie zwingen uns, über theologische, wissenschaftliche und gesamtgesellschaftliche Fragen zu debattieren.
Welche rote Linie darf eine Kirchgemeinde nicht überschreiten, um Teil der Reformierten zu sein?
Die Menschenwürde ist der Zielpunkt des Evangeliums, gilt für alle und ist nicht verhandelbar. Wer sie nicht achtet, hat keinen Platz bei den Reformierten.
«Sehr lange gab es Menschen in der Kirche, die Theologinnen nur in der Rolle einer Hilfskraft akzeptierten.»
Ein bisschen konkreter: ein Pfarrer, der die Lebensweise homosexueller Menschen als Sünde sieht.
Das geht nicht, weil er diese Menschen in ihrem Innersten abwertet. Ein reformierter Pfarrer verfügt mit seinem Studium über eine akademische Ausbildung an einer Universität, die von der Öffentlichkeit finanziert wird. Wenn er nun Homosexualität als Sünde sieht, dann missachtet er letztlich auch das wissenschaftliche Fundament, auf dem die reformierte Theologie steht. Seelsorge im Verständnis von reformierter Theologie könnte er somit nicht mehr leisten und müsste entsprechende Konsequenzen ziehen.
Wie war das?
Aufregend und überwältigend. Es war, als würden sich mir auf einen Schlag Türen zu Welten öffnen, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Und plötzlich all diese existenziellen Fragen! Frieden, Umwelt, Frauen, Geschlechter. In Bezug auf Homosexualität geschah dies übrigens, als ich beim legendären Hermann Ringeling in der Vorlesung sass. Der Professor vermittelte uns das ganze wissenschaftliche und theologische Fundament. Homosexualität und Schöpfung beispielsweise, aber auch rechtliche Aspekte. Dass der Staat homosexuelle Gemeinschaften nicht in der gleichen Form schützt, wie er das bei der Ehe tut, fand ich immer ungerecht. So richtig verstanden habe ich das alles aber erst, als in meinem Freundeskreis einer sagte: «Ich bin schwul, fromm und will heiraten.» Heute weiss ich, dass Lesben und Schwulen über Jahrzehnte viele Verletzungen widerfahren sind. Von der Gesellschaft, vom Staat, aber auch von der Kirche.
Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz hat sich für die «Ehe für alle» ausgesprochen. Das wirkte fortschrittlich, dabei tat sie es zu einer Zeit, als längst klar war, dass eine satte Mehrheit der Stimmbevölkerung kein Problem mit der Öffnung der Ehe für alle hatte. Das nächste grosse Thema wird die Klimafrage sein. Warum wagt es die Kirche nicht einfach mal, Vorreiterin zu sein?
Das war sie immer wieder. Meistens nicht auf der grossen Bühne, aber doch wirksam. So hatte der Berner Pfarrer Klaus Bäumlin bereits Mitte der 90er Jahre einen öffentlichen Segnungsgottesdienst zweier homosexueller Männer durchgeführt – Jahre bevor die politische Debatte über eine eingetragene Partnerschaft ins Rollen kam. Zur Klimafrage: Bereits in den 80er Jahren nahm ich in Basel an einer europäischen Ökumene-Konferenz zum Thema «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung» teil. Ich erinnere mich, dass im Schlussdokument gar eine «ökologische Weltordnung» gefordert wurde. Oder dann auch die vielen Kirchgemeinden, die mit dem «Grüne Güggel»-Zertifikat regelmässig Bericht über ihren Umgang mit der Umwelt ablegen. Sie sehen: Die Klimafrage beschäftigt die Kirche schon sehr lange.
Mutig wäre doch, sich heute nicht nur damit zu beschäftigen, sondern klar Stellung zu beziehen.
Beispielsweise ?
Indem sich die Kirche öffentlich zur Klimajugend bekennt, ihr die kirchliche Infrastruktur anbietet und sich mit dem Anliegen solidarisch zeigt.
Und genau das ist auch geschehen. Eine Kirchgemeinde in der Stadt Zürich hat das getan. Gut möglich, dass in Zukunft auch andere diesem Beispiel folgen werden.
Eine Pfarrerin, welche die «Ehe für alle» ablehnt und sie deshalb auch nicht kirchlich vollziehen möchte.
Das müssen wir akzeptieren und zugleich hoffen, dass Menschen für Transformationen verschieden viel Zeit brauchen. Nehmen Sie als Beispiel die Frauenordination : Sehr lange gab es Menschen in der Kirche, die Theologinnen nur in der Rolle einer Hilfskraft akzeptierten, keinesfalls aber als Pfarrerin. Für reformierte Ohren hört sich das heute wie eine Erzählung aus dem Geschichtsbuch an. Ich bin mir deshalb ziemlich sicher, dass in zwanzig Jahren auch die kirchliche Ehe für alle selbstverständlich sein wird.
Ende September stimmten rund 64 Prozent für die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare. Hat Sie dieses klare Ja überrascht?
Nein. Ich ging davon aus, dass sie mit einem sehr klaren Resultat durchkommen wird.
Angenommen, über die «Ehe für alle» wäre in den 90er Jahren abgestimmt worden, hätten Sie als junge Pfarrerin ein Ja in die Urne gelegt?
Ob homosexuelle Segnungsfeier oder heterosexuelle Hochzeit: Ich freute mich immer, wenn zwei liebende Menschen füreinander da sein wollten und das vor Gott bezeugten. Aber ob ich gleich für eine «Ehe für alle» gestimmt hätte ? Ich weiss es nicht – auch wenn ich das heute gerne sagen würde.
Wie meinen Sie das?
Es ist einfach, sich im nachhinein mit Fortschrittlichkeit zu schmücken. Gerade Debatten wie jene um die «Ehe für alle» zeigen gut, wie wir geprägt sind von eigenen Erfahrungen und Entwicklungen.
Wie waren diese bei Ihnen in Bezug auf die «Ehe für alle»?
Ich bin in den 70er Jahren auf dem Land im Kanton Bern aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend. Kindheit und Jugend waren geprägt davon, als familiärer Sonderfall möglichst nicht aufzufallen und keine Fehler zu machen. Man stand schliesslich unter Beobachtung. Was ich sagen will: Mein Kosmos war klein, andere Lebensrealitäten sehr weit weg. Erst im Theologiestudium in Bern entdeckte ich die Vielfalt dieser Welt.
«Mit dem Evangelium als Grundlage ist Kirche per se politisch.»
Eine Kirchgemeinde, die sich nicht vom Parteibüro der Grünen unterscheidet — würde Sie das stören?
Natürlich. Eine vom biblischen Zeugnis entkernte Gemeinde macht sich überflüssig. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie politisch Kirche sein darf oder soll. Klar ist: Mit dem Evangelium als Grundlage ist sie es per se, ebenso als Teil der Polis. Aber halten wir es auch aus, wenn eine Christin zu einer völlig anderen Meinung kommt, obschon sie sich auch auf das Evangelium beruft?
Die römische Kurie hat in den vergangenen Jahren unmissverständlich klargemacht, dass sie über nichts weniger als die Wahrheit verfügt. Müssten an diesem Punkt die Beziehungen nicht abgebrochen werden?
Natürlich ist das mit der Wahrheit eine Herausforderung. Wir Reformierte glauben: Keine Kirche verfügt allein über die Wahrheit. Vergessen Sie aber nicht, dass auch wir eine Herausforderung für die Katholiken sind. Bekanntlich hat die katholische Kirche eine sehr klare Vorstellung davon, welche Rolle die Frau einzunehmen hat. Nun aber stellen Katholikinnen Forderungen. Sie sehen bei uns, dass es auch anders geht. Gut so! Die Solidarität von uns Reformierten ist ihnen sicher.
Unvereinbar scheinen auch die unterschiedlichen Deutungen des Abendmahls. Darin macht die katholische Kirche deutlich, dass die evangelischen Kirchen keine richtigen seien.
Die Abendmahl-Debatte ist tatsächlich ausgereizt. Wir sollten sie einige Zeit auf Eis legen. Denn meist kommt Bewegung in eine verfahrene Situation, wenn niemand mehr damit rechnet.
Was ist eigentlich das Ziel von Ökumene?
Dass wir uns fordern und ergänzen. Auf lange Sicht sind Monokulturen nie gut und auch ziemlich langweilig.
Ich dachte, es sei die Einheit der Kirche.
Höchstens Einheit in der Vielfalt. Im Einheitsbrei sehe ich nicht die ökumenische Kraft.
Sondern?
Der Geist der Ökumene wächst an der Basis und findet gerade jetzt in der ganzen Schweiz statt: in Familien, im Freundeskreis, aber auch in Spitälern, Gefängnissen, Kirchgemeinden und Pfarreien. Also überall dort, wo gemeinsam unser Glaube gelebt wird. Damit ist die Ökumene sehr viel näher an der Einheit der Kirche dran, als es die theologischen Debatten wohl je sein werden.
Die Reformierten der Schweiz beschäftigen sich seit Jahren mit Ihrem Vorgänger Gottfried Locher. Dieser pflegte über Jahre eine Beziehung mit einer Ratskollegin, ohne die anderen Exekutivmitglieder darüber zu informieren. Nachdem das Verhältnis publik geworden war und Grenzverletzungsvorwürfe im Raum standen, trat er zurück. Nervt es Sie, dass er noch immer so präsent ist?
Meine Befindlichkeit in diesem Zusammenhang ist unwichtig. Als Präsidentin besteht meine Aufgabe darin, die Ereignisse von damals so aufzuarbeiten, dass sie sich nicht wiederholen können.
Anfang September hatte eine Untersuchungskommission im Kirchenparlament ihren Bericht präsentiert, der die Vorwürfe gegen Gottfried Locher untersucht hatte. Der Bericht der Anwaltskanzlei blieb aber unter Verschluss. Warum diese Geheimniskrämerei?
Weil dieser Entscheid alle Beteiligten schützt – und da meine ich wirklich alle. Einblick hatten nur eine Handvoll Personen. Die Untersuchungskommission, der Rat als Exekutive und die Anwaltskanzlei, die den Bericht erstellt hatte.
Auf was wollen Sie hinaus?
Ich wünschte mir ein grösseres Bewusstsein dafür, dass die Probleme auf dieser Welt komplex sind. Es ist einfach, lautstark moralische Forderungen zu stellen. Um beim Klima zu bleiben: Ja, es ändert sich, und ja, wir Menschen sind dafür verantwortlich. Trotzdem müssen die Lösungen innerhalb des demokratischen Prozesses gesucht werden und dürfen Menschen durch vorschnelle Massnahmen nicht in Not kommen. Es nützt niemandem etwas, wenn die Gesellschaft zerbricht.
Jetzt sprechen Sie wie eine Vertreterin der FDP. Müssten Sie als Präsidentin der Reformierten nicht prophetischer sein?
Es ist eben auch prophetisch, sich nicht einzig der apokalyptischen Stimmung hinzugeben. Genau das tut die Kirche: Sie stellt der Angst und Ohnmacht das Grundvertrauen in Gott gegenüber. Die Propheten haben immer auch die Fahne der Hoffnung hochgehalten.
Die Welt in Gottes Hand — und deshalb muss der Einzelne auch nicht die Welt retten: Ist das nicht billig?
Das ist nicht billig, sondern reformiert. Das Evangelium entlastet uns, noch bevor wir handeln, Gutes tun oder wissen, was zu tun ist. Es befreit uns, das Richtige und nicht nur das Angesagte zu tun.
Was halten Sie eigentlich von der These, dass die Reformatoren und ihr Wunsch nach Freiheit im Glauben selbst dafür gesorgt haben, dass die Kirche sich irgendwann einmal abschafft?
Nicht viel. In der Reformation nach Erklärungen suchen, weshalb Kirchen in unserem Raum an Bedeutung verlieren, das ergibt wenig Sinn. Nur schon weil unser modernes Verständnis von Freiheit ein ganz anderes ist als jenes der Reformatoren vor 500 Jahren. Viel interessanter ist doch, wie die Reformation im Laufe der Zeit die Gesellschaft geprägt hat.
Wo hat sie das?
Das Bildungswesen und die Ausgestaltung des demokratischen Systems sind eine Folge der Reformation. Und auch die katholische Kirche in der Schweiz ist dadurch eine andere und wohl auch offenere geworden, als dies beispielsweise in Österreich oder Italien der Fall ist. Solche Prozesse wirken aber immer auf beide Seiten, sind nie abgeschlossen und haben auch uns Reformierte verändert.
Inwiefern haben die Katholiken die Reformierten verändert?
Die katholische Kirche ist eine Meisterin in der Materialisierung von Glauben. Spuren davon haben auch Eingang in unsere Kirchen gefunden. Eine Kerze anzünden und von ihrem Licht umgeben zu sein ist einfach schön – sosehr mir die reformierte Tradition der Vergeistlichung gefällt. Und in einer Zeit, in der sich die Reformierten ganz an der Schrift orientieren wollten, haben die Katholiken uns daran erinnert, dass auch die Auslegung der Bibel einer Tradition folgt.
Im Miteinander von Katholiken und Reformierten gab es auch schon bessere Zeiten. Täuscht dieser Eindruck?
Nach vielen Jahren des Aufbruchs hat sich tatsächlich eine gewisse Ernüchterung breitgemacht. Die abwertenden Verlautbarungen aus Rom zu den evangelischen Kirchen sind nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen, die sich jahrelang für die Ökumene starkgemacht haben.

Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Herbst 2021.
Man hätte den rund 200seitigen Bericht doch auch geschwärzt vorlegen können.
Das hätte keinen Unterschied gemacht. Viele Personen sind bekannt. Wenn nicht öffentlich, dann hinter vorgehaltener Hand. Bedenken Sie: Der Bericht enthält Gespräche, welche die Intimsphäre betreffen. Es sind also höchstpersönliche Aussagen, die nicht publiziert werden dürfen.
Was werfen die Autorinnen und Autoren des Berichts Gottfried Locher genau vor?
Verletzungen im Bereich der psychischen, physischen und spirituellen Identität.
Und was heisst das genau?
Bitte verstehen Sie, dass ich darauf keine Antwort geben kann, da ich sonst die Privatsphäre der Beteiligten verletzen würde. Ich sage aber deutlich: Bei Grenzverletzungen gilt die Nulltoleranz. Geschehen diese in meinem Zuständigkeitsgebiet, also bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Ratsmitgliedern oder Gremien der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, dann handle ich. Und ich werde alles Nötige tun, dass das Thema auch in den einzelnen Kirchen die nötige Aufmerksamkeit erfährt. Grenzverletzungen müssen überall und ohne Wenn und Aber geahndet werden. Sei es in der Seelsorge, in der Diakonie oder in einem Arbeitsverhältnis.
Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass es nie eine Anzeige oder ein strafrechtliches Verfahren gegen Gottfried Locher gab. Es heisst, dass der Bericht einzig zum Ziel hatte, einen Scheinprozess gegen ihn zu führen.
Der Vorwurf eines Scheinprozesses ist falsch. Fakt ist: Wir haben eine interne Untersuchung durchgeführt, wie das alle öffentlichen Institutionen, Firmen und Organisationen in solch einem Fall tun. Dazu waren wir als Arbeitgeberin aus rechtlichen Gründen verpflichtet, nachdem von einer früheren Mitarbeiterin eine Beschwerde wegen Grenzverletzungen gegen den früheren Präsidenten eingereicht worden war.
«Gottfried Locher hatte mehrmals die Möglichkeit, seine Version der Geschichte in die Untersuchung einzubringen.»
Wie lief diese Untersuchung ab?
Eine auf solche Fälle spezialisierte Kanzlei sammelte zuerst unvoreingenommen alle verfügbaren Informationen. Dazu gehörten auch ausführliche Befragungen. Danach wurden Plausibilitäten geprüft und Einschätzungen vorgenommen. Am Ende fügten sich die vielen Teile zu einem Ganzen zusammen, das die Beschwerde stützte. In dieser Untersuchung ging es aber nicht nur um die Glaubwürdigkeit der Beschwerde, sondern auch um das Verhalten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Der Bericht enthält darum auch 17 Empfehlungen wie zwei externe Ombudsstellen einrichten oder einen für alle verbindlichen Ethikkodex erarbeiten. Das gehen wir nun an.
Gottfried Locher als Beschuldigter stand für eine Befragung nicht zur Verfügung. Haben Sie eine Ahnung, warum?
Nein, das müssten Sie ihn fragen. Er wurde mehrfach und auf verschiedenen Wegen kontaktiert. Weder hat er eingeschriebene Briefe abgeholt, noch wurden Telefonate beantwortet. Jeder Kontaktversuch verlief im Sand. Dass ohne Anhörung des Beschuldigten nun solch ein Bericht vorgelegt wurde, hinterlässt ein seltsames Gefühl. Man hat ein Recht auf Anhörung. Es besteht aber keine Pflicht, Red und Antwort zu stehen. Gottfried Locher hatte mehrmals die Möglichkeit, seine Version der Geschichte in die Untersuchung einzubringen. Das rechtliche Gehör wurde ihm jederzeit gewährt. Seinen Entscheid, nicht mitzuwirken, gilt es zu akzeptieren. Ich hätte es mir anders gewünscht.
Kurz vor der Behandlung des Berichts in der Synode wandte sich die Ehefrau des früheren Präsidenten mit einem Brief an einige Mitglieder des Kirchenparlaments. Darin machte sie deutlich, was für dramatische Auswirkungen die Untersuchung auf ihre Familie bis heute hat. Was dachten Sie beim Lesen dieser Zeilen?
Ich war betroffen. Es macht mich traurig, überall diese Verletzungen zu spüren. Bei den Familienangehörigen, aber auch bei der Beschwerdeführerin und weiteren involvierten Personen. Ich war aber auch befremdet, dass nun plötzlich die Ehefrau ihre Sicht der Dinge darlegt, nachdem ihr Mann sich der Untersuchung entzogen hatte.
Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass diese Machenschaften seit Jahren in der Kirche bekannt waren, aber alle geschwiegen haben?
Es wäre anmassend, als Präsidentin diese Frage zum heutigen Zeitpunkt abschliessend zu beantworten. Es trugen viele Faktoren dazu bei, dass es zu dieser Untersuchung kommen musste.
Können Sie einige nennen?
Menschliches Versagen, schwache Strukturen, Überforderung, Ängste – und nicht zuletzt die Befürchtung, man könnte Menschen und der Kirche schaden.
Einige, die sich damals für den Präsidenten starkgemacht hatten und Teil von dem nun untersuchten System waren, sitzen heute noch in den Behörden der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Wie begegnen Sie diesen?
So, wie ich mir auch wünsche, dass man mir begegnet: dass wir uns zugestehen, Fehler machen zu dürfen.
Kein Misstrauen, keine Genugtuung? Schliesslich waren Sie es, die sich mit Ihrer ersten Kandidatur vor drei Jahren als erste Person öffentlich hingestellt und auf unheilvolle Entwicklungen hingewiesen haben.
Nein. Vielleicht auch, weil ich frühere Ereignisse nie persönlich genommen habe. Ich wollte mit meiner Kandidatur ein Zeichen setzen, im Sinne von: Hier laufen Dinge, die nicht gut sind – schaut bitte hin, der Kirche und ihren Menschen zuliebe! Als Mensch mit einigen Lebensjahren weiss ich aber auch: Wir alle straucheln, scheitern und wollen manchmal etwas nicht wahrhaben, weil es nicht sein darf. Umso mehr muss jedem die Einsicht zugestanden werden, aufgrund neuer Erkenntnisse seine Sicht auf Dinge zu ändern.
Sind das jetzt nicht gar salbungsvolle Worte in Anbetracht dessen, was die reformierte Kirchenpolitik in den vergangenen Jahren alles so hervorgebracht hat?
Nennen Sie meine Worte salbungsvoll, letztlich stehen sie für das, woran ich glaube. Nur mit einer offenen Kommunikation können wir miteinander Kirche sein. Es gilt wieder eine Kultur des Vertrauens aufzubauen – und das im Wissen, dass es wieder zu Streitereien kommen wird. Dafür wird nur schon die protestantische DNA sorgen. Es müssen sich künftig aber alle sicher sein können, dass sie bei Grenzüberschreitungen nicht auf eine Institution treffen, die sich mauernd, zögerlich oder lange Zeit gar nicht verhält.