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Autorin: Vanessa Buff
Freitag, 19. Oktober 2018

Frau Camichel Bromeis, wir haben uns zum Gespräch in Chur getroffen, wo sich auch der Sitz von Bischof Huonder befindet. Er ist bekannt für seine konservativen Ansichten, gilt vielen als katholischer Hardliner. Was bedeutet das eigentlich für die Reformierten in Graubünden?

Cornelia Camichel Bromeis Unter Bischof Huonder ist Ökumene unmöglich geworden. Es gibt beispielsweise keine Trauungen mehr, die von reformierten Pfarrerinnen und katholischen Geistlichen gemeinsam geleitet werden. Den Katholiken, die es dennoch versuchen, droht der Entzug der Missio, also der bischöflichen Beauftragung.

Woher wissen Sie das?

Cornelia Camichel Bromeis Aus jahrelanger Beobachtung und von Priestern selber, die an einen Übertritt gedacht haben. Bei ihren Geschichten kommt eine Geringschätzung durch das Bistum Chur zum Ausdruck, die auch bei mir einen schon fast körperlichen Schmerz auslöst.

Welche Rolle spielt es für die Zusammenarbeit von Reformierten und Katholiken, dass Sie als Dekanin eine Frau sind?

Cornelia Camichel Bromeis Das Geschlecht spielt auch eine Rolle. In meinem ersten Amtsjahr haben wir als Reformierte Kirche eine Weihnachtskarte von Bischof Huonder erhalten, die Josef, Maria und das Jesuskind auf der Flucht nach Ägypten zeigt. Josef schreitet vorweg, Maria mit dem Neugeborenen folgt. Und der Bischof schrieb sinngemäss dazu: Gerade in einer solch turbulenten Zeit wünscht man sich einen Mann wie Josef, der vorangeht.

Wie haben Sie das interpretiert?

Cornelia Camichel Bromeis Das konnte nur ein Seitenhieb auf unsere Kirche gewesen sein, die erstmals eine Frau in die theologische Leitung gewählt hatte.

Ingrid Grave Klingt für mich leider völlig schlüssig. Das Bistum Chur steht beispielhaft für alles, was schiefläuft in der katholischen Kirche. Da geht es um Männer, die ihre Seilschaften pflegen und so die Festung halten. Das Schlimme daran ist, dass sie auch junge Leute nachziehen, die so denken wie sie. Das sieht man gerade im Bündner Oberland sehr gut. Die Priester, die in den Pfarreien eingesetzt werden, sind total reaktionär. Eine Katastrophe.

1937 in Norddeutschland geboren, liess sich Ingrid Grave nach der Schule zur Lehrerin ausbilden. Mit 23 Jahren trat sie — zum Erstaunen ihrer Freundinnen, wie sie selber sagt — ins Kloster der Dominikanerinnen in Ilanz GR ein. Einem breiten Publikum bekannt ist Grave aus dem Fernsehen: Von 1994 bis 2000 moderierte sie die sonntäglichen Sternstunden von Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Anschliessend war sie zwei Jahre Sprecherin des Worts zum Sonntag. Heute ist Ingrid Grave in Zürich in den Bereichen Seelsorge und Ökumene tätig. vbu

Zweisprachig im bündnerischen Tiefencastel aufgewachsen, besuchte Cornelia Camichel Bromeis, geboren 1970, die romanische Abteilung des Lehrerseminars in Chur. Auf dem zweiten Bildungsweg studierte sie Theologie in Basel, Bern und Freiburg i.B. Von 2000 bis 2011 war sie Pfarrerin in Chur, anschliessend in Davos Platz. Seit 2014 ist sie ausserdem Dekanin der Evangelisch-reformierten Landeskirche Graubünden sowie Vizepräsidentin des Kirchenrats. Camichel Bromeis ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. vbu

Können Sie das ausführen?

Ingrid Grave Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Rahmen des 150-Jahr-Jubiläums des Klosters Ilanz vor vier Jahren wollten wir auch im Herkunftsort unseres Gründers einen Gottesdienst feiern. Für den Priester im Dorf war aber völlig klar, dass nur er sprechen würde – Predigt, Lesung, all diese Dinge. Ich sollte damals mit ihm darüber verhandeln, dass wir Schwestern den Gottesdienst aktiver mitgestalten wollten, doch ich merkte rasch, dass das keinen Sinn hatte. Er war unfähig, mich auch nur anzuschauen.

Frauen dürfen in der katholischen Kirche nun mal nicht predigen.

Ingrid Grave Es stimmt, Frauen ist der Zugang zu den meisten Ämtern noch immer verwehrt. Doch theologisch begründen lässt sich das nicht. Nirgendwo in der Bibel steht, dass Jesus Männer um sich sammelte und sie zu Priestern machte. Auch finden Sie keine Bibelstelle, wo Jesus Frauen verstösst. Selbst als ihm eine Ehebrecherin vorgeführt wird, kritisiert er sie nicht, stellt sie nicht bloss oder schickt sie gar weg. Er sagt lediglich: Sündige nicht mehr. Hier haben die Theologen in den vergangenen Jahrhunderten grosse Fehler gemacht, indem sie die biblischen Texte zu ihren Gunsten ausgelegt haben. Um ihre eigenen Machtpositionen in der Kirche zu festigen. Das werden sie irgendwann zugeben müssen.

Es gibt aber keine Anzeichen, dass dies bald geschieht.

Ingrid Grave Na, ich werde es sicher nicht mehr erleben. Aber sehen Sie: Ich bin ein Maulwurf. Ein Maulwurf gräbt sich durch den Untergrund und stösst dadurch etwas hoch an die Oberfläche. Und irgendwann wird es so viele Maulwurfshügel geben, dass die Kirche nicht mehr um sie herumkommt.

Frau Camichel Bromeis, bei den Reformierten sind Frauen und Männer gleichgestellt. Wie wirkt sich das konkret im Alltag aus?

Cornelia Camichel Bromeis Die Menschen können selber entscheiden, ob sie mit einem Anliegen zu einem Mann oder einer Frau in der Kirche gehen möchten, genau wie bei einer Ärztin oder einem Therapeuten. Ausserdem sind reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer in den verschiedensten Lebensmodellen anzutreffen, wie überhaupt die Menschen in der gesamten Gesellschaft. Allerdings brauchen wir uns nicht einzubilden, dass in Sachen Gleichstellung alles gut wäre bei den Reformierten.

Sie sehen Nachholbedarf?

Cornelia Camichel Bromeis Ich sehe sogar einen ziemlichen Veränderungsbedarf. Die Vorfälle um die Wiederwahl von Gottfried Locher als Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes gaben mir beispielsweise sehr zu denken.

Inwiefern?

Cornelia Camichel Bromeis Dass mit der Gegenkandidatur von Rita Famos die Chance nicht genutzt wurde, über die Zukunft der neuen Evangelischen Kirche Schweiz zu reden. Stattdessen war von Verschwörungstheorien die Rede. Ich hielt die Gegenkandidatur aber immer für legitim, zumal sie ja auch im Rahmen der Reglemente des Kirchenbundes war. Doch es kandidierte eine Frau, und offenbar war das ein zusätzliches Problem. Das zeigt: Gleichstellung bedeutet eben nicht, dass man in ein bestehendes System Frauen einfügen und dann meinen kann, alles laufe gleich weiter wie bisher.

Sondern?

Cornelia Camichel Bromeis Gleichstellung bedeutet, dass wir die patriarchale Gesellschaftsform, in der wir immer noch leben, als solche erkennen und bereit sind, neue Formen zu entwickeln. Das Patriarchat ist ja ein duales System: Die wenigen Herren oben, die vielen Sklaven unten. Auf jeder Ebene gibt es auch Frauen, einfach eine Stufe unter den Männern.

«Das Patriarchat lässt die Drecksarbeit immer von Menschen erledigen, die in der Hierarchie unten stehen.» Cornelia Camichel Bromeis

Sie sprechen von Sklaven — das müssen Sie ausführen.

Cornelia Camichel Bromeis Wenn Herr und Frau Schweizer aus Kostengründen für die Rundum-Betreuung des pflegebedürftigen Vaters zuhause eine Irina aus Kiew anstellen und sie dann, sobald es versicherungsrelevant wird, durch eine Larissa aus Moldawien ersetzen, ist das moderne Sklaverei. Das ist Denken in einem Oben-unten-Schema. Auch Waffen in Bürgerkriegsländer zu liefern ist patriarchales Herrschaftsdenken.

Waffenlieferungen als Mann-Frau-Thema?

Cornelia Camichel Bromeis Das meine ich doch: Gleichstellung ist eben mehr als ein Mann-Frau-Thema. Das Patriarchat lässt die Drecksarbeit immer von Menschen erledigen, die in der Hierarchie unten stehen. Im Krieg werden Männer als Kanonenfutter missbraucht, und Vergewaltigungen von Frauen werden als Kollateralschaden akzeptiert. Und die Herrschaftsschicht in der Schweiz wäscht sich die Hände in Unschuld. So gesehen können wir Waffenlieferungen schlicht nicht gutheissen. Die formale Gleichstellung von Mann und Frau in der reformierten Kirche bedeutet also noch nicht, dass damit auch dieses System aufgelöst wird, dass wirklich alle Menschen gleichberechtigt sind. Als Kirche hätten wir aber den Auftrag, genau das anzustreben und die zugrundeliegenden Menschenbilder zu hinterfragen: Sind denn wirklich alle Menschen Ebenbild Gottes – und was heisst das für unsere Gesellschaft?

Und was ist Ihre Antwort auf die Frage?

Cornelia Camichel Bromeis Die ist für mich klar: Es gilt neue Gesellschaftsformen zu entwerfen. Das Patriarchat hat ausgedient. Der Widerstand dagegen tobt schon länger, mit unbestimmten Folgen.

Nochmals zurück zu den konkreten Auswirkungen von Gleichstellung. Die katholische Theologin Monika Schmid sagte unlängst in der SRF-Sendung Club, dass der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche wohl kaum so ausgeartet wäre, wenn Frauen Zugang zu allen Ämtern hätten. Teilen Sie diese Einschätzung, Frau Grave?

Ingrid Grave Ich denke tatsächlich, dass sich dadurch viel Missbrauch verhindern liesse. Aber wir dürfen nicht den Fehler begehen, zu denken, wenn Frauen gleichberechtigt sind, wird alles gut. Auch Frauen sind nur Menschen.

Cornelia Camichel Bromeis Das sieht man ja bei uns, auch bei den Reformierten gibt es Übergriffe.

Ingrid Grave Und dennoch: So schlimm, wie sich jetzt zeigt, wäre der Missbrauch wohl nicht geworden. Alleine schon deshalb, weil Frauen sehr viel seltener Täter sind als Männer.

Ingrid Grave

Gleichzeitig weiss man aus dem Familienkontext, dass Frauen Missbrauch zumindest ermöglichen, indem sie entweder wegschauen oder ihn aktiv decken.

Cornelia Camichel Bromeis Das ist aber ein Totschlag-Argument: Weil es mit den Frauen auch nicht perfekt läuft, soll man sie erst gar nicht einbeziehen? Frauen sind keine Überwesen, die alles besser können. Aber auf ihr Wissen und ihre Erfahrung zu verzichten, ist trotzdem falsch. Wir müssen endlich miteinander danach fragen, was allen Menschen dient.

Ingrid Grave Und das ist leider bei den Reformierten wie den Katholiken gleich: Beide Kirchen sind totale Männerdomänen. Bei den einen ist es einfach etwas offensichtlicher als bei den anderen.

Kirche als Männerdomäne — ein Beispiel, bitte.

Ingrid Grave Fairerweise muss ich vorausschicken, dass es auch in der katholischen Kirche Männer gibt, die in diesem Punkt fortschrittlich denken. Doch dann gibt es eben auch solche, für die beispielsweise völlig klar ist, dass die Frau den Kaffee serviert oder die Unterlagen für die Sitzung kopiert. Oft wird das mit einem Kompliment verbunden: Du kannst das ja so gut – und dann setzt er sich aufs Sofa, während ich erledigen darf, wozu er keine Lust hat. Auch wenn das überhaupt nicht meine Aufgabe ist. Damit zeigt der Mann sich grosszügig: Ich habe ja gar nichts gegen Frauen, Frauen sind so wichtig, wo wären wir nur ohne sie. Und er merkt nicht, dass er sich damit einfach aus der Affäre zieht.

Wie reagieren Sie in einer solchen Situation?

Ingrid Grave Meistens kopiere ich dann halt diese Unterlagen, weigere mich aber nachher, wieder mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. So versuche ich mich zu wehren. Der Punkt ist allerdings schon: Auch ich als Frau muss mich in so einem Moment hinterfragen. Bediene ich die Herren vielleicht gerne, weil ich dadurch eine Form von Anerkennung erhalte, während die andere Frau, die sich weigert, die böse Emanze ist? Ein Patriarchat besteht ja nicht nur aus Männern – wir sind alle Teil dieses Systems, sind über Jahrhunderte geprägt und müssen an uns selber arbeiten, wenn wir etwas daran verändern wollen.

Frau Camichel Bromeis, kennen Sie solche Situationen ebenfalls aus Ihrem Berufsleben?

Cornelia Camichel Bromeis Meistens fühle ich mich in meinem beruflichen Umfeld wohl, da sind Männer und Frauen gleichberechtigt, und alle sind sich dessen bewusst. Es gibt aber auch andere Situationen. Spreche ich etwa strukturelle Ungerechtigkeiten an, fühle ich mich schon fast als «gefährlich» wahrgenommen. Wenn man diese Meinung dann nicht mehr argumentativ zunichtemachen kann, fängt die Kritik auf einer anderen Ebene an.

Was meinen Sie damit?

Cornelia Camichel Bromeis Da kann mir dann zum Beispiel einer sagen, ich sei nun aber ganz schön emotional und ich solle doch bitte sachlich bleiben. Besonders abwegig wird es, wenn so eine Äusserung von einem Mann kommt, der selbst für sein Temperament bekannt ist und der gerne einmal die Contenance verliert. In solchen Situationen frage ich mich dann schon, warum ein Mann mich runtermachen muss, statt die Emotionalität zu akzeptieren – meine und auch seine eigene. Es braucht ziemlich viel, da drüberzustehen und sein Problem nicht wieder zu meinem werden zu lassen.

Ingrid Grave Dazu muss man wissen, wer man ist.

Einfacher gesagt als getan.

Ingrid Grave Ja, das muss man lernen, und man muss sich dazu immer wieder selber hinterfragen. Ich dachte zum Beispiel lange, wir Frauen im Orden seien in unserer Meinung gefestigt und würden dazu stehen – ich inklusive. Schliesslich geniessen wir Dominikanerinnen auch eine gewisse Narrenfreiheit. Wir sind ja nicht dem Bischof von Chur, sondern direkt Rom unterstellt. Und dennoch – wenn dann einmal ein Pater bei uns in der Runde sass, ertappte auch ich mich dabei, wie ich dachte: Ach ja, wenn der das sagt, dann wird es wohl stimmen. Hätte aber eine Mitschwester das Gleiche gesagt, hätte ich gefragt: Hast du das wirklich gut durchdacht? Wie kommst du darauf? Wo hast du das gelesen? Da wäre ich viel kritischer gewesen.

«Ich wusste immer, dass ich mich nicht einengen lassen, sondern mich weiterentwickeln wollte. Der Gang ins Kloster hat mir dabei geholfen.» Ingrid Grave

Wer Sie aus dem Fernsehen kennt, von Ihren Auftritten in der Arena oder aus der Sendung Sternstunden, kann sich kaum vorstellen, wie Sie einem Pater still zustimmend gegenübersitzen.

Ingrid Grave Zu dem Zeitpunkt, als ich mit Fernsehen angefangen habe, hatte ich aber bereits viel innere Freiheit gewonnen. Da war es mir wichtig, authentisch zu sein, zu dem zu stehen, was ich vermitteln wollte. Doch als ich 1960 ins Kloster eintrat, hatte ich dieses Bewusstsein noch nicht – dass ich jetzt mal so richtig auf die Pauke hauen würde.

Wie hat sich denn dieses Bewusstsein entwickelt?

Ingrid Grave Es war wohl einfach ein Weg, den ich gehen musste. Ich bin in einem stockkatholischen Dorf in der Nähe von Bremen aufgewachsen. Doch der Krieg wirbelte unsere Gesellschaft durcheinander. Die Männer waren an der Front, sie lagen gemeinsam in den Schützengräben, der eine katholisch, der andere protestantisch, der dritte gar nichts. Und als der Krieg zu Ende war, kamen die Flüchtlinge. Da wurde nicht gefragt «könnt ihr vielleicht welche aufnehmen», nein, da hiess es: «Am Bahnhof kommen Flüchtlinge an, und die werden jetzt verteilt, Punkt.» Die meisten Menschen, die da zu uns ins Dorf kamen, waren evangelisch, ihre Kinder besuchten mit uns die katholische Schule, und keiner fragte nach der Konfession. Das hat mich geprägt. Und mit diesem Gefühl bin ich auch ins Kloster eingetreten: Wir müssen doch zusammenarbeiten.

Fast sechzig Jahre später gestaltet sich diese Zusammenarbeit schwierig. Was treibt Sie an, dennoch weiterzumachen — und dabei auch Ihre eigene Kirche immer wieder zu kritisieren?

Ingrid Grave Das hat schon mit meiner Geschichte zu tun. Ich wusste immer, dass ich mich nicht einengen lassen, sondern mich weiterentwickeln wollte. Der Gang ins Kloster hat mir dabei geholfen. Auch da gab es natürlich engstirnige Leute, aber wir, die damals neu eintraten, waren die 68er-Generation, wenn man so will. Wir spürten viel Unmut und gleichzeitig einen grossen Willen zur Veränderung, was sich in Kämpfen innerhalb der Gemeinschaft niederschlug. Auch das Zweite Vatikanische Konzil, das in den sechziger Jahren eine Aufbruchstimmung auslöste, konnte nur stattfinden, weil in den Kirchen schon vieles vorbereitet war, an der Basis und in den Klöstern. Sie sehen also, zu der Zeit war unglaublich viel Bewegung. Ein Stück weit bin ich da wohl auch auf den fahrenden Zug aufgesprungen.

Stichwort Ökumene: Im Basler Münster haben Europas Protestanten kürzlich eine Absichtserklärung für einen Dialog mit dem Vatikan unterschrieben. Das ist doch ein hoffnungsvolles Zeichen.

Cornelia Camichel Bromeis Hoffnungsvoll ja, aber letztlich eine Ökumene zwischen Männern. Ich will da keine Energie investieren.

Ingrid Grave Ich sehe das ähnlich. Solche Begegnungen müssen stattfinden, aber die Weiterentwicklung davon geschieht an der Basis. Und ich persönlich will gar nicht in solche Gremien rein. Ich will Ökumene dort machen, wo ich lebe.

Cornelia Camichel Bromeis

Und wie sieht das konkret aus?

Ingrid Grave Wir haben in Zürich ein Projekt, wo wir einmal pro Monat in einer total gemischten Gruppe einen Gottesdienst abhalten. In dieser Runde ist auch ein Ehepaar dabei, dessen Geschichte exemplarisch dafür steht, was Ökumene erreichen kann. Diese beiden hatten nämlich eine Kirche gefunden, in der sie sich wohlfühlten und in der sie sich engagieren wollten. Doch dann kam es dort zu einem internen Konflikt. Das Paar war darüber so enttäuscht, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind. Aber in unserer Runde wollen sie bleiben. Sie wollen ihr Christentum leben, mit all ihren Fehlern – und darum geht es doch. Das ist auch so ein Maulwurfshaufen, der hochgestossen wurde.

Cornelia Camichel Bromeis Mir gefällt dieses Beispiel sehr gut. Ich möchte nämlich die Deutungsmacht darüber, was Ökumene ist oder sein soll, nicht nur Patriarchen überlassen. Denn für sie bedeutet Ökumene meist nur, wieder in den Schoss der einen, von ihnen als richtig interpretierten Kirche zurückzukehren. Ich selber deute das anders.

Wie denn? Was bedeutet Ökumene für Sie?

Cornelia Camichel Bromeis Wir alle haben Grundbedürfnisse, zu denen auch die Religion gehört oder zumindest die Sicherheit, einer Gemeinschaft anzugehören. Wo wir diese Bedürfnisse gleichberechtigt leben können, ist für mich Ökumene, ganz unabhängig von der Konfession oder Religion. Ich kann mich mit einer Muslimin tief verbunden fühlen, wenn wir zusammen ein Gebet sprechen oder das Fastenbrechen erleben.

Das klingt nun aber sehr allgemein. Was braucht es, damit Ökumene gelingt?

Cornelia Camichel Bromeis Das Interesse aneinander …

Ingrid Grave … gegenseitige Toleranz und Respekt …

Cornelia Camichel Bromeis … und dass man zusammen etwas erreichen will. Dass Themen auf den Tisch kommen, die alle Menschen auf der ganzen Welt angehen. Mit der Selbstverständlichkeit, dass nicht mehr nach einer bestimmten Konfession gefragt wird, weil das Bekenntnis in der gemeinsamen Zielsetzung, der gemeinsamen Haltung und Überzeugung liegt. Dann ist weder das Geschlecht, die sexuelle Ausrichtung, die Herkunft, der Zivilstand oder was auch immer mehr wichtig.

Wir sind alle Maria

Katholische Frauen begehren gegen das Patriarchat in ihrer Kir...

August 2019 bref+
Petra Bahr
Lisa Kötter

Die katholische und die reformierte Konfession werden als Fluss beschrieben, der zwar derzeit geteilt ist, aber irgendwann wieder zusammenfliessen wird. Teilen Sie diese Ansicht?

Cornelia Camichel Bromeis Es kommt darauf an, ob man damit die Kirchen als Institutionen meint oder im Sinne des apostolischen Glaubensbekenntnisses von der einen, heiligen katholischen Kirche spricht. Denn so gesehen bin tatsächlich auch ich «katholisch». Auch ich gehöre zu dieser Einheit, zu dieser geglaubten Kirche. Das lasse ich mir von keinem absprechen, der römisch-katholisch ist. Was nun aber das Institutionelle angeht – da lebe ich sehr gerne reformiert. Das ist mir vertraut, da fühle ich mich zuhause. Auch wenn ich in einem katholischen Dorf aufgewachsen bin und bis in die 5. Klasse die Schulmesse besucht und von einem katholischen Pater die Hostie empfangen habe. Von diesem Mann habe ich übrigens Ökumene gelernt.

Inwiefern?

Cornelia Camichel Bromeis Meine Konfession war für ihn kein Thema. Er hat mich ernstgenommen, wie ich war. Also als Reformierte. Aus dem gleichen Respekt heraus würde ich selbst heute auch niemanden missionieren. Wenn jemand die katholische Messe liebt, die Liturgie und die Rituale, dann kann ich das sehr gut nachvollziehen. Und wenn diese Person dennoch hadert mit ihrer Kirche, würde ich ihr niemals von mir aus sagen, dann werde doch reformiert. Damit würde ich nur Macht ausüben.

Was können die Katholiken eigentlich von den Reformierten lernen — und umgekehrt?

Ingrid Grave Die Katholiken könnten die Bibel wieder mehr ins Zentrum rücken. In unserer Ordensgemeinschaft gab es früher Schwestern, die sich in der Bibel überhaupt nicht zurechtfanden, die immer fragen mussten, wo sie etwas Bestimmtes finden. Sie hatten vorher nie eine Bibel aufgeschlagen. Man traute den Gläubigen ja gar nicht zu, dass sie das können. Das hat sich mittlerweile zwar sehr gebessert, doch wir könnten uns hier noch mehr von den Reformierten abschauen.

Cornelia Camichel Bromeis Wir dagegen könnten von den Katholiken lernen, dass eben nicht nur «sola scriptura» zählt. Auch andere Dinge wie etwa die Tradition sind wichtig. Wir müssen etwas über unsere Herkunft wissen, um zu verstehen, wohin wir gehen. Und diese Tradition sollten wir dann auch aushalten und kritisch weitergestalten, statt irgendwann den Austritt zu geben.

Die Reformierten könnten also lernen, nicht leichtfertig und aufgrund von Meinungsverschiedenheiten aus der Kirche auszutreten?

Cornelia Camichel Bromeis Ja, um am Vertrauen in etwas Grösseres festzuhalten, selbst wenn man gewisse Dinge innerhalb der Institution wirklich nicht gut findet. Das macht mir Eindruck bei den Katholikinnen. Und da merke ich: Da bin ich gerne «katholisch».