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Autorin: Vanessa Buff
Freitag, 10. November 2023

Als die Hamas Israel überfiel, war ich mit meiner Familie in den Ferien. Ich versuchte mich à jour zu halten, während der wenigen ruhigen Minuten, in denen meine Tochter morgens auf dem Sofa ihren Schoppen trank. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse traf mich ins Mark: Mit der einen Hand strich ich über die flaumweichen Haare meines Kindes, mit der anderen hielt ich mein Handy, auf dem ich von geschändeten Körpern und geköpften Babys las. «Wie nur», fragte ich später meinen Partner, «wie nur kann man Babys köpfen?!» Er antwortete lapidar: «Wenn man nur lange genug hasst …»

Im Laufe der Woche kamen immer weitere Details dieses unfassbaren Zivilisationsbruches ans Licht. Ich las von Israels Recht auf Selbstverteidigung, und es leuchtete mir ein. Kein Land der Welt würde so einen massiven Angriff unbeantwortet lassen. Gleichzeitig sah ich Bilder von Leichen aus dem Gazastreifen, rote Schlieren auf staubig-grauer Haut. Dazu die Nachrichten von erhöhten Sicherheitsmassnahmen rund um jüdische Einrichtungen weltweit, von beschmierten Häusern von Jüdinnen und Juden in deutschen Städten. Die Situation war überwältigend. Wie ein Echo hallte der Satz in meinem Hinterkopf. «Wenn man nur lange genug hasst …»

Die Sache mit der anderen Wange

Szenenwechsel. Eine Wahlkampfveranstaltung in Philadelphia im Jahr 2016, Hillary Clinton gegen Donald Trump. Auf der Bühne des demokratischen Parteitages hält die First Lady der USA, Michelle Obama, eine fulminante Rede. Rhetorisch brillant, leidenschaftlich und dennoch nahbar spricht sie darüber, was die Zeit im Weissen Haus mit ihrer Familie gemacht hat und wie sie sich immer wieder gegen Anfeindungen verteidigen mussten.

Dabei fällt ein Satz, der in den Jahren darauf fast schon ikonisch werden wird: «When they go low, we go high!» Was in etwa bedeutet, dass, wenn die andere Seite zum Tiefschlag ausholt, wir uns nicht darauf einlassen, sondern unser Niveau halten, unseren Anstand und unsere Werte.

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Die First Lady bekam viel Zuspruch für ihre Rede. Verloren haben die Demokraten trotzdem. Das Rennen machte stattdessen Donald Trump, der im Wahlkampf immer wieder durch verbale Entgleisungen, Lügen und unhaltbare Versprechungen aufgefallen war – eine Strategie, die sich durch seine spätere Präsidentschaft ziehen sollte.

Die Demokraten mussten sich dagegen den Vorwurf gefallen lassen, von ihrem hohen Ross aus keinen Blick mehr für die Probleme der sogenannt kleinen Leute zu haben. Oder wie Elisabeth Raether, Politik-Redaktorin der deutschen «ZEIT» mit Blick auf Michelle Obamas Ausspruch schrieb: «Man könnte den Satz auch umdrehen: Wenn ihr so abgehoben seid, senken wir eben nochmal das Niveau.» Dass die Autoritären weltweit erstarkten, liege zuallererst an den sogenannten Eliten, so Raether; sie hätten es verpasst, die Gekränkten und Abgehängten mitzunehmen. Nun gebe es die Quittung in Form von Donald Trump, Marine Le Pen oder Alice Weidel.

Ich habe Obamas Satz nie als Ausdruck von Abgehobenheit oder gar Hochnäsigkeit verstanden. Sondern als Versuch, die Hass-Spirale zu durchbrechen. Als Ausdruck bedingungsloser Empathie, selbst mit denen, die uns angreifen. Es geht ihr – das wird im weiteren Verlauf der Rede deutlich – um Solidarität mit den Schwachen und ums Zusammenstehen in Krisenzeiten. Und es geht ihr darum, dem anderen zuzuhören, statt ihn niederzubrüllen.

Für mich klingen darin urchristliche Konzepte an, etwa Nächsten- und Feindesliebe, die Sache mit der anderen Wange. Von dieser Passage der Bergpredigt habe ich kürzlich eine äusserst anschauliche Interpretation gelesen. So heisst es im Matthäusevangelium: «Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.»

«Es geht beim Hinhalten der anderen Wange nicht darum, jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Sondern um eine Form von gewaltlosem Protest.»

Dass es um die rechte Wange geht, ist laut der Autorin des Textes insofern wichtig, als für einen Schlag darauf die linke Hand benötigt wird – zu Jesu Zeiten allerdings ein Unding, da diese als unrein galt. Demnach könne nur ein Schlag mit dem rechten Handrücken gemeint gewesen sein, hiess es, eine Geste der absoluten Herabwürdigung, eher Demütigung als tätlicher Angriff.

Doch in dem Moment, in dem der Geschlagene seinen Kopf dreht, ist so ein Schlag nicht mehr möglich, denn plötzlich «ist da eine Nase im Weg». Übrig bleibt dem Aggressor nur, auf das Schlagen zu verzichten – oder aber sein Gegenüber als ebenbürtig anzuerkennen und ihm mit der Faust ins Gesicht zu boxen.

Ich gebe zu, ich musste bei der Lektüre ein wenig lachen. Theologisch scheint mir die Herleitung eigenwillig, ausserdem habe ich keine Ahnung, ob man vor 2000 Jahren mit rechts oder links zugeschlagen hat. Doch das Bild funktioniert astrein – wäre es eine Szene in einem Hollywoodfilm, käme nun ein Close-up auf das Gesicht des Geschlagenen, das sich langsam dem Aggressor zuwendet, der Blick offen, die Haltung ungebeugt. Als Zuschauerin hätte man ein wenig Gänsehaut. Gerade auch, weil das Resultat das gleiche sein dürfte – die Haltung dahinter ist entscheidend.

Die Bildhaftigkeit macht deutlich, worum es beim Hinhalten der anderen Wange geht: nicht darum, die Waffen zu strecken und jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Sondern um eine Form von gewaltlosem Protest. Um Standhaftigkeit. Darum, den anderen zu zwingen, in mir einen Menschen zu sehen, wie er selber einer ist. Und damit der Verrohung etwas entgegenzusetzen, dem ständigen Ausweiten von dem, was sag- und machbar ist.

Empathie statt Abschottung

Man mag nun einwenden, dass es einfach ist, von Nächstenliebe zu sprechen, wenn man im gemütlichen Zuhause sitzt. Wenn keine Bomben fallen, Wasser und Nahrung zur Genüge vorhanden sind, die eigene Kultur nicht von Auslöschung bedroht ist. Wenn man seine Hand noch im Haar der Tochter vergraben kann. Und das stimmt. Ich masse mir nicht an, den Menschen in Nahost, in der Ukraine, in Berg-Karabach oder in Jemen zu sagen, wie sie auf ihr Leid zu reagieren haben.

Es wäre jedoch auch in der Schweiz bitternötig, auf Empathie wider alle Umstände zu pochen. Denn die jüngsten Krisen und Kriege betreffen auch uns. So hat die Schweiz im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine das Armeebudget massiv erhöht. Der leichte Rechtsruck nach den Wahlen wird die Tendenz verstärken, Sicherheit hauptsächlich als militärische Sicherheit zu denken – und andere Aspekte wie etwa den Schutz vor Klimaschäden oder Versorgungsengpässen zu vernachlässigen. Auch Themen wie Entwicklungshilfe oder Initiativen, die auf Gleichstellung oder einen Ausbau des Sozialstaates abzielen, dürften es in den kommenden vier Jahren schwer haben.

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«Die Schweiz macht den Igel», kommentierte die linke «WOZ» mit Blick auf das Wahlresultat. Man könnte auch sagen, das Land hat angesichts der momentan unruhigen Zeit die Abschottung als Coping-Strategie gewählt.

Coping-Strategie ist ein Begriff aus der Psychologie, leitet sich ab vom englischen «to cope» für «bewältigen» und bedeutet den Umgang mit einer belastenden Situation. Nur so ist zu erklären, dass der Klimawandel zwar an erster Stelle des Sorgenbarometers steht, die Partei, die sich am klarsten dafür einsetzt, jedoch abgestraft wurde. Und dass diejenige Partei gewonnen hat, die fordert, Migranten in als «Transitzonen» bezeichnete Lager zu sperren und sie so ihrer Bewegungsfreiheit zu berauben. Von Empathie und Fürsorge, für andere oder den Planeten, keine Spur.

In dieses gesellschaftliche Klima passen auch andere Beobachtungen. Sie mögen in die Kategorie «anekdotische Evidenz» fallen, ich möchte sie hier aber dennoch teilen.

«Ich kann mich in der Fähigkeit üben, keine Grenzen hochzuziehen, sondern offen zu bleiben für das Leiden anderer.»

So ist die rechtsextreme Junge Tat kürzlich nicht nur in Bellinzona in Erscheinung getreten (lesen Sie dazu unseren Text «Von Pol zu Pol»). In meiner Heimatstadt Schaffhausen hat sie auch nach einer Messerstecherei mit einem mutmasslichen Täter, der aus Somalia stammt, ein Kreuz aufgestellt. Darauf der Hinweis auf eine krude Verschwörungstheorie, wonach die weisse Bevölkerung Europas via Migration aus Afrika, dem Nahen und dem Mittleren Osten ersetzt werden soll.

Ein eigentlich politisch interessierter Teenager sagte mir zudem kürzlich, dass er sich an seiner Schule lieber nicht zum Krieg in Israel äussert, weil einige in seiner Klasse es gut finden würden, was die Hamas gemacht hat. Bei der Kirche Fluntern in Zürich sprayten Unbekannte «Tot den Juden» (Schreibfehler im Original) an eine Mauer.

Ich kann die aktuellen Kriege und Konflikte nicht aufhalten. Aber ich kann mich selber in der Fähigkeit üben, keine Grenzen hochzuziehen, sondern offen zu bleiben für das Leben und Leiden anderer – ungeachtet ihrer politischen Haltung, ihrer Religion oder Herkunft. Und ich kann meine Kinder zu Menschen erziehen, die das ebenfalls tun. Die «high» gehen, wenn andere «low» gehen. Zu Menschen, die sich wehren, wenn andere gedemütigt werden, ohne dabei selbst zu demütigen.

Vielleicht ist das alles, was ich tun kann. Vielleicht ist das meine Coping-Strategie.

Titelbild: «Flower Thrower» des Street Art Künstlers Banksy. Das Werk, das auch unter dem Namen «Love is in the Air» bekannt ist, wurde 2022 im Museum of Contemporary Art in Bangkok ausgestellt. (KEYSTONE/EPA/DIEGO AZUBEL)