Es ist still. So still, dass nur das Ticken einer Wanduhr zu hören ist. Weisses Zifferblatt, schwarze Zeiger, kein Schnickschnack. Auch Annette Keller hört man erst, als sie einem gegenübersteht. Sie ist eine zierliche, kleine Frau. Kurze, graue Haare, filigrane schwarze Brille, silbernes Leinenshirt, weite Hosen. Ihr Äusseres passt zu der nüchternen Umgebung des Treffens: weisse Wände, weisser Boden, kaum Mobiliar.
In einem Regal liegen Küchentücher, hergestellt von Insassinnen des Gefängnisses Hindelbank, der einzigen Frauen-Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Deutschschweiz. Annette Keller wechselt ein paar Worte mit dem Mann in der Loge. Dann geht sie mit der Besucherin durch die Glastüre, die Freiheit von Gefangenheit trennt. Auch die Frauen kommen hier durch, wenn sie ihre Haft antreten.

Die Gefängnisdirektorin Annette Keller ist eine vielseitige Frau – und verschwiegen.
«Stille ist ein gutes Zeichen. Das bedeutet, es gibt keine Probleme», sagt Keller und lacht. Bestimmt und zügig führt sie einen Kiesweg entlang und grüsst eine Insassin. Sie wisse natürlich, wie die Frau heisse, habe aber den Namen absichtlich nicht erwähnt, um ihre Persönlichkeit zu schützen, sagt Keller. Diese Verschwiegenheit, wird sich noch zeigen, zeichnet die 62jährige aus. Keller zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche und schliesst ein eisernes Tor auf, das zu einem grossen Innenhof führt.
Unter einem riesigen Kastanienbaum sitzen eine Handvoll Frauen und wenige Männer beieinander, alles Angestellte der JVA. Die Insassinnen haben zu diesem Teil des Gefängnisses keinen Zugang. Das 300 Jahre alte Schloss, das dort steht, wird gelegentlich für Veranstaltungen genutzt und dient als Verwaltungstrakt. Im ersten Stock liegt Kellers Büro.
Zielstrebige Entscheide
Auch dieser Raum ist schlicht. An der Wand hängen drei Fotografien in Schwarz-Weiss, sie zeigen Samen und ein Schneckenhaus. Die Bilder stammen von Kellers Vater, einem passionierten Fotografen. Der 97jährige greife noch immer zur Kamera, sagt Keller. Ein weiteres Schneckenhaus, weiss und klein, liegt neben ihrer Tastatur.
Was es damit auf sich habe? Sie sei manchmal etwas ungeduldig, gesteht Keller. Sie arbeitet «intensiv», sagt sie: ein Arbeitstier. Die Tage der Thurgauerin, die schon lange in Bern wohnt, beginnen in der Regel um 8 Uhr und enden selten vor 19 Uhr. Gerne würde sie noch mehr erledigen und wäre lieber noch schneller. «Das Schneckenhaus erinnert mich daran, den Dingen mehr Zeit zu lassen und nicht zu schnell vorwärtszugehen.»
«Die wichtigen Figuren waren immer jene, die am Rand standen. Das hat mir sehr entsprochen.» Annette Keller, Gefängnisdirektorin
Seit Mai 2011 ist Annette Keller Direktorin der JVA Hindelbank. Sie habe immer gern mit Leuten gearbeitet, die es «nicht so einfach» gehabt hätten. Bereits in Kellers Kindheit waren Menschen mit schwierigen Lebensgeschichten präsent. Sie ist in Ermatingen aufgewachsen, einer kleinen Thurgauer Gemeinde am Untersee, einem Nachbargewässer des Bodensees. Ihre Mutter habe Bekannte, die gerade ein Problem hatten und an ihre Türe klopften, immer unterstützt. «Sie sassen oft bei uns in der Küche. Das hat mich nicht verschreckt, sondern war vertraut.»
Annette Keller besuchte das Lehrerinnenseminar, absolvierte die bäuerliche Hauswirtschaftsschule und unterrichtete vier Jahre als Primarlehrerin. Doch die Arbeit mit den Kindern war das Ihre nicht. Schon immer dachte sie nach über die «grossen Fragen des Lebens», Begriffe wie Ehrfurcht, Menschenwürde, Sinnhaftigkeit.
Ein Theologiestudium war für sie der logische Schritt. «An den biblischen Geschichten gefällt mir, dass niemand aufgegeben wird. Die wichtigen Figuren waren immer jene, die am Rand standen. Das hat mir sehr entsprochen.» Nach Studienabschluss war Keller Mitte dreissig, sie arbeitete vier Jahre als Pfarrerin in Urtenen-Schönbühl, einer Nachbargemeinde von Hindelbank. Sie sei verwurzelt im christlichen Glauben.

Ein Arbeitsplatz in der JVA Hindelbank.
Die Frage zu beantworten, woran sie als studierte Theologin glaubt, fällt ihr aber schwer. Im Gespräch entsteht eine längere Pause. Will sie nicht mehr dazu sagen, weil es ihr zu intim ist? Nein, sagt sie entschieden, das sei es nicht. Sie ist rhetorisch gewandt. Aber ihre eigene Spiritualität in Worte zu fassen, das fällt ihr schwer. «Es ist ein dauerndes Suchen und Wiederfinden.» Dieser Prozess liess sich immer weniger mit ihrem Beruf als Pfarrerin vereinen.
Hinzu kam, dass ihr das Predigen nicht leichtfiel, vor allem mit dem Schreiben einer Predigt mühte sie sich ab. Als im Jahr 2000 in Hindelbank eine Stelle als Betreuerin ausgeschrieben war, bewarb sie sich. Keller begann berufsbegleitend eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Drei Jahre betreute sie Insassinnen in einer Wohngruppe und leitete anschliessend fünf Jahre lang die Abteilung für Vollzug und Sozialarbeit. 2008 verliess Keller die JVA und arbeitete zweieinhalb Jahre als Wahlbeobachterin und als Leiterin Sozialdienst der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern.
Das war keine Abkehr von Hindelbank. Sie habe gewusst, dass ihre Vorgängerin Marianne Heimoz bald pensioniert würde, und habe sich mit dem Gedanken getragen, sich für ihre Nachfolge zu bewerben. Keller vertiefte ihr Wissen, um in Hindelbank noch besser zurechtzukommen. «Ich will Täterinnen nicht zu Opfern machen. Aber viele haben einen Opferanteil in ihrer Geschichte.» Manchmal frage sie sich, was aus ihr geworden wäre, wäre sie als Kind missbraucht oder vernachlässigt worden.
Ausgewählte Einblicke
«Annette Keller ist sehr traumasensibel. Sie geht mit den Frauen achtsam und respektvoll um», sagt Simone Bayo. Die Psychiatriefachfrau leitet die Wohngruppe Integration und Sicherheit und arbeitet seit 2011 in Hindelbank. Es komme äusserst selten zu Gewalttätigkeiten. Die Frauen leben in einzelnen Zellen, teilen sich aber eine Wohnküche. Dort wird oft und gerne gebacken, zum Beispiel für externe Besucherinnen. Die Mitarbeitenden sind gefordert, soziale Spannungen zu spüren und Konflikten vorzubeugen. «Was wir hier machen, ist Hochleistungssport, und Annette Keller ist so etwas wie eine Mannschaftskapitänin», sagt Bayo. «Kein Problem ist zu klein, um gewürdigt zu werden.»
Direkten Kontakt zu den Insassinnen hält Keller in der Regel wenig. «Die Eingewiesenen würden schon gerne mit der ‹Frau Direktorin› sprechen, aber das ist nicht meine Aufgabe», sagt Keller. Erstens nehme die Wichtigkeit der Mitarbeitenden ab. Zweitens könne sie ihre eigentlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen, etwa die strategische Weiterentwicklung der JVA. «Ich vergleiche das mit einem Organismus: Da kann der Fuss auch nicht plötzlich die Aufgabe der Hand übernehmen», sagt Keller.
Oft seien ihre Tage gefüllt mit «Management-Aufgaben», also Büroarbeit, Sitzungsteilnahmen. In mehr als zwei Drittel ihrer Arbeitszeit führe sie Gespräche, Kommunikation sei eine zentrale Aufgabe. Eben hat sie sich mit einer Gruppe von Justizfachleuten über Digitalisierung unterhalten. «Wir prüfen, ob und wie es möglich wäre, den Frauen in einem begrenzten und gesicherten Rahmen Internetzugang zu ermöglichen», erläutert Keller. Ihr ist es ein Anliegen, dass die Insassinnen den Anschluss an die Aussenwelt nicht verlieren, selbst wenn sie im Gefängnis davon abgeschnitten sind. Keller habe ein Talent dafür, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu antizipieren, sagt Simone Bayo. «Sobald sie von etwas Wind bekommt, setzt sie die Segel.»
Lob ist Keller unangenehm. Spricht man sie aber auf ihren Ehrendoktortitel an, wird aus dem freundlichen Lächeln ein breites Strahlen. «Das hat mich sehr gefreut», sagt sie und legt gleich nach: «Die Auszeichnung und Anerkennung gebührt aber dem ganzen Team.»
Im Dezember 2020 hat die juristische Fakultät der Universität Bern ihr die Ehrendoktorinnenwürde verliehen für ihren «konsequenten, nachhaltigen und innovativen Einsatz für die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit im Straf- und Massnahmenvollzug», wie es in der Laudatio heisst. Sie sei «national wie international eine bedeutende Expertin». Mitnichten habe sie das erwartet und den überraschenden Brief zuerst einmal ungläubig ihrer Direktionsassistentin hingehalten.
In Gesprächen mit ihrem Umfeld festigt sich der Eindruck, dass Annette Keller sehr genau entscheidet, was sie über sich preisgibt und was verborgen bleiben soll – zumindest einer breiten Öffentlichkeit. Regine Schneeberger kennt Keller seit über zwanzig Jahren. «Sie ist kompetent und liebenswürdig. Wir sind gute Kolleginnen geworden», sagt Schneeberger.
Das Duo arbeitet oft zusammen, denn Schneeberger ist Direktorin der JVA Thorberg im wenige Kilometer entfernten Krauchthal. «Annette ist hilfsbereit. Sie teilt ihr fachliches Wissen. Mit ihr kann man auch einmal lachen, obwohl sie ernsthaft bei der Sache ist.» Das Humorvolle schätzt auch Christine Wyss, die über ihre Chefin nur gute Worte verliert. «Gäbe es etwas, was ich bemängeln könnte, würde ich es erwähnen. Aber da ist nichts», sagt sie. Die Direktionsassistentin ist Kellers rechte Hand, sie arbeiten seit elf Jahren zusammen.

Bis zum Alter von drei Jahren dürfen Kinder bei ihrer Mutter in der Strafanstalt in Hindelbank leben.
Schwere Schicksale lassen die Direktorin nicht unberührt. Sie erinnert sich an einen Vorfall, der sich noch zu ihrer Zeit als Vollzugsleiterin ereignete, also etwa fünfzehn Jahre zurückliegt. In der Mutter-Kind-Abteilung, einem getrennten Trakt für Insassinnen mit Kleinkindern, gingen zwei Frauen aufeinander los. Die Kinder mussten fremdplatziert werden. Die Schreie der Mutter, der ihr Kind weggenommen worden war, hat Annette Keller nach all den Jahren noch im Ohr. «Das war grauenhaft.»
Nach dem Vorfall änderte Hindelbank das Konzept: Die Kinder sind seither nicht mehr den ganzen Tag bei der Mutter. Sie besuchen tagsüber extern eine Kindertagesstätte, während die Mütter in den Arbeitsbereichen eingebunden sind. Ein Institut zu leiten, in dem Menschen eingesperrt sind, gelinge ihr nur, weil sie dies als «Aufgabe für die Gesellschaft» sehe. «Wenn jemand einer anderen Person gravierenden Schaden zugefügt hat und Regeln stark verletzt werden, braucht es einen Ausgleich mit Konsequenzen. «Das, was nötig ist, wollen wir möglichst menschlich machen.»
Die Justizvollzugsanstalt Hindelbank (JVA) liegt zwischen Burg-dorf und Bern. In der JVA sind Frauen aus gegen 30 Natio-nen inhaftiert, möglich sind Unterbringungen in Hochsicherheitszellen bis zum offenen Vollzug und Arbeitsexternat. Von gegenwärtig knapp 100 Frauen sind die meisten wegen Drogendelikten inhaftiert, darauf folgen Tötungs- oder Ge-waltdelikte und Vermögensdelikte.
Die Frauen arbeiten im Garten, in der Küche, der Hauswirtschaft, der Kartonage oder dem Textilatelier. Im Dorf gibt es zudem eine Aussenwohngruppe. Zu den rund 110 Mitarbeitenden gehören auch Män-ner. Die Angestellten sind zuständig für alles, was in einem Betrieb rund um die Uhr gewährleistet werden muss, also zum Beispiel Verpflegung, Gesundheitsvorsorge, Arbeits- und Freizeitgestaltung sowie die Besuchsorganisation. In der JVA leben zudem Hühner, Geissen, zwei Esel und eine Katze. (jow)
Im Übrigen könne sie sich nicht vorstellen, eine Männer-Strafanstalt zu leiten. Die Zwischentöne, das Feinere, Emotionale, sage ihr mehr zu. Es sei wohnlicher in Frauen-Strafanstalten und es gebe mehr Fürsorglichkeit, sagt Keller und untermalt das mit einer Episode, die sich erst kürzlich zugetragen hat: Eine Insassin musste wegen Suizidgefahr in eine andere Zelle verlegt werden. Am nächsten Tag bot eine andere Frau an, die Nacht über bei ihr zu bleiben und auf sie zu achten.
Jemand trägt schwarze Samtslipper, Privatkleidung ist explizit erlaubt. Aus dem Radio klingt Popmusik.
Die Frauen teilen sich nicht nur die Aufenthaltsräumlichkeiten, sondern auch die Arbeitsbereiche. Die Kartonage gleicht einem Grossraumbüro. Es gibt viele Fenster, jede Frau steht vor einem Einzeltisch. Eine faltet den Karton zu Päcklein, eine andere fädelt Etiketten auf. Jemand trägt schwarze Samtslipper, Privatkleidung ist explizit erlaubt. Aus dem Radio klingt Popmusik. Ein Stockwerk höher fertigt eine Insassin ein Küchentuch, geschickt webt sie gelbe, rote und lilafarbene Fäden hin und her.
An diesen Arbeitsplätzen geht auch Annette Keller regelmässig vorbei. Sie wechselt hier und dort ein Wort, erkundigt sich nach dem Befinden und wünscht einen schönen Tag. Keller tritt dabei immer auf als Gefängnisdirektorin: bestimmt, aber diskret, pflichtbewusst und ruhig. Für ihren Job ist sie schweizweit bekannt. Sie ist als Expertin in Dokumentationen im Schweizer Fernsehen zu sehen, in Tageszeitungen gibt sie Interviews zu aktuellen Entwicklungen.
Routiniert und redegewandt beantwortet sie Fragen. Werden diese zu persönlich, mauert sie. Auch in ihrem Leben gebe es unerfüllte Träume, sagt sie. «Vieles hätte ich gern erlebt oder gemacht.» Was genau, will sie für sich behalten. Zu privat, sagt sie und gibt durch ihre aufrechte Körperhaltung zu verstehen, dass ein Nachfragen weder Erfolg verspricht noch erwünscht ist. Mit der Verschwiegenheit schützt sie ihre Privatsphäre, macht sich aber auch schwer greifbar.

In einer Bibliothek können Straftäterinnen Spiele oder Bücher ausleihen.
Geht es wieder um ihre beruflichen Aufgaben, ist Annette Keller dagegen sehr offen und gewährt tiefe Einblicke. Ja, sagt sie unvermittelt, als sie ihren Job angetreten habe, habe sie einige Male gedacht: «Hoffentlich habe ich nie ein Burnout.» Von ihrem Perfektionismus habe sie sich aber schon lange verabschiedet. Sie sei pragmatischer geworden. Vieles gelinge ihr nicht. Zum Beispiel habe es sieben Jahre gedauert, bis eine neue Aussenwohngruppe eröffnet werden konnte.
Ausdauernde Persönlichkeit
«Im Kleinen gibt es immer wieder Niederlagen.» Eine der schwierigen Erfahrungen, die sie im Leben gemacht hat, lässt sich Keller dann doch noch entlocken. Sie war Mitte zwanzig und schrieb an ihrem theologischen Lizentiat. Sie fand den Zugang zum Thema nicht recht und rang mit der Arbeit. Der Stress drückte ihr buchstäblich auf den Rücken, schon seit der Kindheit ihre Schwachstelle.
Keller erlitt eine Diskushernie. Die Bandscheibe musste operiert werden. Sie lag im Bett, umringt von Büchern, und tippte die Arbeit in einen Computer. Sie erkannte, dass nichts wichtiger war als die Gesundheit. Ihr Professor regte an der ersten Fassung diverse Änderungen an, doch für Keller war die Arbeit bereits vollendet. Einen Nachmittag lang habe sie Verbesserungen gemacht und dann gesagt: «Es reicht.»
Fleiss und Disziplin sind ihr auch im Privaten geblieben. Keller ist Sportlerin. Viele Jahre ist sie Orientierungsläufe gerannt, sie schwimmt und wandert. Ihre Mitarbeitenden sagen, sie sei auffallend fit und unermüdlich. Schon immer sei sie ein «Bewegungsmensch» gewesen, sagt Annette Keller. Sie braucht aber auch Ruhe. Jeden Morgen meditiert sie dreissig Minuten. Dabei fliege ihr oft eine Idee zu. «Dann freue ich mich sehr. Das ist immer ein Geschenk.»
Ist es die Meditation, die ihr so viel Gelassenheit gibt? Den eingewiesenen Frauen die Regeln immer wieder neu zu erklären, bringe sie nicht aus der Ruhe, sagt Annette Keller. «Vielmehr ärgert es mich, wenn ich zu viel Energie in Bürokratie stecken muss oder jemand nicht verlässlich ist.» Ein Übermensch sei Annette Keller nicht, sagt die Direktionsassistentin Christine Wyss. «Es dauert zwar lang und braucht einiges, aber sie kann auch zornig werden.»

Der Verwaltungstrakt, ein 300 Jahre altes Schloss, ist nur Mitarbeitenden zugänglich.
In Hindelbank hat Keller ihre Lebensaufgabe gefunden. «Es hat keinen Tag gegeben, an dem ich nicht gern gearbeitet habe.» Sie sieht es als Privileg, einen Job zu haben, in dem sie den Sinn sieht. Dieser ist für sie: «Den Frauen nach der Entlassung ermöglichen, wieder Tritt im Leben zu finden.» Gleichzeitig sei sie sich bewusst, dass es Grenzen gebe. «Ich bin realistischer geworden, was die Entwicklungsmöglichkeiten der Frauen angeht.» Psychische Erkrankungen etwa können grosse Einschränkungen verursachen.
Manchmal bestehe die Gefahr, Hindelbank mit dem Nabel der Welt zu verwechseln. «So lebendig und vielfältig ist meine Arbeit.» Dann müsse sie sich besinnen und nehme eine Auszeit. Kürzlich war sie in Usbekistan, sie arbeitet nebenbei im Auftrag des Bundes als Wahlbeobachterin. Mit einem jungen Amerikaner, einem Dolmetscher und einer Fahrerin reiste sie durch das Land und begleitete den Wahltag. Ihre Einsätze führten sie unter anderem in die Ukraine, nach Südafrika, Tadschikistan und Armenien.
Der Kaukasus ist ihre Lieblingsregion. Land und Leute haben sie so berührt, dass sie mit ihrem Partner auch privat in die Region reiste und dort Freundschaften pflegt. Wie es sein wird, Hindelbank in wenigen Jahren loszulassen, nach der Pensionierung? «Ich lebe intensiv in der Haftanstalt», sagt Keller, «aber das Interesse am Leben ausserhalb habe ich nicht verloren.»