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Freitag, 16. November 2018

Vier Jahre ist es jetzt schon her, seit Rolf-Joachim Erler nicht mehr Pfarrer an der Markuskirche in Zürich Seebach ist. Aber es vergeht kein Tag, an dem er nicht an «seine» Seebacher denkt. Und sie an ihn. Sie rufen regelmässig an, wenn sie Probleme haben, und sie kommen zu Besuch nach Berlin, wo Erler seit seiner Pensionierung lebt. Fast dreissig Jahre lang war er Pfarrer in der Gemeinde am Stadtrand von Zürich, und er war es gern. Der gebürtige Deutsche fühlte sich in Seebach zuhause.

Am Tag unseres Treffens in Berlin liegt ein Büchlein mit den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine aufgeschlagen neben dem Herd, auf dem ein Rindergulasch leise vor sich hin köchelt. «Der Herr des Friedens gebe euch Frieden allezeit und auf alle Weise. Der Herr sei mit euch allen!» steht da unter dem Datum des 5. Oktober. Dem zerfledderten Büchlein ist anzusehen, dass es mehr ist als eine unverbindliche Sonntagslektüre. Seit seiner Schulzeit in Herrnhut finde er in der Lektüre der Losungen Anregung und Trost, sagt Erler, auch und gerade in finsteren Zeiten, und finstere Zeiten gab es in Erlers Leben mehr als genug.

Zu den schmerzlichen Erfahrungen der jüngsten Zeit gehört für Rolf-Joachim Erler zweifellos der Abschied von seiner Gemeinde, der Abschied von Seebach und von der Schweiz. Aber warum ist er dann nicht geblieben? Erlers Antwort überzeugt nur halb. Wenn er nach seiner Pensionierung in seinem geliebten Seebach geblieben wäre, so sagt er, wäre er dauernd wie ein Hund ums Pfarrhaus geschlichen, in dem jetzt ein anderer wohnt. Das wollte er nicht.

Es kommen ihm die Tränen, als er vom Abschied spricht, und man ahnt, dass er in Berlin zwar eine Wohnung, aber kein Zuhause gefunden hat.

«Man darf nicht in die Erinnerung zurückkehren», meint er und begründet damit, warum für ihn ein Verbleib in Zürich oder gar eine Rückkehr in seine Geburtsstadt Dresden nicht in Frage kam. Und so scheint es für ihn am Ende keine andere Lösung gegeben zu haben, als einen radikalen Schnitt zu ziehen.

Es kommen ihm die Tränen, als er von diesem Abschied spricht, und man ahnt, dass er in Berlin zwar eine Wohnung, aber kein neues Zuhause gefunden hat. Dabei ist die grosse Altbauwohnung im gutbürgerlichen Berlin-Schöneberg ein durchaus respektables Domizil. Die Decken sind hoch, die Zimmer geräumig, und Platz zum Leben ist reichlich vorhanden. Nur, wie ein Zuhause, sagt Erler, fühle es sich bis heute nicht an. Zuhause sein ist für ihn eine Erfahrung, die er in seinem Leben nicht allzu oft machen durfte.

Warum das so ist, erklärt sich aus seiner Geschichte. Rolf-Joachim Erler ist im Oktober 1949, nur wenige Tage vor der endgültigen Teilung Deutschlands und der Gründung der DDR, in Dresden zur Welt gekommen, als sogenanntes Besatzungskind, wie es im damaligen Sprachgebrauch hiess. Seine Mutter war eine Deutsche, sein Vater ein in Berlin stationierter amerikanischer Soldat, den die junge Frau bei einem ihrer Besuche in der damals noch ungeteilten Stadt kennengelernt hatte.

Bei Nacht und Nebel verschwunden

Einmal, so erinnert sich Erler, sei der Vater zu Besuch gewesen, in Zivil selbstverständlich, weil er seinen damals sechsjährigen Sohn kennenlernen wollte. Dabei muss er sich wohl durch seine Sprache verraten haben. Es kam zu einer Denunziation, die Mutter wurde gewarnt und wusste sich nicht anders zu helfen, als bei Nacht und Nebel zu verschwinden und in den Westen zu fliehen. Den Jungen liess sie bei den Grosseltern zurück.

Das war am 11. September 1955. Mit diesem Tag begann für Rolf-Joachim Erler eine Leidensgeschichte, an der er bis heute zu tragen hat. Fortan galt er in der DDR nicht nur als Sohn eines Klassenfeindes, sondern hatte auch noch eine Republikflüchtige zur Mutter: eine doppelte Stigmatisierung, vor der ihn auch die durch die Flucht der Tochter selbst arg in Bedrängnis geratenen Grosseltern nur bedingt zu schützen vermochten. Erler war acht Jahre alt, als die Klassenlehrerin der öffentlichen Grundschule ihn nach vorne rief, mit spitzem Finger auf ihn zeigte und sagte: «Da, schaut ihn euch an, den Rolf Erler! Sein Vater ist feindlicher Agent unserer friedliebenden Republik, und seine Mutter hat unsere Republik verraten!» Es folgte die Warnung an die Mitschüler, sich von ihm fernzuhalten, und die Aufforderung an ihn, sich zu bessern.

So beschreibt Erler selbst die Szene in seinen Lebenserinnerungen, die jüngst unter dem Titel «Freiheit, die ich meine» in Zürich erschienen sind. Diese Demütigung vor der ganzen Klasse – seine Stimme bebt noch heute, wenn er davon erzählt – war wohl das Schlüsselerlebnis, das Erlers weiterem Lebensweg die Richtung vorgab. Noch wusste der Schüler zwar nichts von den politischen Schwierigkeiten, in die er aufgrund seiner Herkunft einmal geraten sollte. Aber er muss sich als ein Ausgegrenzter gefühlt haben, lange bevor ihm selbst klar wurde, was das eigentlich zu bedeuten hatte.

Pakete aus der Schweiz

Umso wichtiger wurden für das nun elternlose Kind die paar wenigen Menschen, auf die wirklich Verlass war: allen voran die Grosseltern, eine warmherzige, gläubige, aber nicht frömmelnde Grossmutter, und ein Grossvater, der ein überzeugter Sozialdemokrat war und dem DDR-Regime von Beginn an kritisch gegenüberstand, ferner eine Patentante, die Verbindungen zur Herrnhuter Brüdergemeine hatte und ihm zeit seines Lebens sehr nahe stand, und schliesslich die Tanten in der Schweiz – eine in Zollikon, zwei in Bern –, die dem Kind Schweizer Souvenirs mitbrachten und ihm von einem fernen freien Land berichteten, wenn sie in Dresden zu Besuch waren. Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 brachen diese Besuche ab, und der mittlerweile 12jährige musste sich fortan mit Päckchen und Briefen begnügen. Die Verbindung in die Schweiz aber, die blieb.

Um ihn vor weiteren Repressalien und vor allem vor der drohenden Einweisung in ein staatliches Kinderheim oder gar einer Zwangsadoption zu bewahren, beschlossen seine Verwandten, ihn der Herrnhuter Brüdergemeine anzuvertrauen. Im Internat der dem Pietismus nahestehenden religiösen Gemeinschaft konnte ihm das Regime nichts anhaben. Hier kam er auch in den Genuss einer Erziehung, wie sie in der übrigen DDR undenkbar gewesen wäre. Bei den Herrnhutern durfte er frei reden. Von ihnen lernte er, zu seinen Überzeugungen zu stehen und die Ansichten anderer zu respektieren. «Herrnhut war wie eine Insel», sagt Erler heute. Hier durfte er die Bravo lesen, Beatles-Fotos an die Wand hängen und Deutschlandfunk hören. Solange er in Herrnhut war, konnte ihm nichts geschehen.

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Doch nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit begannen die Schwierigkeiten von neuem. Jetzt war er wieder der Sohn eines Klassenfeindes und einer Republikflüchtigen, dessen blosse Existenz eine Gefahr darstellte für alle, die in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatten. Die Angst, selbst in Schwierigkeiten zu geraten, war so gross, dass andere Jugendliche nicht mit ihm verkehren durften und Erwachsene ihm, wenn immer möglich, aus dem Weg gingen.

Es war sehr einsam um den jungen Rolf-Joachim Erler, und seine Zukunftsaussichten sahen alles andere als rosig aus. Erst wurde er seiner Herkunft wegen nicht zu Abitur und Studium zugelassen. Dann wurde er gezwungen, eine Ausbildung als Augenoptiker anzutreten, die ihm, dem handwerklich Ungeschickten, überhaupt nicht lag. Und schliesslich drohte ihm die Einberufung in die Nationale Volksarmee, die er kategorisch ablehnte. Als der Stellungsbefehl immer näher rückte, wusste auch er sich keinen anderen Rat mehr, als dem Land den Rücken zu kehren und, wie vor ihm schon seine Mutter, Republikflucht zu begehen.

Kurzer Traum der Freiheit

Es war ein befreundeter Theologiestudent aus Tübingen, Jürgen Wandel hiess er, der Erler Mut machte und die Verbindung zu einem Fluchthelfer herstellte: ein zum damaligen Zeitpunkt übliches Vorgehen, das vielfach schiefging, in manchen Fällen aber auch gelang. Erlers Versuch war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Weder war er sich der engmaschigen Überwachung durch die Stasi bewusst, noch liess er bei den konspirativen Treffen die nötige Vorsicht walten. Auf die Frage, warum er so unbedacht, so naiv an das Unternehmen herangegangen sei, meint er: «Naiv war ich schon, das stimmt, aber ich war vor allem verzweifelt und hatte nichts anderes mehr im Sinn als raus, weg, einfach nur weg!»

Am Freitag, dem 5. Oktober 1973, war es dann so weit. Erler fuhr von Dresden nach Berlin, wo er vor der Weltzeituhr am Alexanderplatz letzte Instruktionen entgegennahm. Tags darauf suchte er den Schnellimbiss auf der Transitstrecke auf, der ihm genannt worden war, und stieg dort gegen Abend zu seinem Fluchthelfer ins Auto, um im Kofferraum versteckt über die Grenze in den Westen geschmuggelt zu werden. Doch als sich spät in der Nacht des 6. Oktober am Grenzübergang Marienborn der Deckel des Kofferraums öffnete und grelles Licht ihm in die Augen schien, wusste er, dass der Traum von der Freiheit geplatzt war. Erler wurde verhaftet, verhört und schliesslich für mehr als zwei Jahre ins Zuchthaus Cottbus gesteckt.

Von da an war der junge Mann ein Niemand, hatte keine Rechte und keine Privatsphäre mehr. Doch schlimmer als die täglichen Demütigungen durch das Wachpersonal und die menschenunwürdigen Zustände in den stets überfüllten Zellen war die Angst, bei den psychologisch perfid geführten Verhören Hinweise zu geben oder gar Namen zu nennen, die zu Verhaftungen ihm nahestehender Menschen hätten führen können. Rolf-Joachim Erler ist den Schergen nie in die Falle gegangen, sondern hat sich von Beginn an als Regimegegner zu erkennen gegeben, der zu keinerlei Eingeständnissen bereit sei. Die Reaktionen waren entsprechend drakonisch.

Wenn Erler von der Zeit in Cottbus erzählt, könnte man meinen, er rede von gestern, so bewegt ist seine Stimme, so lebendig ist sein Bericht. Und immer wieder unterbricht er sich, steht auf und holt einen der vielen Aktenordner herbei, in denen seine Lebensgeschichte dokumentiert ist. Jeder Brief, jedes Urteil, jede Eingabe ist hier fein säuberlich in Klarsichtfolie abgeheftet. Erler nimmt einzelne Blätter heraus, liest vor und erklärt, was das meist in monströsem Beamtendeutsch abgefasste Schriftstück zu bedeuten hat. Erler will, dass man ihn versteht und dass nicht vergessen geht, was ihm und Tausenden anderen politischen Gefangenen in der DDR angetan wurde.

Ob er Hass empfindet oder Verachtung gegenüber denen, die ihn seinerzeit gemieden, verraten, gequält hatten? Nein, sagt Erler und beruft sich auf den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der sagte: «Es gibt für einen Jünger niemanden, dem er Feind sein könnte.» So schwer es fällt, eine Aussage wie diese nachzuvollziehen, Rolf-Joachim Erler nimmt man sie ab. Statt nach Rache und Vergeltung zu rufen, verlangt er nach Differenzierung. Er warnt vor Pauschalurteilen und plädiert dafür, auch das Verhalten ehemaliger Stasi-Mitarbeiter und informeller Informanten vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte zu betrachten.

Zu einigen von denen, die damals über ihn zu Gericht sassen, hat er nach der Wende sogar Kontakt aufgenommen.

Zu einigen von denen, die damals über ihn zu Gericht sassen, hat er nach der Wende sogar Kontakt aufgenommen. Manche waren froh darüber und entschuldigten sich bei ihm, andere wollten von einem klärenden Gespräch nichts wissen. Erler selbst war es wichtig, die Hand zur Versöhnung gereicht zu haben. Mehr kann er nicht tun.

Trotz dieser Haltung ist nicht zu übersehen, dass Rolf-Joachim Erler ein Gezeichneter ist, einer, bei dem Verfolgung und Gefangenschaft tiefe seelische Narben hinterlassen haben. Er ist dünnhäutig geworden und wird bis heute von Albträumen geplagt. Aber wenn es nicht zynisch klänge, könnte man auch sagen, dass die Hafterfahrung ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist: zum Bürgerrechtler, der sich nach seiner Befreiung unermüdlich für die Freilassung anderer politischer Gefangener in der DDR einsetzte, und vor allem zum Pfarrer, der sich in Sinn und Geist seiner beiden grossen theologischen Vorbilder Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth ein Leben lang darum bemühte, Glauben und Handeln miteinander in Einklang zu bringen.

Hungerstreik für eine Bibel

Es waren Bonhoeffers Briefe aus dem Gefängnis, es waren Barths Basler Haftpredigten, die Erler während der Zeit in Cottbus Kraft zum Weiterleben gegeben hatten. Auf welch verschlungenen Wegen sie in seine Zelle gelangten – als Zufallsfund in den monatlichen Bücherlieferungen, als Abschriften in Briefen seiner Zolliker Tante –, findet sich in Erlers Lebensbericht anschaulich beschrieben. Hier lässt sich nachlesen, wie überlebenswichtig die Beziehung zu verlässlichen Menschen während der Haftzeit war, und auch, welch grosse Bedeutung der Lektüre, zumal der religiösen, in jenen dunklen Jahren zukam.

Sogar in den Hungerstreik war Erler getreten, um den Erhalt einer Bibel zu erzwingen. Nachdem sie ihm einmal ausgehändigt worden war, konnte er von ihr nicht mehr lassen. «Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen», las er da: ein Bild der Hoffnung, der einzigen, die er hatte.

Dabei war Erler ungeachtet seiner Herrnhuter Erziehung nicht sonderlich religiös gewesen, als er seine Gefangenschaft in Cottbus antrat. Und Pfarrer hatte er schon gar nicht werden wollen. Erst die Erfahrungen in der Gefangenschaft und das Zeugnis eines ebenfalls inhaftierten Pfarrers hätten ihm den Zugang zum Glauben eröffnet: als «ein Wider-Spruch zu allem, was mir Angst machte», wie er in seinen Erinnerungen schreibt.

Dieser Pfarrer – Henning Gloege hiess er – hatte die innere Not des jungen Mannes erkannt und ihn, wann immer sich eine Gelegenheit bot, mit geistiger Nahrung versehen. Er steckte ihm heimlich Zettelchen mit Bibelversen zu, liess ihn Griechischvokabeln büffeln und machte ihn in nächtlichen Gesprächen mit der Theologie von Karl Barth vertraut. Er organisierte Gesprächsrunden und hielt Vorträge, die die Mitgefangenen vor dem Versinken in Lethargie und Verzweiflung bewahrten. Und er sprach ihnen Mut zu, indem er jeden Samstagabend nach dem Lichterlöschen ein sogenanntes Wort zum Sonntag vortrug. Dass er damit ein hohes persönliches Risiko einging, waren sich alle Häftlinge bewusst.

Trost auf Zettelchen

Doch im November 1974 kam Pfarrer Gloege frei, und niemand war da, der ihn ersetzen konnte. Ausser Rolf-Joachim Erler, von dem man wusste, dass er in Herrnhut gewesen war und als Einziger mit geistlichen Texten umzugehen wusste. Dass er nicht die geringste homiletische Erfahrung hatte, kümmerte seine Mitgefangenen wenig. Sie wollten ihr Wort zum Sonntag hören, und sie bekamen es auch. Bis zu seiner eigenen Haftentlassung hielt Erler jeden Samstagabend beim Schein einer aus Wollfäden und abgesparter Margarine gebastelten Kerze seine kurzen Andachten, und er muss es so gut und so glaubwürdig gemacht haben, dass es immer häufiger hiess: «Rolf, du musst einmal Pfarrer werden! Wir kommen dann alle auch in deine Kirche.»

Ein paar von Pfarrer Gloeges zerknitterten kleinen Zetteln, die Erler und seinen Mitgefangenen seinerzeit so viel Trost gespendet hatten, haben sich bis heute erhalten und sind in Erlers Buch abgebildet. «Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken», steht auf dem einen in charaktervoller Schrift geschrieben. Auf einem andern: «Nicht Hass, sondern Trauer verdient eine Stadt des Hochmutes und des Schreckens.» Für Erler besassen diese Psalmverse eine Aktualität, als wären sie eigens für ihn geschrieben worden.

Erler lächelt verschmitzt, wenn er daran denkt, wie viel er und seine Freiheit der Bundesrepublik Deutschland einst wert waren.

Rolf-Joachim Erler wundert sich noch heute darüber, dass all diese heimlichen Aktivitäten im Gefängnis von Cottbus nie aufflogen und er nie dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Schutz bot da sicher der enge Zusammenhalt unter den Häftlingen. Erler ist sich aber auch sicher, dass es die Unterstützung von aussen war, die ihn vor Sanktionen wie Dunkel- und Einzelhaft bewahrte.

Dieser Unterstützung durch den kleinen Kreis von Menschen, die trotz drohenden Schwierigkeiten die ganze Zeit zu ihm gehalten hatten, war es dann schliesslich auch zu verdanken, dass er, wie vor ihm schon Henning Gloege, nach zwei Jahren Haft endlich freikam. Es waren zum einen die Herrnhuter, die ihre guten Beziehungen zu der ihnen nahestehenden Moravian Church in den Vereinigten Staaten spielen liessen, und zum andern die Tanten in der Schweiz, die Briefe schrieben, Anträge stellten und öffentlichen Druck aufbauten, dem sich das DDR-Regime schliesslich beugen musste. Allerdings nicht ohne sich dafür kräftig bezahlen zu lassen.

Rolf-Joachim Erler gehört zu jenen 33 000 Häftlingen, die von der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und der Wende für insgesamt 3,3 Milliarden Deutsche Mark freigekauft wurden: eine Praxis, mit der der Arbeiter-und-Bauern-Staat sich missliebiger Bürger entledigen und seine stets maroden Staatskassen auffüllen konnte. Erler lächelt verschmitzt, wenn er daran denkt, wie viel er und seine Freiheit der Bundesrepublik Deutschland einst wert waren.

Eine zweite Geburt

Den Tag seiner Entlassung – es war der 11. November 1975 – bezeichnet Rolf-Joachim Erler bis heute als den Tag seiner zweiten Geburt. Er wurde aus der Zelle geholt, mit vierzig anderen freigekauften Häftlingen zusammen in einem geheimen Transport über die innerdeutsche Grenze gebracht und wenige Tage später ins Notaufnahmelager Giessen überstellt. Dort wurde er von seinem Freund und Fluchthelfer Jürgen Wandel mit einem Begrüssungsgeschenk willkommen geheissen, das passender nicht hätte sein können. Es war Eberhard Buschs gerade eben erschienene Biografie von Karl Barth, versehen mit der Widmung: «Herzlich willkommen in der Bundesrepublik Deutschland!»

Der Schweizer Theologe Karl Barth, der zu den Mitbegründern der Bekennenden Kirche gehört und seine Bonner Dogmatik-Professur aus Protest gegen die Nazidiktatur 1933 niedergelegt hatte, war für Erler während der Haft zur politischen Leitfigur geworden und sicher mit ein Grund, dass er sich kurz nach seiner Freilassung entschloss, ein Theologiestudium in Angriff zu nehmen. Seinen Lehrmeister lernte Erler zwar nie kennen – Barth war bereits 1969 in Basel verstorben –, aber dank da und dort publizierten Aufsätzen zur Barthschen Theologie wurde man in der Schweiz bald einmal auf den angehenden Pfarrer aus Deutschland aufmerksam.

Einladungen zu den alljährlich stattfindenden Internationalen Karl-Barth-Tagungen auf den Leuenberg im Kanton Baselland folgten. Dort lernte er die Barth-Tochter Franziska kennen, der er sich mit der Zeit wie einer Mutter verbunden fühlte. 1985 publizierte er ein Karl-Barth-Lesebuch. Und kurz danach erhielt er den Auftrag, den bis dahin unerschlossenen Briefwechsel zwischen Karl Barth und seiner Geliebten und theologischen Weggefährtin Charlotte von Kirschbaum herauszugeben. Mehr als zwei Jahrzehnte sass Erler über dem Konvolut, recherchierte, edierte, entschlüsselte Namen, erschloss Quellen, bis der Band schliesslich im Jahr 2008, versehen mit 1648 Fussnoten, wie er nicht ohne Stolz vermerkt, im Theologischen Verlag Zürich erschien.

Dieser Beziehung zu Karl Barth, seiner Familie und seinen Weggefährten ist es letztlich auch zu verdanken, dass Rolf-Joachim Erler nach kurzer Pfarrtätigkeit in der Hannoverschen Landeskirche in die Schweiz wechseln und Pfarrer in Zürich Seebach werden konnte. Mit dem Amtsantritt an der dortigen Kirche schloss sich für ihn ein Kreis.

Schweizer Fahne und Sternenbanner

Mittlerweile ist er längst im Besitz eines Schweizer Passes und sagt von sich: «Ich habe zwar deutsche Wurzeln, aber mein Herz schlägt für die Schweiz.» Dass das mehr ist als ein blosses Lippenbekenntnis, erkennt man spätestens dann, wenn man seine Wohnung betritt. Von überall her leuchtet einem das Rot von Schweizer Fähnchen entgegen. Im Flur, der vom Wohnbereich zu den Schlafzimmern führt, hängt eine grosse Seebacher Flagge, und unter den Tellern liegen Tischsets, die mit Zürcher Motiven bedruckt sind. Rolf-Joachim Erler hat sich ein Stück Schweiz an die Spree geholt, und es ist schwer zu sagen, ob er sich mit all den Memorabilien seiner Zugehörigkeit zum Land versichern oder sein Heimweh lebendig erhalten will.

Sicher ist nur, dass solche äusseren Zeichen, zu denen auch zahlreiche Fotos und Dokumente gehören, für ihn mehr sind als blosser Zierat, den man eines Tages gegen etwas anderes austauscht. Denn nicht nur die Schweiz, auch Embleme der Vereinigten Staaten sind in seiner Wohnung omnipräsent. Amerika ist das Herkunftsland des Vaters, den er bis auf ein Treffen in seiner Kindheit nie kennengelernt hat und dessen Existenz er wohl gerade deshalb besonders hervorheben muss. McLean hiess der Mann.

Erler hat den Namen mittlerweile seinem eigenen Familiennamen hinzugefügt und sich damit, symbolisch wenigstens, angeeignet, was ihm in der Realität vorenthalten worden war. Trotz intensiver Suche ist es ihm nie gelungen, den Vater ausfindig zu machen. Nur zur Mutter konnte er nach seiner Haftentlassung den Kontakt wieder aufnehmen. Richtig vertraut ist er mit ihr zu Lebzeiten allerdings nie mehr geworden. Nach ihrem Tod holte er jedoch ihre Asche heim und sorgte dafür, dass sie in Seebach beigesetzt wurde.

Er konnte nicht anders

Nur zwei Wochen, bevor wir uns in Berlin zum Gespräch trafen, war Rolf-Joachim Erler selbst wieder einmal in Zürich Seebach zu Gast. Nicht um zu predigen, sondern um einen Vortrag zu halten und mit den Leuten zu diskutieren, ganz so, wie es früher jene taten, die in der von ihm initiierten und weit über Seebach hinaus bekannt gewordenen Gesprächsreihe «Talk im Turm» zu Gast gewesen waren: Dorothee Sölle zum Beispiel, Johannes Rau, Helmut Gollwitzer, Kurt Marti und andere mehr.

An diesem Sonntag nahm Erler den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren sowie Barths fünfzigsten Todestag zum Anlass, um ein Referat zum Thema «Mit Karl Barth etwas zum Frieden sagen» zu halten. Er erzählte von Barths Kritik an der deutschen Siegestrunkenheit zu Beginn des Ersten Weltkriegs und von seinem Widerstand gegen die aufziehende Barbarei des Nationalsozialismus in den dreissiger Jahren. Er sprach vom Gehorsam gegenüber Gott und dem Ungehorsam gegenüber dem Staat und liess keinen Zweifel daran, dass er dabei nicht nur von Karl Barth, sondern auch von sich selber sprach. Wenn die Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime ihn eines gelehrt hatte, dann dies, dass es nicht reicht, eine Überzeugung zu haben, wenn man nicht auch bereit ist, für sie einzustehen.

Gerade darum ist er aber auch aufs äusserste besorgt ob der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschland, wo in manchen Gegenden wieder der Hitlergruss gezeigt und «Judenschweine» gerufen werden darf, ohne dass die anwesende Polizei etwas dagegen unternehmen würde. Erler hat es unlängst in Berlin mit eigenen Augen gesehen. Er ist dazwischengegangen und hat die Polizisten zur Rede gestellt. Genützt hat es nichts. Aber er konnte nicht anders.

Rolf-Joachim Erler: Freiheit, die ich meine: Flagge zeigen. Jugendjahre in den Fängen der DDR-Staatssicherheit. Jordan, Zürich 2018; 198 Seiten, 24.80 Franken