Heino Falcke ist einer jener Pfarrer, die in den frühen fünfziger Jahren aus freien Stücken in die gerade erst gegründete DDR gingen. Nicht so sehr aus politischer Überzeugung als vielmehr im Bemühen, einer in ihrer Unabhängigkeit bedrohten Kirche beizustehen. Nach seinem Theologiestudium in Berlin, Göttingen und Basel und seiner Habilitation an der Universität Rostock wurde Heino Falcke zunächst Direktor des Predigerseminars Gnadau und danach Propst der Evangelischen Kirche in Erfurt im ostdeutschen Thüringen. Dieses Amt übte er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1994 aus und erlebte so jene politischen Umwälzungen, die schliesslich im Herbst 1989 zum Fall der Berliner Mauer und zu der politischen Wende in Deutschland führten.
Diese Ereignisse, die Europa nachhaltig verändern sollten, waren nicht wie ein Wunder über die Gesellschaft hereingebrochen. Sie hatten eine lange Vorgeschichte, und an dieser Vorgeschichte hatten Pfarrer wie Heino Falcke, wie Friedrich Schorlemmer, Christian Führer, Christof Ziemer und andere einen ganz wesentlichen Anteil. Sie öffneten die Kirchenräume für all jene, die mit dem herrschenden System unzufrieden waren. In ihrem Schutz konnten sich Bürgerrechtler, Wehrdienstverweigerer sowie Friedens- und Umweltaktivisten treffen und untereinander austauschen. Von hier strahlte aus, was sich dann in den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen Bahn brechen und nach dem 9. November 1989 das System endgültig zum Einsturz bringen sollte.

Heino Falcke war eine der wichtigsten evangelischen Stimmen der DDR. Heute erinnert er sich manchmal mit Wehmut an die Art und Weise, wie Kirche damals gelebt wurde.
Unbequem – aber nicht umsonst
Als Heino Falcke 1952 in die DDR übersiedelte, ging er noch davon aus, dass der sozialistische Spuk bald ein Ende haben würde. Doch dann wurden vierzig Jahre Leben daraus: ein schwieriges, ein unbequemes Leben, aber eines, von dem er weiss, dass es nicht umsonst war. Heino Falcke wurde gebraucht, mehr vielleicht, als wenn er im Westen geblieben wäre und eine akademische Karriere eingeschlagen hätte. «Es gibt eben doch ein richtiges Leben im falschen», sagt er heute und hält fest, dass er nicht einen einzigen Tag davon bereut.
Es schwingt etwas wie Wehmut, aber auch ein wenig Stolz mit, wenn Heino Falcke auf seine Tätigkeit als Pfarrer und Mitglied sowohl im Bund Evangelischer Kirchen in der DDR wie auch im Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf zu reden kommt. Nicht dass er der alten DDR nachtrauern würde, das nicht. Aber die Bedeutung, welche die Kirche damals hatte, und auch die Art, wie sie gelebt wurde – nie selbstverständlich, stets bedroht, an den Rand gedrängt und doch dringend gebraucht –, die vermisst er bisweilen. Zu DDR-Zeiten war es nicht opportun, sich kirchlich zu engagieren. Wer seine Kinder taufen und konfirmieren liess, musste mit Repressalien rechnen. Wer am kirchlichen Leben teilnahm, legte ein Bekenntnis ab, das gravierende gesellschaftliche Nachteile zur Folge haben konnte.
Heino Falcke gehört jener Generation deutscher Theologen an, deren Glaubensverständnis geprägt ist von Dietrich Bonhoeffer und der Bekennenden Kirche im Dritten Reich. Bei seinen akademischen Lehrern, sagt er, habe er diesen Geist wiedergefunden.
«Die Verfolgung, die wir erdulden mussten, war gewissermassen die Rechtfertigung für die Anpassung, die wir zu leisten gezwungen waren.»
In der ständigen Auseinandersetzung mit einem Staat, der die Kirche marginalisierte, infiltrierte und schliesslich des internationalen Ansehens wegen widerwillig tolerierte, gab er ihm die Kraft zum Widerstand, wo Widerstand unumgänglich, aber auch zum klugen Taktieren, wo Taktieren notwendig erschien.
Als Propst und Mitglied der Kirchenleitung befand Heino Falcke sich im permanenten Widerstreit zwischen staatlicher Forderung und kirchlichem Auftrag. Er musste seine Kirche verteidigen, er musste aber auch diejenigen schützen, die in ihr Zuflucht suchten. «Die Verfolgung, die wir erdulden mussten», sagt er heute, «war gewissermassen die Rechtfertigung für die Anpassung, die wir zu leisten gezwungen waren.»
Diesen Konflikt galt es auszutragen und auszuhalten, vor allem als sich vom Beginn der achtziger Jahre an die zivilgesellschaftlichen Bewegungen in der DDR immer lautstarker zu Wort meldeten und von den Kirchen Unterstützung in ihrem Kampf gegen atomare Aufrüstung und Umweltzerstörung einforderten. «Schwerter zu Pflugscharen» stand auf den Stickern, die sich Wehrdienstverweigerer und Friedensaktivisten auf die Ärmel ihrer Parkas nähten. Auf einen solchen Slogan konnte nur kommen, wer mit biblischer Sprache vertraut war.
Den Sozialismus verbessern
Die Kirche kann vermutlich als einzige demokratische Institution innerhalb der DDR bezeichnet werden. Dies war nicht nur den Kirchenleuten bewusst, sondern auch den Vertretern des Staates, die das kirchliche Leben zwar ausspionieren, nicht aber zum Schweigen bringen konnten. Bereits 1972 setzte die Evangelische Kirche auf ihrer Synode in Dresden ein deutliches Zeichen, wie sie ihre Position innerhalb der Gesellschaft verstand. In einer Rede stellte Heino Falcke dort seine These vom «verbesserlichen Sozialismus» in den Raum. Der Begriff gefiel nicht allen. Heino Falcke hielt trotz zum Teil heftiger Kritik daran fest, weil er der Überzeugung war, dass «wir Kirche im Sozialismus nur sein können, wenn wir an dessen Verbesserung mitarbeiten». Die Haltung der Evangelischen Kirche von damals umschreibt er heute als «kritische Solidarität» – im Gegensatz zur Wagenburg-Mentalität der Katholischen Kirche, die sich aus politischen Debatten herauszuhalten versuchte.
Heino Falcke ist bis heute der Meinung, dass man für die Menschen nur da sein kann, wenn man auch Hoffnung für das Land hat, in dem sie leben. Deshalb engagierte er sich von Beginn weg in jenem konziliaren Prozess, der sich für «Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung» starkmachte. Die Idee eines Ökumenischen Friedenskonzils hatte 1934 schon Dietrich Bonhoeffer angesichts der heraufziehenden Kriegsgefahr in die Welt gesetzt. Wieder war es sein Geist, den Heino Falcke weitertrug und mit grosser Leidenschaft auch innerhalb seiner eigenen Kirche vertrat. Dass das Projekt in der Friedens- und Umweltbewegung auf grosse Resonanz stossen würde, war vorhersehbar; dass es dem Staat ein Dorn im Auge sein würde, ebenfalls.
In den folgenden Jahren wurde die Bespitzelung durch die Stasi zusehends intensiver. Wie flächendeckend sie war, realisierten die meisten allerdings erst nach der Wende. So auch Heino Falcke und seine Familie, als sich der beste Freund des einen Sohnes im privaten Kreis mit den Worten outete: «Ich war auf euch alle angesetzt.»
Es fehlten Kraft und Zeit
Als sich im Mai 1989 in Basel schliesslich 700 Delegierte der verschiedenen Konfessionen sowie Tausende Gläubige zur «Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung» trafen, war das Ausmass dessen, was sich in Osteuropa anbahnte, zwar noch nicht zu erahnen. Angekündigt hatte es sich aber bereits. Nicht nur, dass Vertreter der DDR und anderer Ostblockstaaten darauf pochten, in ihren Demokratisierungsbemühungen vom Westen ernstgenommen zu werden; es fehlte auch nicht an Stimmen, die bereits jetzt vor dem Versagen der Kirchen angesichts der konkret auf sie zukommenden Herausforderungen warnten.
«Unser Ziel war die Demokratisierung der DDR, doch durch den Fall der Berliner Mauer wurde die Reformbewegung obsolet.»
Wieder war es Propst Heino Falcke, der am Ende der zähen Verhandlungen um das Schlussdokument den prophetischen Satz äusserte: «Mehr als die Schwächen des Dokuments fürchte ich die Schwäche der Kirchen und der Christen, dieses Dokument mit Leben zu füllen.»
Wie recht er mit seinen Befürchtungen hatte, zeigte sich, als ein Jahr nach dem Mauerfall die deutsche Einheit Wirklichkeit wurde. «An Wiedervereinigung hatten wir nie gedacht», sagt Heino Falcke. «Unser Ziel war die Demokratisierung der DDR, doch durch den Fall der Berliner Mauer wurde die Reformbewegung obsolet.» Für Heino Falcke ist heute klar, dass damals nicht nur die Kraft, sondern auch die Zeit fehlte, um in die Zukunft hinüberzuretten, was einst die Stärke der Kirche im Sozialismus ausgemacht hatte. «Die Kirche passte sich dem Tempo der Politik an», sagt er. «Sie liess sich vereinnahmen und abhängig machen durch Subventionen und verlor dadurch jenen Status einer Minderheitenkirche fürs Volk, die ihren Charme ausgemacht und ihr vor der Wende so viel Glaubwürdigkeit eingetragen hatte.»
Diesen Verlust beklagten auch rund 1000 Vertreterinnen von gegen 100 Basisgruppen aus beiden Teilen Deutschlands, die sich im April 1991 in Erfurt zu einer «Ökumenischen Versammlung von unten» trafen. Unter den Teilnehmern befanden sich der Superintendent aus Dresden, Christoph Ziemer, Joachim Garstecki, der Referent für Friedensfragen beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, und natürlich Heino Falcke, als Propst von Erfurt gewissermassen Gastgeber der Versammlung.
Alle drei waren sich einig, dass es nicht gut lief für die Kirchen im einstigen Sozialismus. Christoph Ziemer sprach in seiner Eröffnungsrede in der Predigerkirche von der «aufgestauten Wut darüber, von den gestrigen Machthabern missbraucht worden zu sein und schon wieder abhängig und unfrei zu werden durch die viel subtilere Herrschaft des Geldes». Joachim Garstecki pflichtete ihm bei und machte als den Schuldigen Helmut Kohl aus, der es «geschickt zu verhindern gewusst» habe, «dass Emanzipatorisches und Nationales sich verbinden und durch diese Verbindung zu einem wirklichen Demokratie-Gewinn für alle Deutschen führen» könnte. Und Heino Falcke sah den Grund allen Übels darin, dass den Evangelischen Kirchen in der DDR mit der Wiedervereinigung die westdeutsche Gesetzgebung diskussionslos übergestülpt worden sei. Das habe es unmöglich gemacht, das so teuer erkämpfte Prinzip der Freiwilligkeit bei Fragen des Religionsunterrichts oder des Inkassos von Kirchensteuern in das neue System hinüberzuretten. Falcke nannte den Widerstand gegen die Einbindung der Kirche in die Kommandostrukturen des Staates damals wie heute «eine der ganz wenigen Erfahrungen, die, aus dem Osten kommend, eine fruchtbare Diskussion auch in der alten BRD» hätten auslösen können.

Heino Falcke (links) im Gespräch mit Fulbert Steffensky im Romero-Haus in Luzern.
Anpassung statt Verweigerung
Seit diesen Frühlingstagen des Jahres 1991 ist viel Zeit vergangen. Die herunter gekommenen Städte der ehemaligen DDR sind restauriert, die maroden Unternehmen abgewickelt, die Menschen aus Ost und West einander nähergekommen. Nur noch schwer kann man sich vorstellen, wie viel Hoffnung, aber auch schon Frustration die Menschen in den neuen Bundesländern damals umtrieb. Noch einmal war es die Kirche, die der Hoffnung eine Stimme verlieh und gleichzeitig die Gefahren eines überstürzten Einigungsprozesses aufzeigte. Es war eine lebendige Kirche, die Haltung zeigte, die unbequem war und den Menschen gerade dadurch Schutz und Orientierung bot. Schon damals zeichnete sich allerdings ab, dass sie ihre gesellschaftliche Bedeutung verlieren und «aus der Nische der Verweigerung bruchlos in die komfortable Suite der Anpassung» hinüberwechseln würde, wie Joachim Garstecki sich damals ausdrückte.
Heino Falcke formuliert es heute ähnlich. Gerade in der turbulenten Nachwendezeit habe sich gezeigt, wie nötig eine handlungsfähige Kirche bei all den sozialen Umwälzungen gewesen wäre. «Doch die Kirche war zu schwach, um Einspruch zu erheben», sagt er. Ein Fazit, das nachdenklich stimmt, wenn man bedenkt, dass es von einem Mann kommt, der stets Gesicht gezeigt und Widerstand geleistet hat, wo es ihm notwendig erschien.
Die Publizistin Klara Obermüller war Redaktorin bei der NZZ und der Weltwoche, danach moderierte sie die SRF-Sternstunde Philosophie. Sie lebt in Männedorf ZH.
Der Fotograf Michel Gilgen lebt in Zürich.
Die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, wurde im Oktober 1949 als sozialistischer Staat gegründet. Die Macht lag in den Händen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Dahinter stand aber die Sowjetunion, aus deren Besatzungszone die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war.
Bereits in den frühen 50er Jahren sperrte die Regierung die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland, um die Abwanderung der Bürger zu verhindern. Ab 1961 folgte der Bau der Berliner Mauer, die zum Symbol der Teilung Europas werden sollte. Zudem wurden Selbstschussanlagen und Minensperren an der innerdeutschen Grenze installiert. Beim Versuch, diese zu überqueren, starben bis zum Zusammenbruch der DDR mehrere Hundert Menschen.
Die Machthaber versuchten stets, ihre Gegner durch Repression zum Schweigen zu bringen oder Kritik durch ideologische Überzeugungsarbeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Weil die Staatsideologie der DDR grundsätzlich atheistisch war, bekamen das auch die Kirchen zu spüren.
Dennoch entwickelte sich die Evangelische Kirche insbesondere mit der Friedensbewegung Ende der 70er Jahre zu einer starken Stimme. Sie mischte sich aktiv in die Debatte um den Wehrersatzdienst ein und stellte ihre Räumlichkeiten für Diskussionen oder Konzerte zur Verfügung. In der Leipziger Nikolaikirche etwa fanden ab 1982 wöchentliche Friedensgebete statt, aus denen im Herbst 1989 die Montagsdemonstrationen mit ihrem Ruf «Wir sind das Volk» hervorgingen. Auch in anderen ostdeutschen Städten gab es vergleichbare Märsche.
Am 9. November 1989 schliesslich schaffte die friedliche Revolution mit dem Fall der Berliner Mauer den Durchbruch. Rund ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, wurde Deutschland offiziell wiedervereinigt. vbu
Heino Falcke, ehemals Propst von Erfurt und Vorkämpfer der ökumenischen Bewegung, gilt als eine der wichtigsten Stimmen der Evangelischen Kirche der DDR. Bei einem Besuch in Luzern Ende April stellte er sich den Fragen von Fulbert Steffensky, dem einstigen Benediktiner und heutigen Lutheraner, der zusammen mit seiner ersten Frau Dorothee Sölle in Köln das «Politische Nachtgebet» begründet hatte. bref war beim Gespräch der zwei Herren – Jahrgang 1929 der eine, Jahrgang 1933 der andere, politisch engagierte Theologen beide und ein Leben lang um das Wohl und Wehe ihrer Kirche besorgt – im Romero-Haus dabei. kob