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Autorin: Antje Schrupp
Freitag, 16. April 2021

Maria, Josef und das holde Kind: Die heilige Familie gilt noch immer als die Keimzelle des Christentums. So sieht das auch Thomas Schirrmacher, der neue Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz. Jede Sexualität, die ausserhalb der zweigeschlechtlichen Ehe vonstatten gehe, widersetze sich dem göttlichen Willen, liess er noch vor Amtsantritt verlauten.

Geht es nach dem reformierten Theologen, so haben Homosexuelle, Transmenschen, Regenbogenfamilien und Intersexuelle, die ein drittes Geschlecht postulieren, in dieser von Gott gewollten Ordnung keinen Platz. Mehr noch: Menschen ausserhalb der heterosexuellen binären Norm, die ein Recht auf Ehe und Raum in der Kirche ein­fordern, bedrohen den göttlichen Plan und das christliche Lebensideal geradezu.

Mit dieser Einschätzung ist der Generalsekretär nicht alleine. Das auch in der Schweiz tätige katholische Hilfswerk «Kirche in Not» hält die «Gender-Bewegung» gar für eine «teuflische Ideologie», und der frühere Bischof von Chur erkannte im «Genderismus» einen «Angriff auf Ehe und Familie als tragende Strukturen unserer Gesellschaft».

Mit Verlaub: Eine solche «Gender-Christin» bin ich auch. Ich sehe nichts Falsches darin, wenn Kinder mit zwei Frauen oder zwei Männern als Eltern aufwachsen, Menschen offen gleichgeschlechtlich lieben und Intersexuelle und Transmenschen für ihre Rechte einstehen.

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Mich irritiert diese selbstgerechte Verurteilung Andersliebender und nicht-binärer Menschen immer wieder von neuem. Woher nehmen konservative Theologen und Bischöfe eigentlich diese Sicherheit, Gottes Willen so genau zu kennen und das wahre Christentum zu vertreten? Lebte nicht Jesus Christus selber ausserhalb einer heterosexuellen Beziehungsform, und rief er nicht dazu auf, Kinder und Eltern zugunsten neuer Gemeinschaften auseinanderzubringen? Ist es nicht zudem merkwürdig, dass die heilige Kleinfamilie gerade auch von einer Kirche mit Bischöfen hochgehalten wird, die selbst ehelos und ohne Kinder leben?

Ein Blick zurück in die Anfänge zeigt, dass das Christentum nicht mit der «heiligen Familie im Stall» begann, sondern mit theologischen Disputen rund um Gender und Sex. Was Mannsein und Frausein überhaupt heisst, welche christlichen Lebensformen die richtigen wären – dazu gingen die Meinungen in den frühen Gemeinden weit auseinander. Das Urchristentum war wesentlich diverser und offener, als Konservative heute gerne wahrhaben wollen.

Kaum jemand zieht diese Feindesliebe konsequent durch. Sex und Gender treiben das Christentum hingegen um, und dies mehr als jede andere religiöse Tradition.

Jesus Christus selber äusserte sich kaum zu Beziehungsformen. Zu Homosexualität oder zur Stellung der Frau sagte er: nichts. Nur den Ehebruch verurteilte er. «Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen», heisst es in der Bergpredigt. Das klingt reichlich streng – aber wenn es nach der Bergpredigt ginge, dürfte man auch nicht schwören, keine Reichtümer ansammeln, müsste den Bösen die andere Wange hinhalten und dem Hemdendieb auch noch den Mantel anbieten.

Hand aufs Herz: Kaum jemand zieht diese Feindesliebe konsequent durch. Sex und Gender treiben das Christentum hingegen um, und dies mehr als jede andere religiöse Tradition. Zwar kennen auch das Judentum oder der Islam Regeln und Gebote des geschlechtlichen Zusammenlebens, doch sind diese pragmatischer und rechtlicher Natur: Es geht um Nachkommenschaft und Erbschaftsfragen. Im Christentum hingegen ist die Geschlechtlichkeit von Jesus seit je ein theologischer Knackpunkt.

So bereitete nicht die Auferstehung des Messias den frühen Theologen Kopfzerbrechen, sondern seine Geburt: Wie konnte es sein, dass Jesus, ein von einer Frau aus Fleisch und Blut geborener Mensch, gleichzeitig auch Gott ist? Dazu muss man wissen: Geburtsblut galt bereits im Alten Israel als unrein, und das Verhältnis der frühen Christinnen und Christen zum weiblichen Fleisch war durchaus angespannt, nicht zuletzt auch wegen der Philosophie von Platon und Aristoteles, die damals, in der Spätantike, weit verbreitet war.

Jesus im Geburtskanal

Für die beiden Denker war die irdische Welt ein müder Abklatsch der immateriellen, ewigen Welt der Ideen – einer hehren Sphäre der Männer. Die Frauen und ihre Fähigkeit zu gebären sahen sie hingegen mit der niederen irdischen Vergänglichkeit im Bunde. Dass nun ausgerechnet der Heiland durch eine Gebärmutter auf die Welt gekommen sein sollte – das konnten sich die ersten Kirchenväter, Erben der hellenistischen Ära, kaum vorstellen: ein göttliches Wesen, das sich durch einen Geburtskanal gequetscht und voller Blut und Schmiere das Licht der Welt erblickt haben sollte? Ein Skandal!

Zahlreiche frühe Erzähler, und vielleicht auch Erzählerinnen, liessen sich deshalb einiges einfallen, um das Geschehen rund um Jesu Geburt weniger eklig und feucht zu gestalten. In der «Himmelfahrt des Jesaja» etwa, einer Schrift aus dem 2. Jahrhundert, steht, «dass Maria alsbald mit ihren Augen hinschaute und ein kleines Kind sah»: Offenbar war das Baby ohne Schmerz und Schmutz aus ihr herausdiffundiert; wie genau, darüber schweigt der Text allerdings nobel. Andere Quellen bestritten geradeheraus, dass Jesus überhaupt geboren wurde.

Oder sie gaben zwar zu, dass Marias Geschlechtsorgane an der Geburt beteiligt gewesen sein mussten, argumentierten aber, dass das nicht zähle, weil sie den Embryo ja «keusch», also ohne Penetration durch einen männlichen Penis, beim Besuch des Engels Gabriel empfangen habe. Bei all diesen Debatten ging es nie nur um Maria als einzelne Person, sondern um Frauen im allgemeinen: mit den Umständen von Jesu Geburt wurde die Bedeutung von Weiblichkeit an sich verhandelt. So warf die Tatsache, dass Menschen in zwei Varianten – also mit und ohne Gebärmutter – existieren, grundsätzliche Fragen auf. Etwa die, ob Menschen, die schwanger werden könnten, genauso begabt und geeignet für geistliche Ämter seien wie jene, die es nicht können.

Aber nicht nur der Geburtsvorgang selbst, auch das Geschlecht des Erlösers sorgte von Anfang an für theologische Dispute: Wie konnte ein männlicher Heiland der Retter für alle, auch für die Frauen sein? Einige frühe Christinnen und Christen scheinen sich ein «männlich-weibliches» Erlöserduo vorgestellt zu haben. So gibt es frühchristliche Kultgegenstände, die Jesus und Maria in parallelen, einander ergänzenden Rollen zeigen: Abendmahlskelche etwa, auf denen Jesus und Maria in jeweils ähnlichen Körperhaltungen zu sehen sind, oder Darstellungen der Jesusbewegung, die Maria als Anführerin der Jüngerinnen und Jesus als Anführer der Jünger abbilden.

Die Brüste von Jesus

Eine andere, ungefähr zeitgleich entstandene Tradition versuchte stattdessen, die Männlichkeit von Jesus zu relativieren. «Ich bin der Vater, ich bin die Mutter, ich bin der Sohn», spricht Christus in den Johannesakten, die vermutlich im 2. Jahrhundert verfasst wurden. Die Märtyrerin Priscilla, die der Legende nach mit nur 13 Jahren in Rom enthauptet wurde, wird in einer Schrift von Epiphanios, dem Bischof von Salamis, im 4. Jahrhundert mit den Worten zitiert: «Christus kam zu mir in der Gestalt einer Frau, in schimmernden Gewändern, und warf Weisheit in mich.» Clemens von Alexandria wiederum, ein Zeitgenosse Priscillas, verglich den christlichen Logos mit «Brüsten, die Milch geben». Der griechische Theologe beschrieb Christus also als androgyn, als Mann und Frau zugleich. Conchita Wurst lässt grüssen.

Letztlich setzte sich in der Geschichte aber eine dritte Deutung des Geschlechts von Jesus durch: nämlich die einer männlichen Norm, die für alle Menschen gültig ist – ein Standard, den auch Frauen erreichen konnten. Bereits in antiken Texten – christlichen wie anderen – gab es Erzählungen von Frauen, die eine Art Geschlechtsumwandlung erlebten und dann «wie Männer» wurden.

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Im Thomasevangelium etwa, einer Schrift aus dem 2. Jahrhundert, fordert Petrus Jesus auf, Maria Magdalena aus dem Kreis der Jünger wegzuschicken, weil sie eine Frau sei. Jesus entgegnet: «Siehe, ich werde sie führen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist wird. Denn: Jede Frau, wenn sie sich männlich macht, wird in das Reich der Himmel eingehen.»

Im Mittelalter festigte sich die Idee, dass Frauen kein eigenes, vollwertiges Geschlecht hätten, sondern Weiblichkeit eine Art reduzierte Männlichkeit sei. Das ging sogar so weit, dass man die Vagina als nach innen gestülpten Penis betrachtete. Für das Christus-Problem der Theologie kam das gerade recht: Denn wenn es im Grunde nur ein Geschlecht gab, konnte ein männlicher Christus natürlich auch die Frauen erlösen. Jesus, der Heilsbringer, wirkte dann gewissermassen als «generisches Maskulinum»: In seiner männlichen Erlösergestalt war das weibliche Heil miteingestülpt. Diese Vorstellung hält sich bis heute – ein früher Konsens war sie aber nicht. Es brauchte Jahrhunderte christlicher «Gender-Debatten», bis diese Überzeugung sich herausgebildet hatte.

Geschlecht und Ehe auflösen

Bei all den theologischen Problemen rund um die Männlichkeit des Erlösers erstaunt es nicht, dass antike Christen und Christinnen auch von der Überwindung des Geschlechts träumten. Viele glaubten, dass Christus mit dem Tod und seiner Auferstehung einen Weg zurück in paradiesische Zustände eröffnet habe. Der Garten Eden stand dabei im Zentrum des frühen Glaubens; antike Kirchen sind voll mit Paradiesdarstellungen.

In der Schöpfungsgeschichte sind sich Eva und Adam erst nach der Erkenntnis von Gut und Böse ihrer Geschlechtlichkeit bewusst geworden. Und was ihre Sexualität betraf, so konnten sie nach dem Sündenfall nicht mehr unschuldig nackt im Garten Eden bleiben, sondern brauchten Regeln und Grenzen. Doch vorher? Wenn alle Menschen dank Jesus ins Paradies zurückkehren konnten, wurde ein Abschied von der Geschlechtlichkeit und einer damit verbundenen Sexualmoral vorstellbar.

So manche urchristliche Gemeinden lebten auf die Transzendierung von Mann und Frau hin. Das ist sehr viel näher an moderner feministischer und queerer Theologie als am christlichen Mainstream von heute.

Im Markusevangelium Kapitel 12, Vers 25, war Jesus selbst der Überzeugung, dass Menschen nach der Auferstehung nicht mehr heiraten würden. Auch Paulus schreibt im vielzitierten Galaterbrief, im Reich Gottes gebe es «nicht mehr männlich und weiblich». Noch expliziter wird das Thomasevangelium, in dem Jesus verkündet, das Königreich Gottes werde erreicht, indem man «das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen macht, auf dass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich sein wird».

Die Transzendierung von Mann und Frau, auf die zumindest manche urchristliche Gemeinden hinlebten: Das ist näher an moderner feministischer und queerer Theologie als am christlichen Mainstream von heute. Tatsächlich scheint es in der frühen Tradition Bewegungen gegeben zu haben, die irdische Geschlechterordnungen und eheliche Beziehungen nicht erst nach der Auferstehung, sondern auch schon im Hier und Jetzt auflösen wollten. So erzählen die Andreasakten, ebenfalls im 2. Jahrhundert verfasst, die Geschichte der Römerin Maximilla, die vom Apostel Andreas – dem Bruder von Petrus – zum Christentum bekehrt wurde.

Sie beschloss, keinen Sex mehr zu haben. Damit ihr Mann Aigeates, römischer Statthalter im griechischen Patras, nichts davon merkte, wies sie ihre Sklavin Euklia an, für ihren Gatten nachts sexuell verfügbar zu sein, und zeigte ihr, wie sie ihn im Bett täuschen konnte. Glaubt man der Geschichte, so soll dies tatsächlich acht Monate lang gut gegangen sein. Statt mit ihrem Ehemann verbrachte Maximilla ihre Nächte im Kreis der christlichen Gemeinde mit dem Jünger Andreas. Doch eines Tages entdeckte Ehemann Aigeates die Scharade und tötete die Sklavin Euklia, drei weitere Sklavinnen, Andreas und sich selbst. Nur Maximilla blieb verschont – und lebte fortan ein friedliches, asexuelles Leben als Christin.

Diversität im Reich Gottes

Die Geschichte von Maximilla ist nur eine von vielen Erzählungen aus der christlichen Anfangszeit, die zeigt: Frühe Christen und Christinnen rangen um die Frage des Geschlechts – und liessen dieses oft wie eine leere Hülle zurück, zugunsten eines Lebens jenseits von Ehe und Sex. Noch im 4. Jahrhundert legte Bischof Gregor von Nazianz als Metropolit von Konstantinopel den Frauen nahe: «Lebt jungfräulich, damit ihr die Mütter von Christus werdet.»

Eine durchaus provokante Anweisung, denn eine solche Abkehr von der heterosexuellen Ehe stand nicht nur im Widerspruch zu den damaligen antiken Sitten und Geschlechtermodellen, sie war im Römischen Reich geradeher­aus illegal: Insbesondere Angehörige der Eliten waren gesetzlich dazu verpflichtet, zu heiraten und legitimen Nachwuchs hervorzubringen – Biopolitik gab es auch damals schon.

Am Anfang des Christentums war Diversität. Die rufe ich gerne in Erinnerung, wenn konservative Theologen die ‹Heilige Familie› zur allgemeinverbindlichen Lebensform ausrufen.

Mit dem Aufstieg des Christentums von einer religiösen Bewegung zur Staatsreligion setzte sich das Ideal einer monogamen Ehe zwischen Mann und Frau immer mehr durch. Dieses theologische Einschwenken auf die Linie des patriarchalen römischen Familienrechts und seine starren Geschlechterrollen setzte zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert ein und war letztlich nichts weiter als eine Anpassung an den damaligen weltlichen Zeitgeist. Zum Sakrament erhob die Kirche die Ehe dann im 12. Jahrhundert – und zementierte erst damit das heterosexuelle Paar als Standard.

Am Anfang des Christentums hingegen war: Diversität. Die rufe ich gerne in Erinnerung, wenn konservative Theologen, Rechtspopulisten und evangelikale Christinnen sich zu Rettern des Christentums stilisieren und die «Heilige Familie» zur allgemeinverbindlichen Lebensform ausrufen. Wenn sie Skandal schreien und feministische und queere Theologinnen als Zerstörerinnen der theologischen Fundamente abwerten, dann möchte ich ihnen zu einem Blick zurück raten und entgegenhalten, dass sie falsch liegen. Christen und Christinnen wie ich, die eine Öffnung der Geschlechterrollen und sexuelle Vielfalt fordern, stülpen dem Christentum keineswegs moderne Vorstellungen über, sondern wir kehren zu den Ursprüngen zurück.

Wir greifen Ideale auf, die am Anfang der christlichen Theologie standen: etwa, dass Jesus Christus binäre Konzepte von Mann und Frau übersteigt, das Christentum traditionelle Eheformen beiseiteschiebt und wir das Patriarchat hinter uns lassen können – mindestens im Paradies, im Reich Gottes. So gesehen sind wir «Gender-Christinnen» die wahren Erbinnen der frühen Christinnen und Christen.

Titelbild: AP/Centro de Estudios Borjanos