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Autorin: Vanessa Buff
Autorin: Andrea Aebi
Freitag, 12. August 2022

Frau Pahud, in Ihrem Buch «Bodies of Memory and Grace» kommen Sie immer wieder auf das Bild einer peruanischen Transfrau zurück. Was hat es damit auf sich?

Gaby ist Teil des Kunstprojektes «Vírgenes de La Puerta». Dafür haben die beiden Fotografen verschiedene Transfrauen im Stil des peruanischen Katholizismus oder als wichtige Ikonen des Landes inszeniert. Gaby trägt eine riesige Dornenkrone und sitzt auf einem grossen, rot bezogenen Sofa. Links und rechts von ihr wurde je ein Platz freigehalten – für alle Transfrauen, die waren, und alle, die noch sein werden. Als ich das Bild vor zehn Jahren im Museum für Moderne Kunst in Lima sah, liess es mich nicht mehr los. Denn was die Künstler mit ihrer Fotoserie tun, ist, diesen Frauen Würde zu verleihen, und zwar ganz bewusst.

Nicht nur das: Durch die religiös-rituelle Insze­nie­rung weisen sie ihnen auch einen Platz zu in der Gesellschaft – und in der Kirche.

… und sie tun damit genau das, was wir tun müssten, aber nicht tun. Deshalb stand ich mit einer grossen Beschämung in der Ausstellung. Ich merkte: Es braucht diese zwei jungen Künstler, um uns daran zu erinnern, wer wir Christen sind und was unsere Aufgabe wäre. Gut zehn Jahre später, nachdem ich «Bodies of Memory and Grace» geschrieben hatte und klar war, dass Gaby auf dem Cover abgebildet würde, kaufte ich die Fotografie. Nun habe ich sie dabei, wann immer ich über das Buch spreche. Ich nehme sie mit in die Runde und stelle sie auf einen Stuhl – damit nicht über Gaby geredet wird, sondern sie auf Augenhöhe da ist.

Welchen Bezug hat die Fotografie zur christlichen Erinnerungskultur?

Sie ist ein Lehrstück: Wenn man wissen will, wie Erinnerungskultur funktioniert und warum es dabei um Performanz geht, also um etwas, das wir aktiv tun, und nicht um einen statischen Archivbestand, dann muss man sich dieses Bild anschauen. Durch die Dornenkrone erinnert Gaby an die Passion Christi in einem historischen Gestern. Zugleich verweisen eine Narbe an ihrem Bauch und der weisse Büstenhalter auf Gabys Passion im Hier und Heute. Auf die körperliche Gewalt und die gesellschaftliche Stigmatisierung, die sie erfährt. Man kann sagen: In diesem Bild verschmelzen die Passion Christi und die Passion Gabys in einem Jetzt. Dabei kommen beiden Körpern der gleiche ikonische Rang und dieselbe Würde zu.

Die Virgen de la Puerta — zu Deutsch in etwa Jungfrau des Tores — ist eine Marienfigur und Schutzheilige der perua­nischen Stadt Otuzco. Der Legende nach soll sie die Ortschaft im 17. Jahrhundert vor Überfällen marodierender Piraten bewahrt haben. Seither huldigen ihr die Menschen alljährlich am 15. Dezember.

Im späteren 20. Jahrhundert erfuhr die Virgen eine Trans­formation: Ein Priester aus dem Norden des Landes soll eine Nachbildung der Figur nach Lima gebracht haben. Im Ge­gensatz zu anderen Geistlichen habe dieser Priester Trans­frauen in seiner Gemeinde willkommen geheissen und sie sogar damit beauftragt, das Fest zu Ehren der Virgen de la Puerta auszurichten. Wie Elke Pahud de Mortanges in ihrem Buch berichtet, schritt daraufhin jedoch die offizielle katholische Kirche ein und unterband das Geschehen. «Und so verlor sich ihre Spur so wie auch die derer, welche sich mit ihr identifizierten (…). Da viele von ihnen in den Achtzigerjahren durch Aids dahingerafft wurden, wurde auch die Erinnerung an sie ausgelöscht», heisst es im Buch.

An diese Geschichte knüpften die beiden Fotografen Andrew Mroczek und Juan José Barboza-Guba an. In ihrer Serie «Vírgenes de La Puerta» inszenierten sie Transfrauen im Stil des peruanischen Katholizismus. 2014 wurden die Bilder im Museum für Moderne Kunst in Lima gezeigt, zeitgleich mit der Serie «Los Chicos», dem zweiten Teil des Projektes, das die Fotografen bezeichnenderweise «Canon» nannten. vbu

Eine starke Aussage.

Und eine zutiefst christliche dazu. Denn im Angesicht eines leidenden Menschen gibt es keinen neutralen Standpunkt, sondern nur den der Parteinahme. Letztlich konfrontiert uns das Kunstwerk mit der alles entscheidenden Frage: Wo stehst du, Mensch, heute im Angesicht meines Leidens? Setzt auch du mir die Dornenkrone auf? Weisst du nicht, dass auch dein Menschsein und Christsein auf dem Spiel steht, wenn du mir meine Würde versagst?

Diese Fotografie ist nicht das einzige Kunstwerk, auf das Sie eingehen. Welche faszinieren Sie besonders?

Mich fesselt eher das Netz aus Narrativen, das sich ergibt, wenn man sich erst einmal auf das Thema einlässt. Wie verschiedenste Kunstwerke aufeinander und auf die christliche Tradition Bezug nehmen. Bei den Performances von Marina Abramović beispielsweise kann man lernen, was Passion heisst und was es bedeutet, sich anderen auszuliefern, wie Christus es getan hat. Ich bin auch Andy Warhols «Last Supper»-Serie begegnet, also Adaptionen von Leonardo da Vincis «Letztem Abendmahl». Auf einem Bild sieht man lediglich die zentrale Christusfigur und daneben in gleicher Grösse einen Bodybuilder. Der Titel des Bildes ist «Be A Somebody with A Body». Wenn man nur schnell hinschaut, dann denkt man: Aha, alles klar, eine Kon­tradiktion – hier die vergeistigte Leiblichkeit, der unkörperliche Leib Christi, und da der Bodybuilder, der ganz dem Materiellen hingegeben ist.

«Ich habe eine Theologie der Geburt. Als ich selber Mutter wurde, dachte ich: Jetzt weiss ich, wie sich Sterben anfühlt. Und zwar in einer einzigen Sekunde.»

Aber?

Wenn man sich auf das Werk einlässt, merkt man, dass Warhol etwas verstanden hat: Dass es im Christentum zentral auf den Körper ankommt, und zwar in dessen ganz konkreter Materialität und Fleischlichkeit. Denn am Anfang mag wohl das Wort gewesen sein. Doch dieses wurde eben nicht Buch oder Schrift, sondern Körper. Mir ist das in der modernen Kunst mehrfach passiert: Man spürt eine Art Widerständigkeit oder sogar Übergriffigkeit gegenüber der christlichen Religion, vielleicht auch eine bewusste Kritik. Aber bei mir führt das oft zu einer Relektüre: Ich beginne, nochmals anders über unsere Traditionen, über unsere eigene Erinnerungskultur nachzudenken.

Ein fundamental körperliches Ereignis fehlt in Ihrem Buch – nämlich die Geburt. Warum?

Für mich persönlich spielt Geburt eine wichtige Rolle. Ich würde sogar sagen, ich habe eine Theologie der Geburt. Als ich selber Mutter wurde, dachte ich: Jetzt weiss ich, wie sich Sterben anfühlt. Und zwar in einer einzigen Sekunde. Ich hatte das Gefühl, jetzt bin ich mir in meiner Körperlichkeit ganz entzogen, es geschieht etwas mit mir, auf das ich keinerlei Einfluss habe. Einmal berichtete ich einer Bekannten davon, und sie wiederum erzählte mir von ihrer Grossmutter: Als diese im Sterben lag, sagte sie «J’accouche – ich gebäre.»

Dennoch spielt die Geburt Christi und die Erinnerung daran in Ihrem Buch keine Rolle. Es ist fast so, als wäre er einfach plötzlich da gewesen.

Es stimmt, zur Geburt gibt es theologischen Nachholbedarf. Die Art, wie Theologie bisher über dieses Thema nachgedacht und gesprochen hat, ist sehr weit weg von der spirituellen Erfahrung, die viele Frauen bei der Geburt machen. Was im Buch aber durchaus vorkommt, ist der Vorgang des Gebärens.

Inwiefern?

Es gibt Darstellungen von Jesus am Kreuz, in denen aus seiner Seitenwunde etwas Neues geboren wird – die Ecclesia, die Kirche. Bezeichnenderweise wird diese fünfte Wunde oft als Vulva dargestellt. Sie ist ein zentrales Motiv der christlichen Ikonografie und in meinem Buch.

Stigmata, Reliquien oder Heilige, die ihr Geschlecht wechseln: Für Reformierte, zumal im 21. Jahrhundert, wirken einige Beispiele der christlichen Erinnerungs­kultur, die Sie beschreiben, fast wie Zauberei. Wie stehen Sie dazu – als Wissenschaftlerin einerseits und als glaubende Person andererseits?

Ich bin da in der Tat ambivalent: Ein «Ja, aber …» trifft meine Haltung vielleicht am besten. Ich muss dazu sagen, dass ich eine ungarische Urgrossmutter habe und in dieser Tradition sozialisiert wurde – in einer sehr dörflichen, ursprünglichen Form des Katholizismus. Mit Kerzen, Kräutern und allem, was sonst noch so zur rituellen Ausstattung der Religion gehört. Diese Seite des Glaubens hat für mich also erst mal nichts Befremdliches.

Wann wird diese Art von Glauben gefährlich?

Dann, wenn es einen entfremdet oder abhängig macht. Vielleicht auch, wenn es Ängste verursacht. Aberglauben finde ich abstos­send, wenn er in Richtung Magie oder Hokuspokus geht. Allerdings – und hier kommt nun das «Ja, aber …» ins Spiel – sind Rituale, die wir heute kennen, beispielsweise dem Verspeisen von Reliquien gar nicht so unähnlich.

Das müssen Sie erklären.

Als meine Tochter drei Jahre alt war, musste ich ins Krankenhaus. Es war das erste Mal, dass ich längere Zeit von ihr getrennt war, und wegen der Art der Behandlung durfte ich damals keinen Besuch bekommen. Und so nahm ich ein gebrauchtes Paar Söckchen von meiner Tochter mit, weil ich das Gefühl hatte, so kann ich sie wenigstens riechen – da habe ich ein Stück von ihr bei mir. Wenn nun die Wiener Begine Agnes Blannbekin die vermeintliche Vorhaut Christi isst und darüber in Verzückung gerät, mag uns das aus heutiger Sicht abstrus erscheinen. Doch eigentlich ist das nichts anderes als das, was ich getan habe: Ein Gegenstand wurde zu einer Art Pars pro toto, zu einem Platzhalter und ­Stellvertreter.

Es scheint, als habe der Körper im frühen Christentum eine viel grössere Rolle gespielt als heute. Warum ist uns diese Leiblichkeit abhanden gekommen?

Ich tue mich schwer damit, eine simple Antwort zu geben. Wichtig scheint mir, dass im Laufe der Zeit das Körperliche und die Emotionen immer mehr dem Weiblichen zugeschrieben wurden, während das Geistige und die Vernunft eher männlich konnotiert waren. Dabei geht es auch um Macht. Nehmen wir das Beispiel der stigmatisierten Frauen des 19. Jahrhunderts. Von ihnen gab es Hunderte, doch nur diejenigen, die von kirchlich einfluss­reichen Männern protegiert wurden, hatten die Chance, als Heilige anerkannt zu werden. Die anderen landeten als Irre in der Anstalt oder als Betrügerinnen im Gefängnis.

«Von der Antike bis zum 17. Jahrhundert gab es nur ein Geschlecht. Die binäre Ordnung, die heute gerne als natürlich propagiert wird, ist eine Erscheinung der Neuzeit.»

Was interessiert Sie persönlich an dem Thema?

Der Körper ist von elementarer Bedeutung für uns Menschen. Wir alle, Sie und ich, wir sind fleischliche, materielle Körper. Wir haben Haut und Haar. Wir fühlen und denken nicht ohne unseren Körper, und wir glauben auch nicht ohne ihn. Darum gibt es ein fundamentales theologisches Interesse, darüber nachzudenken.

Ist «Bodies of Memory and Grace» ein katholisches Buch?

Ich finde, es ist sogar ausgesprochen protestantisch! Und zwar insofern, als alle angeführten Beispiele die unmittelbare Beziehung des Individuums zu ihrem Gott aufzeigen: ich und mein Gott. Es geht eben gerade nicht um die kirchlich-institutionelle Vermittlung, sondern um die persönliche Performanz und Verkörperung christlichen Erinnerns. Darin liegt auch eine grosse Selbstermächtigung.

Einiges davon ist zwar interessant zu lesen, wirkt insgesamt aber doch eher nebensächlich. Etwa die Frage nach der Erektion am Kreuz. Warum müssen wir uns damit beschäftigen?

Gerade für dieses Beispiel gibt es einen forschungsgeschichtlichen Grund: Es gab unter Mediävistinnen einen relativ prominenten Streit darüber, ob feministische Kreise Jesus zu sehr verweiblichen. Um dem etwas entgegenzusetzen, wurde auf Darstellungen verwiesen, auf denen Jesus angeblich mit einer Erektion am Kreuz zu sehen ist. Tatsächlich sind diese Bilder nur sehr dezent, der Penis wird allenfalls angedeutet. Es geht hier aber – das ist mir wichtig zu betonen – gar nicht um die Frage, ob Jesus ein sexuell aktiver Mann war. Sondern darum, inwiefern sein Körper als fluid zu denken ist, also alle Aspekte des Weiblichen und des Männlichen vereinte.

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Antje Schrupp

Wie meinen Sie das?

Es geht mir in dem Buch auch um die Frage, wie Geschlecht im Laufe der Jahrhunderte auf den Leib geschrieben wurde. Zen­-tral dafür ist das – in meinen Augen phänomenale – Werk von Thomas Laqueur, «Making Sex», oder auf Deutsch «Auf den Leib geschrieben». Laqueur zeigt, dass es von der Antike bis zum 17. Jahrhundert nicht zwei Geschlechter gab, sondern nur eines. Und dieses eine Geschlecht gab es in einer fluiden Ausformung. Ursprung dieser Idee ist das frühe medizinische Wissen etwa des griechischen Arztes Galenos von Pergamon. Dieser sagte, dass sich das männliche Genital gegen aussen gewendet hat, während das weibliche im Innern des Körpers verblieb, weil diesem die nötige Hitze und Kraft fehlte, sich vollends nach aussen zu drücken. Letztlich aber sind beide ein und dasselbe.

In dieser Vorstellung ist also ein Jesus mit Brüsten oder gar ein säugender Jesus, wie man ihn auf gewissen mittelalterlichen Darstellungen sieht, gar nichts Ungewöhnliches?

Ganz genau. Auch die vulvaförmige Seitenwunde, die ich an­gesprochen habe, irritiert nur aus heutiger Sicht. Für die Menschen des Mittelalters jedoch war daran überhaupt nichts Verstörendes. Weil in ihrer Vorstellung alle Formen von Körperflüssigkeiten – Muttermilch, Blut, Sperma – die gleiche Substanz sind, nur in unterschiedlicher Ausbildung. Das Binäre, von dem heute gerne gesagt wird, dass es der natürlichen Geschlechterordnung entspricht, ist eine Erscheinung der Neuzeit und steht im Zusammenhang mit dem medizinischen Fortschritt seit dem 18. Jahrhundert.

Ganz konkret: Warum muss sich die Theologie mit diesem Thema auseinandersetzen?

Wenn wir uns Christen nennen, dann gibt es ein paar Ankerpunkte, an die wir uns halten müssen. Die Grundbotschaft der Evangelien lautet: «Es gibt nicht mehr Juden, noch Heiden, nicht mehr Griechen, noch Römer, ihr seid alle eines in Christus.» Und es ist absolut absurd, die Ebenbildlichkeit des Menschen mit ­einem vermeintlich biologischen Geschlecht zu identifizieren.

Das hat theologische Sprengkraft.

Entsprechend sind auch die Reaktionen auf das Buch nicht immer positiv. Respektive: Aus protestantischen Kreisen sind sie eher positiv als aus katholischen. Weil es bedeutet, die Büchse der Pandora zu öffnen.

Elke Pahud de Mortanges (* 1962) hat katholische Theologie in Tübingen studiert. Sie promovierte mit einer Arbeit über «Ernst Bloch und das Christentum» und arbeitete anschliessend als Lehrbeauftragte für Fundamentaltheologie an der der Universität Fribourg. Seit 2013 ist sie dort Lehrbeauftragte für Gender Aspects in Religious Studies. Ausserdem ist sie ausserplanmässige Professorin für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

Inwiefern?

Ich sage es bewusst plakativ: Im Katholizismus ist die Ämter­frage damit verbunden, ob man Penisträger ist oder nicht. Die Mitte und der Kern des Christentums haben aber nichts damit zu tun, was ein Mensch zwischen den Beinen trägt – oder eben nicht.

Sie sagen also, aus christlicher Perspektive sind alle Menschen gleich und es ist nicht zulässig, aus dem Geschlecht irgendeine Form der Andersbehandlung abzuleiten.

Das ist ein christlicher und gleichzeitig humaner Grundsatz. Das, was uns alle eint und zu Menschen macht, das tragen wir nämlich eine Handbreit über den Genitalien – unseren Bauchnabel. Er ist das Zeichen, dass wir alle herkünftig sind von einem anderen. Dass wir vulnerable Wesen sind. Und dass wir alle einmal enden werden.

Ist Ihr Buch eine bewusste Kritik an der katholischen Kirche?

Sagen wir es so: Es täte meiner Kirche gut, sich anders mit Körperlichkeit, Sexualität und Begehren auseinanderzusetzen. Auch diese ganzen Missbrauchsgeschichten rühren von einem Mangel des Sich-Auseinandersetzens mit diesem Thema. Für manche meiner Kollegen gilt unumstösslich: Es gibt erstens von Natur aus nur Männer und Frauen; zweitens fühlen sich Männer nur als Männer und Frauen nur als Frauen; drittens benehmen sie sich entsprechend diesem Geschlechterbild; und viertens begehren sie ausschliesslich das jeweils andere. Damit wird etwas sozial Konstruiertes zu etwas vermeintlich Natürlichem gemacht. Judith Butler und Pierre Bourdieu sprechen hier von der Ontologisierung des Natürlichen.

Sie weichen aus.

Das liegt daran, dass ich nicht über diese ganzen Ämter- und Missbrauchsdiskurse sprechen möchte. Sie sind wichtig, aber ich möchte weitergehen: Mir geht es um die Selbstermächtigung aller Menschen und um das Aufbrechen der binären Ordnung in Geschlechterfragen. Das ist der Grund, warum ich Gaby, die Fotografie, immer dabei haben möchte.

«Es ist gut, dass die LGBT-Community ihren Platz in der Mitte der Kirchen einfordert. Dieser steht ihnen zu, und zwar nicht aufgrund gönnerhafter ­Gesten.»

Sie haben von negativen Rückmeldungen auf Ihr Buch gesprochen. Was meinten Sie damit?

Das Buch scheint in der Tat zu irritieren. Wohl nicht zuletzt wegen Gaby, löst es emotionale Reaktionen aus. Ein Beispiel vielleicht: Mein Mann, der einen Lehrstuhl an der Universität Fribourg hat, hängte das Plakat zu meinem Buch bei sich an der Bürotür auf; eines Morgens war es heruntergerissen. Mein Mann hängte umgehend ein neues auf, und so kam lediglich Papier zu Schaden. Die Aggression aber, die in dieser Geste lag, ist Spiegel jener Anfeindungen, denen Transmenschen wie Gaby leibhaftig ausgesetzt sind. Und die sind letztlich ein Angriff auf unser aller Würde und Menschsein. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Christinnen Farbe bekennen. Farbe bekennen in den Farben des Regenbogens.

Transfeindlichkeit ist allerdings nicht nur in Peru, sondern auch bei uns ein Thema.

Absolut, wenn auch in anderer Ausprägung. Ich war ein grosser Fan von Alice Schwarzer; sie und ihre Generation von Feministinnen haben Grosses geleistet. Aber ich finde es sehr bitter, in welche Richtung sie sich entwickelt hat. Die Unterteilung in «richtige Frauen» und «nicht richtige Frauen» und die Vorstellung, dass «die richtigen Frauen» in den Frauenhäusern Angst haben müssten vor verkleideten Männern, die sich so Zutritt verschaffen – das finde ich absurd. Mein Punkt ist: Das vermeintlich Biologische, das ist ein Phantom.

Eine letzte Frage: «Das Private ist politisch» ist ein zentraler Leitsatz des Feminismus. Gilt das auch für den Körper?

Aber auf jeden Fall! Der Körper ist per se politisch, und er ist öffentlich, auch da wo er privat scheint. In der Art, wie ich mich als Frau fühle und in der Welt bewege, konstruiere und performe ich Normen, Codes und Vorstellungen gesellschaftlicher und religiöser Natur. Ich reproduziere und verfestige sie. Es ist gut, dass die LGBT-Community das Recht für alle Körper einklagt, im öffentlichen Raum präsent zu sein. Und dass sie ihren Platz in der Mitte der Kirchen einfordert. Dieser steht ihnen zu, und zwar qua eigenen Rechtes und nicht aufgrund gönnerhafter Gesten. Denn sie kommen nicht von aussen, sondern aus der Mitte des Christlichen selber. Das habe ich durch Gaby gelernt. Und ich frage Sie: Wie könnten wir als Christinnen noch in den Spiegel schauen, wenn wir uns dem entgegenstellten?

Elke Pahud de Mortanges : « Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums ». TVZ, Zürich 2022; 238 Seiten; 29.80 Franken.