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Autorin: Johanna Haberer
Freitag, 10. Dezember 2021

Mit bestimmten Worten ist es wie mit den afrikanischen Waldelefanten: Sie können aussterben. Und mit ihnen geht dann eine ganze Welt, ein ganzes Ökosystem unter. Der kleine Waldelefant zum Beispiel trägt in den Falten seiner Haut wie auch im Kot allerlei Samen mit sich herum und verbreitet sie. Diese Samen forsten ganz nebenbei den Urwald immer wieder auf und erhalten das System am Leben. Stirbt der Elefant aus, tut es mit ihm auch der Wald.

So ähnlich verhält es sich mit dem Wort «Seele». Stirbt dieses Wort aus, vertrocknen auch alle verwandten Worte, die zur Gedankenwelt der Seele gehören: Empfindsamkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Vergebung, Gewissen, Glaube, Liebe und Hoffnung. Alle diese inneren Bewegungen und Zustände haben – so stellt man sich das im allgemeinen vor – ihre Wohnung in der Seele. Und mit dem Verschwinden der Seele wird auch ein zentraler Begriff der abendländischen Geistesgeschichte obsolet.

Um manche Wörter ist es nicht schade, wenn sie aussterben: der Backfisch etwa, der Blaustrumpf und der Hagestolz. Ihnen wollen wir nicht nachtrauern. Sie transportieren den abgestandenen Geschmack des 19. Jahrhunderts und dessen Frauen- und Männerbilder. Aber wie ist es mit der Seele? Von diesem kleinen Wort mit grosser Geschichte, angesiedelt in den geistigen Gefilden der Religion, der Kultur und der Philosophie, handelt dieser Essay.

Seelenloses Denken und Fühlen

Seit der Aufklärung geht es bergab mit diesem Wörtchen. Die Seele wird mit dem Gehirn gleichgesetzt. Und damit glauben die Neuro- und Kognitionswissenschaften, sie könnten sich das Wesen des Menschen gefügig machen, ihn als berechenbare Grösse definieren, dessen chemisch-biologisch-physikalische Prozesse im Körper und Gehirn vorhersehbar und letztlich manipulierbar sind. Das Leben, Denken und Fühlen wird zum seelenlosen Baukasten.

Die Ahnung des Unverfügbaren eines jeden Menschen wird verfügbar gemacht bis hin zu dem Ziel, das menschliche Gehirn als Kopie in digitale Welten hochzuladen. Der Traum vom seelenlosen Lebewesen beginnt Gestalt zu gewinnen in den Visionen der Transhumanisten und Posthumanisten, also all derer, die den Menschen in eine höhere Stufe führen oder ihn auf lange Sicht in seiner bisherigen Form ganz hinter sich lassen wollen. Das Wort «Seele» mit seinen jahrtausendealten Denkhorizonten wird zu einem Widerstandsbegriff, der die Unverfügbarkeit des Menschen und sein Geheimnis zu wahren sucht.

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In den akademischen Debatten der Philosophen macht sich lächerlich, wer heute noch von der Seele spricht. Niemand hat sie je gesehen. Oder wie es Oscar Wilde in seinem Märchen «Der Fischer und seine Seele» formuliert: «Was nützt mir meine Seele? Ich kann sie nicht sehen. Ich kann sie nicht berühren. Ich kenne sie nicht.» Selbst die Theologen sind in ihrem Eifer, mit den modernen Wissenschaften mitzuhalten und im Gespräch zu bleiben, allzu bereit, die Seele aus ihrem Wörterbuch zu streichen oder sie jedenfalls im Gehege der Gottesdienste und der Liturgien zu verwahren und zu verbergen.

«Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund», so sprechen die Katholiken, bevor sie die Eucharistie empfangen. Es ist schwer zu erklären, was genau mit diesem Satz gemeint ist und was jeder einzelne Mensch empfindet, wenn er dieses Mantra ausspricht.

«Johann Sebastian Bach hat der Seele sogar eine Stimme verliehen.»

Johann Sebastian Bach hat der Seele sogar eine Stimme verliehen. Wenn sich in Bachkantaten die Seele mit Jesus oder Gott unterhält, bekommt sie einen sehr hohen, hellen und weichen Sopran. Die Seele, sie ist ein wenig wie die Musik – man kann sie spüren, aber sie entzieht sich immer, wenn man sie zu fassen versucht.

Schon der Philosoph Aristoteles, der im 4. Jahrhundert vor Christus ein langes Werk über die Seele verfasst hat, gesteht darin, dass es schwierig sei, zu beschreiben, was es mit der Seele genau auf sich habe. Denn das Wort – griechisch psyche, lateinisch anima – beschreibt für ihn nichts Geringeres als das «Prinzip der Lebewesen». Das deutsche Wort «Seele» wurzelt in dem Wort See, denn man dachte, das Wesen der Menschen entstiege dem Wasser.

Aber wie fasst man dieses Prinzip der Lebewesen in ein logisches Konzept? Aristoteles bleibt hier vage: «In jeglicher Hinsicht gehört es aber zum schwierigsten, eine verlässliche Erkenntnis über sie (die Seele) zu gewinnen.» Sein Lehrer Platon behauptete jedenfalls, die Seele sei der unvergängliche und unsterbliche Teil an uns Menschen. Damit hatte er eine Vorstellung von der Seele geboren, die bis heute in unseren Köpfen nistet, wenn wir beispielsweise das Fenster öffnen, sobald ein Mensch gestorben ist, im Glauben, jetzt könne die Seele des Toten hinausschweben.

Die Vorstellungen, was so eine Seele macht, sind in der Kulturgeschichte sehr unterschiedlich. Die Seele als Personenkern und Lebensprinzip, als Botschafterin aus einer anderen Welt, die uns in Träumen den Weg zeigen kann, die Seele als wandernde Wesenheit, die sich einen anderen Wirt sucht, wenn die Wohnung des alten Körpers verrottet ist.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts machte sich ein Arzt unter seinen Kollegen lächerlich, als er versuchte, dieses Ding von einer Seele nach empirisch-naturwissenschaftlichen Regeln nachzuweisen. Er wog Sterbende vor dem Tod und verglich deren Gewicht mit jenem der nunmehr Verblichenen. Sein Ergebnis: Im Durchschnitt waren die Toten 21 Gramm leichter. Und so glaubte er bewiesen zu haben, dass der Seele etwas Materiales anhaftet. Ein Gewicht von 21 Gramm.

«Seele ist ein Wort für alles, was einen Menschen innerlich bewegt und anrührt.»

Die modernen Lebenswissenschaften, die sich mit den Prozessen und Strukturen von Lebewesen befassen, vermeiden den Begriff der Seele, als ob schon das Wort den nüchternen und naturwissenschaftlichen Blick auf das Prinzip der Lebewesen verstellte. Sie folgen damit einem Prozess, der mit der wissenschaftlichen Konzentration auf das menschliche Gehirn, die neuen Kognitions- und Neurowissenschaften, begann.

«Wie das Gehirn die Seele macht» betitelte der Hirnforscher Gerhard Roth eines seiner neueren Bücher und glaubte, das menschliche Gefühlsleben, das Verantwortungsgefühl bis hin zu den moralischen Entscheidungen in den Gehirnregionen entdecken und nachvollziehen zu können. Aber selbst er benutzt – wenn auch in der Verneinung – stets das Wort «Seele», um sich verständlich zu machen.

Gleichzeitig hat sich das Wort hartnäckig in unserer Alltagssprache festgekrallt: Wir sind immer noch «ein Herz und eine Seele» oder «seelenverwandt», und manchmal im Leben stellen wir fest, dass wir unsere «Seele verkauft» haben. Ein guter Wein hält «Leib und Seele» zusammen, und Betonwüsten bezeichnen wir als «seelenlos». Es scheint, als ob wir alle ahnten, was mit dem Wort «Seele» gemeint ist, aber den Begriff – mangels präziser Aussagekraft – im wissenschaftlichen Gespräch abgeschafft haben. Seele ist ein Wort für alles, was einen Menschen innerlich bewegt und anrührt. Die Seele «macht» den Körper, wenn wir erröten oder erbleichen, wenn wir Gänsehaut bekommen oder uns im Schock die Beine nicht mehr tragen wollen.

Innenperspektive eines Menschen

Wir meinen mit der Seele das Unverwechselbare an jedem Individuum: den ganz besonderen und einzigartigen Blick auf die Person und ihr Leben, durchwoben mit ihren Antriebskräften, Wünschen und Erfahrungen. 2004 verfasste eine grosse Gruppe von Hirnforscherinnen und Kognitionswissenschaftlern ein Manifest, in dem sie die Hirnforschung als Königswissenschaft vom Menschen ausrufen und in Aussicht stellen, dass man bald verstehen werde, wie das menschliche Hirn tickt. Man könne dann Parkinson heilen und Alzheimer.

Doch auch dieses selbstbewusste Manifest zieht die Grenze zwischen dem, was man wissen kann, und dem, was ein Geheimnis bleibt. Da heisst es: «Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zugrunde liegen, so bleibt die Eigenständigkeit dieser ‹Innenperspektive› dennoch erhalten.

Denn auch eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Faszination, wenn man genau verstanden hat, wie sie aufgebaut ist. Die Hirnforschung wird klar unterscheiden müssen, was sie sagen kann und was ausserhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt, so wie die Musikwissenschaft – um bei diesem Beispiel zu bleiben – zu Bachs Fuge Einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit aber schweigen muss.»

«Wir versuchen einander mit Sprache, Gesten und Gebärden mitzuteilen, wie es um unser Seelenleben bestellt ist. Zur Gänze wird uns das nie gelingen.»

Seele meint also die Innenperspektive eines Menschen, die bei jedem einzigartig ist und mit der jede und jeder allein ist. Niemand kann in den anderen gänzlich hineinschauen. Jeder bleibt letztlich allein bei sich zuhause. Wir versuchen einander mit Sprache, Gesten und Gebärden, mit Literatur, Bildern und Musik mitzuteilen, wie es um unser innerstes Seelenleben bestellt ist. Zur Gänze wird uns das aber nie gelingen. Und selbst wenn Technik und Wissenschaft irgendwann in der Lage sein sollten, unsere inneren Bilder zu scannen und sichtbar zu machen, es wird doch immer der Blick von aussen bleiben.

Es scheint, als habe das überholte und überkommene Wörtchen «Seele» in den letzten Jahren eine Art Renaissance erlebt. Millionen von jungen Leuten wurden verzaubert von den Romanen vom Zauberlehrling Harry Potter, der mit seinem Erzfeind, dem schwarzen Zauberer Voldemort, zutiefst seelenverwandt ist und erst einen Tod sterben muss, um seine Seele zurückzugewinnen.

Walt Disney hat vor einem Jahr den Zeichentrickfilm «Soul» auf den Markt gebracht, der alle Seelenvorstellungen der Religions- und Kulturgeschichte durchdekliniert. Und die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi erhielt für ihren Film «Körper und Seele» 2018 den Goldenen Bären der Berlinale, den Oscar für den besten ausländischen Film und den europäi­schen Filmpreis.

Erzählt wird die Geschichte zweier beschädigter Menschen, die sich auf einem Schlachthof begegnen. Die Liebe zueinander und ihre Träume bringen sie schliesslich in Bewegung und befähigen sie letztlich, aus ihren inneren Gefängnissen auszubrechen. Und selbst in den kulturwissenschaftlichen Diskursen ist eine neue Aufmerksamkeit dafür zu entdecken, was mit dem Wort «Seele» gemeint sein könnte.

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Vielleicht ist dieses neue Interesse an einem alten, schwer definierbaren Wort damit zu erklären, dass das Modell für unsere Selbstreflexion als Menschen immer öfter der Computer ist. Wir vergleichen unsere Intelligenz mit der künstlichen und schneiden dabei in der Regel schlecht ab. Die künstliche Intelligenz agiert schneller und effizienter und ist dabei weniger fehleranfällig. Diese neue Form von Intelligenz setzt den Impuls, uns selbst zu fragen, was den Menschen von der Maschine unterscheidet. Wo ist der Unterschied zwischen einer digitalen Logik, die auf Ja und Nein beruht, und der menschlichen Natur, die in der Ambivalenz des «Vielleicht» zuhause ist?

Die Antwort auf diese Frage führt zum Begriff der «Seele», führt zur Beobachtung, dass wir kohlenstoffbetriebene Lebewesen einfach anders beschaffen sind als ein Computerprogramm. Fehleranfällig? Ja! Aber wir haben Intuition und Krea­tivität. Wir sind in der Lage, uns zu verändern und völlig Neues zu denken. Wir wissen, dass das Leben zwischen Ja oder Nein nicht aufgeht, und lassen uns bewegen und berühren von anderen Lebewesen. Wir jubeln und wir trauern und wir wachsen über uns hinaus. Wir sind beseelt und können es letztlich nicht fassen.

Johanna Haberer: «Die Seele. Versuch einer Reanimation». Claudius, München 2021; 152 Seiten, 25.90 Franken.