Auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere trinkt Marc Jost ein Rivella. In der «Galerie des Alpes» haben sich Familie, Freunde und Weggefährten versammelt. Jost hat seinen engsten Kreis zum Apéro ins Café des Bundeshauses geladen. Eben ist er als Nationalrat vereidigt worden – als einziger an diesem ersten Tag der Wintersession 2022. «Es ist ein besonderes Gefühl, plötzlich dazuzugehören», sagt er.
Jost sitzt neu für die Evangelische Volkspartei (EVP) im Parlament. Seine Einsetzung war einer jener raren Momente, in denen die Kleinpartei im Rampenlicht stand. In gelber Krawatte und begleitet von zwei Weibeln trat Jost nach vorne, hörte sich die Formalien an, hob die Hand und sagte: «Ich schwöre es.» Applaus, Blumenstrauss, Selfie. Und schon waren die Scheinwerfer wieder woanders: bei der Debatte zur Pflegeinitiative, den anstehenden Bundesratswahlen, dem Fussball: Es ist der Tag, als die Schweiz an der WM in Katar gegen Brasilien spielt.
Beim Apéro im Bundeshaus stehen die Gäste um ein paar Stehtische herum. Der Bruder erwähnt im Gespräch, es sei ein langersehnter Traum von Marc Jost gewesen, auf nationaler Ebene zu politisieren. «Er hat sich immer für die grossen Fragen interessiert.» Ex-Nationalrat Heiner Studer, der als Josts Mentor gilt, erzählt, wie er Jost einst überreden musste, in die Politik zu gehen. Ein Mann, der sich als «Supporter der Evangelischen Allianz» vorstellt, nippt an einem Glas Weisswein und findet, in der Gesellschaft würden familiäre Werte verwischt. Da könne Marc Jost vielleicht gegensteuern. «Starke Beziehungen sind das Fundament von allem.» Schliesslich trommelt Jost seine Leute zu einem Schnappschuss mit dem Handy zusammen, dann muss er zurück in den Saal.
Jost ist einer breiten Öffentlichkeit durch seine Arbeit als Generalsekretär der Evangelischen Allianz der Schweiz bekannt geworden – einem wertkonservativen Verband, der frei- und landeskirchliche Gemeinden vertritt. Als solcher bekämpfte Jost unter anderem die «Ehe für alle» oder die Ausweitung der Antirassismusstrafnorm auf die sexuelle Orientierung.
Er sei einer, der sich traut, gegen den Zeitgeist zu argumentieren, sagen seine Befürworter. Aufsehen erregte er mit einem Interview zusammen mit seinem homosexuellen Vater vor drei Jahren. «Lebt Ihr Vater ein Leben in Sünde?» fragten ihn die Journalisten der «NZZ». Jeder Mensch sei ein Sünder, antwortete Jost. Doch in diesem Punkt sei für ihn die Bibel ganz klar: «Sexualität gehört ausschliesslich in die Ehe von Mann und Frau.»

Marc Jost erbte im Dezember 2022 den Nationalratssitz der zurückgetretenen Marianne Streiff-Feller.
Ein ehemaliger Realschullehrer und Freikirchen-Pastor, der mit gesellschaftspolitisch brisanten Ansichten aneckt, ist das neue Gesicht der EVP. Das ist auch darum bemerkenswert, weil die Namensänderung der CVP in «Die Mitte» für die EVP eine Weichenstellung war. Denn dadurch wurde die Kleinpartei zur einzig verbliebenen Partei im Bundeshaus mit offenem religiösem Bezug. Im Jahr der eidgenössischen Wahlen stellt sich die Frage: Wohin steuert die EVP? Und was versteht sie unter den christlichen Werten, die sie predigt?
Einigkeit scheint nur in einem Punkt zu herrschen: Die Partei muss längerfristig wachsen. Derzeit hat die EVP drei Sitze im Nationalrat inne – neben Marc Jost gehören Präsidentin Lilian Studer sowie Vizepräsident Nik Gugger dem Parlament an. Das sind zwei zu wenig für eine eigene Fraktion und damit für wirkliches Gewicht in Bern.
«Jung, blond, bibelfest»: Der Kampf gegen Vorurteile
Die Frau, die wissen sollte, wie die Partei in die Zukunft geht, sitzt an einem langen Konferenztisch in einem Altbau-Büro, in dem sich auch Fernseher und Mikrowelle befinden. Parteipräsidentin Lilian Studer empfängt in der nationalen EVP-Zentrale in der Berner Altstadt, unweit des Bundeshauses. Das Gebäude, in dem sich die Büros befinden, gehört dem Evangelischen Gemeinschaftswerk, einer Freikirche. Wahlplakate zieren die Wände, in einem angrenzenden Büro hängen in drei Reihen untereinander die Fotos aller bisherigen EVP-Nationalrätinnen und -nationalräte, es sind deren 19. Das Portrait von Marc Jost fehlt noch.
Zwei Tage vor dem Treffen ist EVP-Mann Thomi Jourdan im Kanton Baselland zum Regierungsrat gewählt worden. «Für uns ist das ein Meilenstein», sagt Studer. 4300 Mitglieder zählt die EVP heute; auf Gemeinde- und Kantonsebene stellt die Partei schweizweit etwas über 200 Politikerinnen. Aber es ist das erste Mal in der über 100jährigen Geschichte der Partei, dass eines ihrer Mitglieder in eine Kantonsregierung gewählt wurde.
Studer verspricht sich vom Wahlerfolg in Baselland «Schwung fürs Wahljahr». Ziel für den Herbst sei es, die drei Sitze im Nationalrat zu halten und, wenn möglich, einen vierten dazu zu gewinnen. Am besten stünden die Chancen dafür in Zürich. Allerdings: Studers eigener Sitz ist «wacklig», wie sie zugibt. Vor vier Jahren erst konnte sie diesen Sitz gewinnen, nachdem ihr Vater Heiner Studer im Jahr 2007 abgewählt worden war. Nun droht ihr dasselbe.
Zwar ist Studer im Aargau durch 17 Jahre im kantonalen Parlament eine bekannte und etablierte Politikerin. Einen Strich durch die Rechnung machen könnte ihr aber das Wahlsystem. Denn vor vier Jahren reichte es vor allem dank einer Listenverbindung mit der BDP. Diese ging inzwischen in der Mitte auf. Das ist für die EVP ein Problem. Denn tut sie sich mit einer grösseren Partei wie der Mitte zusammen, dann profitiert davon eher die Grosspartei. Eine andere Kleinpartei, mit der die EVP im Aargau kooperieren könnte, ist nicht in Sicht, und bei einem Solo-Wahlkampf dürfte es auch nicht reichen. Anders gesagt: Es ist durchaus möglich, dass die EVP in Bern bald nicht einen Sitz mehr, sondern einen weniger hat.
Dagegen stemmt sich die Partei selbstredend. Lilian Studer muss etwas in ihren Unterlagen kramen, bis sie alle drei Themen zusammen hat, mit denen die EVP den anstehenden Wahlkampf bestreiten will. Aus dem Stegreif nennt sie die «intakte Umwelt» sowie «starke Familien». Doch der dritte Begriff will ihr partout nicht einfallen. Sie komme gerade von einer Kommissionssitzung und habe den Kopf ganz woanders, entschuldigt sie sich, ehe sie doch noch fündig wird: «Ein respektvolles Miteinander.»
Diese wohlklingende Formulierung beinhaltet ein ganzes Bündel an Themen: den Kampf gegen Armut und für eine Schweiz ohne Ausbeutung und Menschenhandel sowie eine verantwortungsvolle Wirtschaft. Und sie erklärt vielleicht auch, weshalb die EVP bisweilen als brav wahrgenommen wird. In der Politik, wo gestritten, gekämpft, ja teilweise intrigiert wird, tritt die EVP als Mahnerin des Anstands auf.

Lilian Studer ist seit zwei Jahren Präsidentin der EVP Schweiz. Sie gilt als progressiv, legt aber Wert auf das Etikett «Bürgerlich».
Wer für die EVP kandidiert, der kämpft unablässig gegen Vorurteile. Dafür ist Studer das beste Beispiel. Erstmals geriet sie 2007 als Präsidentin der Jungen EVP ins nationale Rampenlicht. Die Migros hatte Plakate aufgehängt, auf denen Nationalratskandidatinnen und -kandidaten in Unterwäsche posierten. Über Nacht zogen Studer und ihre Mitstreiterinnen einige Frauen auf den Plakaten mit Tops und Jupes züchtig an. Sie hätten auf humorvolle Weise auf sexistische Werbung aufmerksam machen wollen, begründeten sie hinterher.
Doch das «Schmunzeln», mit dem die Aktion offenbar gemeint war, nahm man der Jungen EVP nicht ab. Zwar wurde Kritik an der Migros-Werbung auch aus anderen Ecken geäussert. Aus der SP etwa, oder von Politologin Regula Stämpfli, die gegenüber «20 Minuten» sagte: «Demokratie ist keine Frage des Aussehens.» Lilian Studer hingegen wurde sogleich in die fromme, prüde Ecke gestellt. Die «Schweizer Illustrierte» vergab ihr den «Kaktus der Woche» für besonders fragwürdige Aktionen – sie solle sich beruhigen und schliesslich sei die Aktion illegal, so die Begründung.
Studer muss aber auch gegen noch plumpere Vorurteile ankämpfen. «Jung, blond und bibelfest», titelte das «St. Galler Tagblatt», als sie 2011 erstmals für den Nationalrat kandidierte. Dabei war sie schon damals eine erfahrene Politikerin, sass seit acht Jahren im Aargauer Grossrat. Auch heute noch, zwölf Jahre nach dem Ausscheiden von Heiner Studer aus der Politik, wird sie zudem mit ihrem Vater verglichen. «Er ist in der gleichen Partei. Es gibt unterschiedliche Ansichten», sagt sie salopp und macht deutlich, dass sie die ewigen Vergleiche leid ist.
Heiner Studer war von der «Wochenzeitung» einst als «linkster bürgerlicher Politiker» bezeichnet worden. Lilian Studer, seit zwei Jahren Parteipräsidentin, gilt als noch progressiver – wobei ihr die Bezeichnung «Bürgerliche» wichtig ist. Die ehemalige Geschäftsführerin des Blauen Kreuzes Aargau/Luzern hat sich in Bern vor allem durch Vorstösse in der Suchtprävention, der Sportförderung, in der Sozialpolitik sowie für den Zivildienst profilieren können.
Die EVP betont gerne und oft ihre Funktion als «Brückenbauerin». Allerdings ist die Partei nach links wohl anschlussfähiger als nach rechts.
Die EVP betont gerne und oft ihre Funktion als «Brückenbauerin» – also als vermittelnde Partei zwischen den Polen. Tatsächlich belegten EVP-Vertreter in einem Ranking der «Luzerner Zeitung», das zählte, welche Parlamentarier am häufigsten Vorstösse von Politikerinnen anderer Parteien unterschrieben, den Spitzenplatz. Allerdings ist die EVP nach links wohl anschlussfähiger als nach rechts. So sagt Nationalrat Benjamin Giezendanner (SVP): «Da muss man ehrlich sein, die EVP ist keine Brückenbauerin.»
Gehe es um Fragen, bei denen das Christliche über Parteien hinweg einen Unterschied machen könnte, sei die EVP nicht wahrzunehmen. Als eine verpasste Chance dafür nennt Giezendanner das Asylwesen. «Im Asylprozess von Sans-papiers könnte die EVP ja vorschlagen, dass Flüchtende mit christlichem Hintergrund eine Vorzugsbehandlung bekommen.»
Die Rolle als Brückenbauerin beansprucht die EVP vielleicht auch darum für sich, weil sie als Kleinpartei gar nicht anders kann, als es mit vielen gut zu können. Nur in Zürich, Bern und im Aargau reicht der Wähleranteil für eine eigene Fraktion im Kantonsparlament. In allen anderen Kantonen ist die EVP entweder nicht vertreten oder auf die Kooperation mit anderen Parteien angewiesen. So spannt sie im nationalen Parlament sowie in vielen Kantonen mit der Mitte zusammen. Vereinzelt bildet sie aber auch mit Parteien weit rechts und links von ihr eine Fraktion – wie derzeit mit den Grünen in Basel-Landschaft oder bis 2007 mit der erzkonservativen und wirtschaftsliberalen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) auf nationaler Ebene.
Die Köpfe machen die Partei
Die Delegiertenversammlung der kantonalen EVP Bern beginnt Präsidentin Christine Schnegg mit einem Gebet – was selbst bei der einst so katholischen CVP undenkbar war, ist bei der EVP die Regel. Als nächster ist Marc Jost an der Reihe. Er begrüsst die Delegierten mit den Worten: «Liebe EVP-Familie» – eine beliebte Begrüssung in Parteikreisen. An diesem Abend, erst drei Monate nach seiner Wahl in den Nationalrat, wird er als Ständeratskandidat nominiert. Nicht, dass Jost Chancen hätte, gewählt zu werden. Das Amt als Nationalrat ist für Vertreterinnen der EVP Höhepunkt und Endstation ihrer politischen Karriere.
Eine Kandidatur für die kleine Kammer bietet Kleinparteien vielmehr eine Chance, mediale Aufmerksamkeit zu erhalten – über Interviews oder Einladungen für Podien beispielsweise. Kommt hinzu: Je weniger bekannt eine Partei ist, desto wichtiger sind die Köpfe dahinter. So wurde bei den Wahlen im Kanton Zürich ein EVPler «Panaschierkönig» (der Kandidat mit den meisten Stimmen fremder Parteien). Und auch der Erfolg des Baselbieters Thomi Jourdan, der das Image eines wirtschaftsliberalen und nicht allzu religiösen Managers pflegt, war eine klassische Personenwahl.
Am Rande der Delegiertenversammlung bittet Marc Jost für ein Gespräch in den «Raum der Stille», der sich gleich neben der Parteizentrale der EVP Schweiz befindet. «Hier können wir besser reden», sagt er. Ein grosses Holzkreuz prangt an der Wand des kleinen Zimmers, in der Mitte steht ein runder Tisch, darum herum ein paar Stühle.
Mit seinem immerfreundlichen Lächeln und seiner ruhigen, zugänglichen Art scheint Marc Jost alles andere als ein Hardliner zu sein. Selbst politische Gegner finden auffallend gute Worte.
Jost spricht über die Themen, die er im Parlament angehen möchte: Armut, Klimawandel, Energieversorgung und Migration. Die brisanten gesellschaftspolitischen Themen, mit denen er in der Vergangenheit Aufsehen erregte, stünden für ihn jetzt nicht im Fokus. «Ich finde, viele Fragen wurden geklärt», sagt er. Zudem beträfen diese häufig nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Hinzu dürfte aber noch ein weiterer Grund kommen: Wer allzu fest gegen den Zeitgeist argumentiert, gewinnt keine Wahlen. Jost muss sich zurücknehmen, wenn die EVP Wähleranteile gewinnen will.
Mit seinem immerfreundlichen Lächeln und seiner ruhigen, zugänglichen Art scheint Marc Jost alles andere als ein Hardliner zu sein. Selbst politische Gegner finden auffallend gute Worte. Er habe immer ein offenes Ohr für soziale Anliegen oder Steuergerechtigkeit, sagt beispielsweise Nationalrätin Flavia Wasserfallen (SP), die mit ihm schon gemeinsam im Berner Grossrat politisierte. Auch teilten sie die Begeisterung für Familie und Sport. «Wir konzentrieren uns auf die Gemeinsamkeiten. Themen, bei denen wir uns sowieso nicht finden, wie beispielsweise die Ehe für alle oder das Verbot von Konversionstherapien, meiden wir», so Wasserfallen.
Wer sich mit Mitgliedern der Partei unterhält, der spürt einen gewissen Frust, dass die breite Öffentlichkeit die EVP nur wahrnimmt, wenn sie wie zuletzt bei der «Ehe für alle» gegen den Strom schwimmt. Ihr soziales Engagement, ihr Anteil an der Klima-Allianz, ihr Kampf für verantwortungsvolles Unternehmertum oder ihr Einsatz in der Suchtprävention und im Jugendschutz – vergessen.
Man höre immer wieder, dass Leute auf der Online-Wahlentscheidungshilfe Smartvote erfahren würden, dass die EVP jene Partei ist, die ihren Überzeugungen am nächsten kommt. Und doch würden diese Menschen nicht die EVP wählen. Sie wollten ihre Stimme nicht religiösen Fundis geben, lautet dann in etwa der Tenor.
Die Vorstellung, die EVP sei primär eine Gottes-Partei, hält sich hartnäckig. Für dieses Image ist sie aber hauptsächlich selbst verantwortlich. So setzt sie seit Jahrzehnten auf den christlichen Glauben als verbindendes Element. Diese Stabilität hat etwas Gutes: Die EVP ist die vielleicht beständigste politische Partei der letzten 50 Jahre. Die Grünen stiegen kometenhaft auf, die SVP verdoppelte ihren Wähleranteil, FDP und CVP dagegen verloren die Hälfte ihrer Wählerschaft. Andere Kleinparteien wie der Landesring der Unabhängigen, die Schweizer Demokraten oder die Partei der Arbeit wurden aufgelöst oder versanken in der Bedeutungslosigkeit. Der Wähleranteil der EVP jedoch betrug seit 1971 immer zwischen 1,8 und 2,4 Prozent.
«Der religiöse Bezug ist Teil der Partei-DNA. Aber auch eine Hypothek für die Zukunft.» Claude Longchamp, Politologe
«Die EVP hat etwas Familiäres, sie ist eine stabile Milieupartei, verhaftet im christlichen Umfeld», sagt Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller. «Und sie schafft es besser als andere Parteien, dieses Milieu auch abzuholen.» Insider bezeichnen die typische Wählerschaft als «bodenständig fromm». Sehr konservative christliche Kreise tendieren eher zur EDU oder zur SVP. Die EVP dagegen zieht sehr gläubige, aber weltoffene Christen an – hauptsächlich Reformierte.
Politologe Claude Longchamp warnt jedoch, dass es mit dieser Beständigkeit bald vorbei sein könnte. «Der religiöse Bezug ist Teil der Partei-DNA. Aber auch eine Hypothek für die Zukunft», sagt er. Besonders junge Menschen identifizierten sich immer weniger mit religiösen Institutionen. Das zeigten die Austrittszahlen aus den Landeskirchen. Die Überalterung der Wählerschaft sei somit die grösste Herausforderung für die EVP. Das Fazit seiner Analyse hat Longchamp auch der EVP mitgeteilt, die ihn zu verschiedenen Anlässen eingeladen hatte: «Die Partei muss sich öffnen.» Das E in EVP könnte die Partei vermehrt mit «ethisch» übersetzen, schlägt er vor.
Weg eins: Die ethische Partei
Nik Gugger betritt das Restaurant in der Nähe des Winterthurer Bahnhofs mit einigen Minuten Verspätung. Bevor er an den Tisch kommt, begrüsst er den Besitzer, witzelt mit ihm und spricht über das Parkplatzproblem – den Grund für seine Verspätung. Gugger ist das liberale Aushängeschild der EVP. «Ich verstehe das reformierte Erbe der Partei, aber stehe für einen Glauben ohne Joch», sagt er.
Geht es um Themen wie die «Ehe für alle» oder ein Verbot von Konversionstherapien für homosexuelle Menschen, weicht er auch einmal von der Parteilinie ab. Den Vorschlag von Longchamp, die Partei zu öffnen, begrüsst er: Die EVP dürfe nicht mehr nur auf das Evangelische reduziert werden. Das E im Namen soll inhaltlich stärker «mit ethischen Werten auf der Basis der christlichen Grundlage» gefüllt werden, wie er es gegenüber der «Schweiz am Wochenende» ausdrückte.

Nik Gugger ist das liberale Aushängeschild der Evangelischen Volkspartei – und eine schillernde Persönlichkeit.
Gugger ist der amtsälteste EVP-Nationalrat und Vizepräsident der EVP Schweiz – und ein weiteres Beispiel dafür, dass die Partei von ihren Persönlichkeiten lebt. Gugger ist eine schillernde Figur, die weitherum auffällt. Er ist Sozialunternehmer, Coach, Politiker und in zahlreichen Non-Profit-Organisationen aktiv. Sich selbst bezeichnet er als freien Geist. Das Telefon nimmt er auch mal in seinem Geburtsort Indien ab, wo er mehrere Projekte für sozial benachteiligte Menschen betreut und wo ihm ein Ehrendoktortitel verliehen wurde.
Kürzlich hat der gelernte Sozialarbeiter eine Autobiografie veröffentlicht, mit der er «empowern» möchte, wie er im Klappentext schreibt. Das Buch liess er von Mitgliedern verschiedener Parteien bewerben. So moderierte etwa der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch (SP) am Tag vor den Bundesratswahlen die Vernissage. Auch mit Aussenminister Ignazio Cassis liess sich Gugger mit dem Buch in den Händen fotografieren.
Politisch befasst sich Gugger, dessen Vater bereits ein bekannter Politiker gewesen ist, mit vielen Themen: Vor einigen Monaten reiste er mit Bundesrat Guy Parmelin nach Indien, um den Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen neuen Schwung zu verleihen. Im Parlament setzt er sich unter anderem für den besseren Schutz von Whistleblowern oder die Umsetzung des Pornoverbots für unter 16jährige ein. Nach dem Ende der Credit Suisse forderte Gugger in einer Sonntagszeitung «ethisches Banking». Gugger scrollt über den Text und zeigt auf eine Stelle im Artikel, wo über ihn steht: «Er trifft damit einen Nerv.»
Weg zwei: Partei der Freikirchen
Es gibt aber noch einen anderen Weg in die Zukunft als die liberale Öffnung, wie sie Longchamp vorschlägt und wie sie Gugger vorantreibt. Nämlich den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Als die «Schweiz am Wochenende» unter dem Titel «Weniger Religion, mehr Ethik» erstmals über eine mögliche Öffnung der Partei berichtete, reagierten viele EVP-Mitglieder mit Unverständnis. Die Partei solle «zum Christsein stehen», forderte beispielhaft ein Leserbriefschreiber. Schliesslich seien es vor allem Christen, welche die EVP wählten.
Ex-Nationalrat Heiner Studer betont diesen Punkt bei einem Gespräch in seinem Haus in Wettingen. Anders als Longchamp sieht Studer nicht, dass jüngere Menschen weniger religiös sind. Vielmehr würden andere Formen von Religion und Spiritualität wichtiger. «Moderne Freikirchen haben einen enormen Zuwachs», sagt er. Gerade hier sieht Studer viel Potenzial. Er erwähnt eine katholische Katechetin sowie ICF-Pastoren, die sich neu für die EVP engagieren. Studer rechnet damit, dass die EVP theoretisch für 20 Prozent der Wählenden die Partei Nummer eins sein müsste. «Wenn nur schon die Hälfte davon uns wählen würde, hätten wir eine schöne Fraktion in Bern.»
Öffnen oder bewahren – vor diesem Scheideweg steht die Partei, und die Frage spaltet ihre Mitglieder je länger, desto mehr. Das zeigte sich bei der Debatte um die «Ehe für alle». Die Partei befragte dazu ihre Basis und liess zwei gegensätzliche Positionen ausarbeiten. Für ein Ja plädierte Renato Pfeffer, Jugendpfarrer, Gemeinderat in Richterswil und schwul. Dagegen argumentierte Marc Jost.
Je öfter sich die Wertkonservativen an der Basis durchsetzen, desto mehr vergrault das die verbleibenden progressiven Kräfte, die dafür kämpfen, die Partei zu öffnen.
Das Resultat: Von 2000 Teilnehmenden sagten 86 Prozent Nein. Dass die Ablehnung so deutlich war, hatte gemäss Parteipräsidentin Lilian Studer vor allem damit zu tun, dass die Vorlage verheirateten Frauenpaaren die Samenspende erlaubt. «Bei einer Ausdehnung der Reproduktionsmedizin müssen wir grundsätzlich vorsichtig sein», begründet Studer ihr eigenes Nein.
Zwar gibt es in der Partei keinen offenen Streit über die Frage, wohin es mit der EVP gehen soll. Die Diskussionen werden sachlich geführt – ein «respektvolles Miteinander» eben. Doch die Harmonie der «EVP-Familie» trügt: Je öfter sich die Wertkonservativen an der Basis durchsetzen, desto mehr vergrault das die verbleibenden progressiven Kräfte, die dafür kämpfen, die Partei zu öffnen.
Ein Beispiel dafür ist Tobias Adam. Der Theologiestudent, Klimaaktivist und Zürcher Synodale engagierte sich lange in der Jungen EVP des Kantons Zürich, zuletzt auch als ihr Präsident. Nach seinem Rückzug aus dem Vorstand trat er schliesslich aus der Partei aus. «In zu vielen vor allem gesellschaftspolitischen Fragen, die mir wichtig sind, konnte ich den Kurs der Partei nicht mehr mittragen», sagt er. Bei der «Ehe für alle» hätte er sich zumindest eine Stimmenthaltung gewünscht. «Für die Jungen und Progressiven wäre das sehr wichtig gewesen.» Trotzdem, sagt er, gebe es nach wie vor Mitglieder, die versuchten, die Partei zu öffnen.
Im Vorstand der EVP sind die Progressiven in der Mehrheit. Bekannt ist zudem, dass bereits Sitzungen zur strategischen Frage stattgefunden haben, wie die Partei sich in Zukunft positionieren möchte. Lilian Studer sagt, dass diese Debatte für eine Weiterentwicklung unerlässlich sei. Eine Namensänderung stehe aber nicht zur Diskussion. Das E stehe dafür, «dass wir gemeinsam für die Bewahrung der Schöpfung, für Gerechtigkeit und Menschenwürde einstehen.» Studer weiss aber auch: «Der Buchstabe ist für gewisse Wählende hinderlich.»
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Nicht ganz zu Unrecht stellen Skeptiker die Frage: Falls sich die Partei gesellschaftspolitisch öffnet, was unterscheidet sie noch von der Linken? In wirtschaftspolitischen Fragen nimmt sie schon jetzt meistens eine sozialere Haltung ein als die Mitte, deren Fraktion die EVP in Bern derzeit angehört. So hat die EVP etwa die 99%-Initiative der Jungsozialisten unterstützt, die eine höhere Besteuerung von Kapitaleinkommen forderte.
Neben dem «Ethischen» geistert in der EVP deshalb ein weiteres Schlagwort herum, mit dem die Partei strategisch in die Zukunft gehen könnte: «sozialkonservativ». Marc Jost benutzt es für seine Ständerats-Kandidatur. Historisch steht der Begriff für die Forderung nach staatlicher Fürsorge aus einer christlichen Perspektive. Im Ausland gebe es verschiedene Parteien, die sich sozialkonservativ geben, nicht aber in der Schweiz, sagt Politologe Longchamp. «Früher waren die Gewerkschaften teilweise sozialkonservativ. Heute ist es eine politische Nische. Es bestehen also Ansätze für eine sozialkonservative Politik in der Schweiz.»
«Wenn Gott dich mag, musst du dich nicht verstecken»
An einem regnerischen Samstag treffen sich in der Aula der Berufsschule Aarau die EVP-Delegierten aus den Kantonen zur nationalen Versammlung. Lilian Studer kritisiert die «abgehobene Welt» der Credit-Suisse-Banker, dann folgt eine durch ein gemurmeltes Amen quittierte «besinnliche Einleitung» eines Aarauer Freikirchen-Pastors. Weil an diesem Tag nur eine einzige Abstimmungsparole gefasst werden muss und die Jahresrechnung schnell abgenickt ist, bleibt etwas Zeit für Selbstreflexion. Gegenseitig gibt man sich Tips für den Wahlkampf.
«Es braucht Mut und Frechheit, wie sich das Herr Longchamp von uns wünscht», sagt Andrea Heger, Synodale der Reformierten Kirche Baselland sowie Gemeindepräsidentin von Hölstein, BL, wo die EVP einen Wähleranteil von sage und schreibe 11,5 Prozent hat. Daniel Sommer, der mit dem Motto «Ein ganzes Jahr Sommer» Panaschierkönig der Kantonalzürcher Wahlen wurde, erzählt, dass er sich dafür einsetzte, nicht in die fromme Schublade gesteckt zu werden. Als ihn Tele Züri wieder einmal in das Hoffen-und-Beten-Schema pressen wollte, habe er klar und deutlich gesagt: «Wir sind keine Feldprediger und wir rezitieren keine Bibelzitate.»
Nach ihm erzählt Immobilienexperte Donato Scognamiglio, wie er unter anderem dank Werbe-Spaghetti, einem Fest bei ihm zuhause mit 417 Gästen sowie 80 000 Flyern in den Zürcher Kantonsrat gewählt wurde. Dann vollzieht er einen überraschenden Themenwechsel: «Nun muss ich doch noch predigen. Wir haben einen Gott im Universum, der alles kann», sagt er. «Wenn der dich mag, musst du dich nicht verstecken.» Es wirkt fast ein bisschen so, als wollte er die Aussagen seines Vorredners relativieren.