Noch vor einer Stunde hielt ich als Pfarrer im Grossmünster die Abdankung von Ernst. Auch dabei war einer, der immer wieder ‹Halleluja!› dazwischenrief. Das hätte Ernst gefallen. Seine Lehrmeister waren die Obdachlosen – und die interessieren sich nicht dafür, welches Programm der Pfarrer vorne gerade verfolgt.
Ernst begleitete mich mein ganzes Leben lang. Wie ich heute als Pfarrer und Mensch auf die Welt blicke, das hat viel mit ihm zu tun. Ich bin 1963 in Zürich geboren. Also im selben Jahr, als Ernst den Obdachlosen-Bunker am Helvetiaplatz eröffnete. Grund dafür waren die tiefen Temperaturen in diesem Winter. Sie waren so eisig, dass der Zürichsee gefror und die Menschen auf der Strasse in grosse Not gerieten. Ich erinnere mich, dass Ernst meinen Vater – einen der ersten Diakone in Zürich – regelmässig spätabends anrief und ihn bat, in den Bunker helfen zu kommen. Als kleiner Pfüdi begleitete ich ihn manchmal. Und so kam es zu meinen ersten Begegnungen mit Ernst.
Christoph Sigrist, 55, hat in Zürich, Tübingen und Berlin Theologie studiert. Seit fünfzehn Jahren ist er Pfarrer am Grossmünster, zudem lehrt er an der Universität Bern Diakoniewissenschaft. Sein Vater, gelernter Schriftsetzer, liess sich auf dem zweiten Bildungsweg im Diakonenhaus Greifensee zum Sozialarbeiter ausbilden und war einer der ersten Diakone der Zürcher Kirche. Christoph Sigrist engagiert sich in mehreren Hilfswerken und ist Präsident des Zürcher Forums der Religionen. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Söhne. dem
Zusammen mit meinem Bruder und meinen Eltern wohnte ich in der Amtswohnung im Kirchgemeindehaus im Enge-Quartier. Dann und wann quartierte Ernst im Sommer auch einen seiner ‹Brüder›, wie er die Obdachlosen immer nannte, bei uns ein. Will heissen, sie schliefen auf einer Matratze im Garten des Kirchgemeindehauses. Das Angebot meiner Eltern, doch bei uns in der Wohnung zu übernachten, schlugen sie aus. Zu dieser Zeit ereignete sich auch folgende Geschichte: Einer der Sieber-Brüder, der immer wieder bei uns im Garten übernachtete, pinkelte regelmässig an jenen Rebstock, von dem der Traubensaft für das Abendmahl gewonnen wurde. Die Geschichte steht dafür, wofür Ernst sein ganzes Leben hergab: Was du als Pfarrer predigst und in der Liturgie feierst, musst du auch im Alltag einlösen – oder du schweigst. Ernst schwieg bekanntlich nicht.
Als Jugendlicher engagierte ich mich im reformierten Jugendverband Junge Kirche. In dieser Zeit war Ernst Pfarrer in Zürich Altstetten. Verglichen mit dem, was er dort in den 70er Jahren veranstaltete, wirken die poppigen Gottesdienste der charismatischen Freikirchen heute wie eine Party im Schlaflabor. Sieber wusste: Sechzig Prozent der Kommunikation läuft nicht über das Wort. Da war er durch und durch Künstler. Er packte seine Botschaft immer in Bilder und zeigte diese seinen Zuhörern. So wie die geschnitzte Holzkette. Mit ihr erinnerte er uns immer wieder daran, dass die Gesellschaft nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Heute kennt diesen Spruch jeder – auch dank Ernst. Sein Gespür für Dramaturgie war einzigartig.
Selbst wer nicht seinen Worten folgte, verfolgte gebannt seinen Auftritt.
Da war aber auch seine ungeheure Kraft und Präsenz. Selbst wer nicht seinen Worten folgte, verfolgte gebannt seinen Auftritt. Erinnern Sie sich an den Bischof, der an der Hochzeit von Meghan Markle und Prinz Harry mit grosser Leidenschaft über die Macht der Liebe sprach? Nach der TV-Übertragung sprach die ganze Welt von der Predigt, niemanden liess sie kalt.
Das hätte auch Ernst geschafft. Der brauchte dafür allerdings keinen schönen Kirchenraum. Er schaffte das auch in der Notschlafstelle, in einem Zelt oder auf dem Platzspitz, inmitten des Drogenelends. Den Grund dafür orte ich in seinem Zugang zur Diakonie über die Mystik. Da waren sich Ernst und Franziskus übrigens sehr ähnlich. Was in solchen Momenten genau abläuft, lässt sich nur schwer in Worte fassen.
Ich versuche es trotzdem: Das Transzendente ist Teil einer mystischen Dimension, die wiederum Resonanzräume generiert. Sind die da, dann ist auch der Glaube da – egal ob der Obdachlose sich dafür interessiert, einfach nur Geld möchte oder einem ins Gesicht sagt, dass er nicht an Gott glaube. Jedenfalls war Ernst ein Meister im Bereitstellen solcher Räume. Ich sage bewusst Bereitstellen, weil sie eben nicht erschaffen werden können – sie geschehen einfach. Und da schliesst sich der Kreis und wir landen im Epizentrum der Reformation: wie wichtig der leere Raum ist. Wieso hat Zwingli die Altäre rausgeholt? Nicht weil er ein Hitzkopf war, sondern weil er realisierte, dass sie die Resonanz stören oder sogar blockieren. Ernst stand da voll und ganz in der Tradition von Zwingli.
Während meines Theologiestudiums besuchte ich Ernst hin und wieder in Altstetten. Wir sprachen über Dinge, die mich beschäftigten, und natürlich oft auch über theologische Fragen, die mich als jungen Mann umtrieben. Seine Neugier an der Theologie war auffallend: So tauchte er auch als Pfarrer regelmässig an der Uni auf und sass in Vorlesungen. Und nicht selten hörte ich später den einen oder anderen Gedanken wieder in einer seiner Predigten in Altstetten, natürlich Sieber-like und mit viel Effekt aufbereitet. Die Leute kamen in Scharen, die Kirche war immer voll. Das war in der Zeit, als die Reformierten eine Mehrheitskirche waren: Von den 350 000 Stadtzürcherinnen und Stadtzürchern waren 200 000 reformiert.
Was Ernst und ich teilten, war der Humor. Er strahlte stets die Lust am Spielerischen und an der Leichtigkeit des Seins aus – egal von welch schwieriger Seite sich das Leben gerade zeigte. Diese Art immunisierte ihn auch gegen Absolutheit und Verbissenheit in Glaubensfragen. Und ganz wichtig: Sie war auch ein Garant dafür, dass er den Menschen – egal ob gläubig oder nicht – nie seinen Glauben aufschwatzen wollte.
Für ihn war das Gegenüber immer frei in seinen Entscheidungen. Zugleich konnte er auch in martialischer Sprache den Glauben verkünden. So sagte er mir einmal, dass man als Christ die Bibel fressen müsse, damit aus dem Magen heraus die Säfte wieder vergoren herauskämen. Bei jedem anderen, der so etwas sagt, würden die Leute zusammenzucken. Bei Pfarrer Sieber hatte niemand ein Problem. Die Erklärung ist einfach: Sie wirkten bei ihm nicht bedrohlich oder aufgesetzt, sondern einfach nur echt.
Was Ernst uns lehren sollte: Die Institution Kirche braucht Menschen wie ihn – und umgekehrt. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, wie ein amerikanischer Billy Graham seine eigene Kirche zu gründen und dann einfach Geld zu scheffeln. Dabei hätte er das zu seinen besten Zeiten locker machen können, mit seiner Energie wäre er sofort durchgestartet. Warum er es nie tat? Weil er wusste: die Institution und der Charismatiker bedingen sich. Bullinger lässt sich nur mit Zwingli denken und Ernst nur mit der Kirche. Trennen sich diese Kräfte, wird es gefährlich. Und zwar für beide: Der Charismatiker wird zum Guru und die Kirche läuft Gefahr, dass die Bürokratie überhandnimmt. Gerade darum ist es so wichtig, dass wir Reformierte immer wieder die Auseinandersetzung suchen.
Ernst konnte streiten, und wie! Erst recht mit den Mächtigen: Vom Kirchenratspräsidenten über den Stadtpräsidenten bis zum Bundesrat, überall wählte er den Klartext. Er ging zu allen hin, ohne dabei den Platz zu verlassen, der auch in der deutschen Übersetzung des griechischen Wortes Diakonie steckt: Beauftragung, Dazwischenstehen und Vermitteln. Sieber stand zwischen Helvetiaplatz-Bunker und Zürcher Rathaus, zwischen Demonstranten und Polizei und zwischen Hilfswerk und Kirche. Das Dazwischen war sein Ort. Hier konnte er vermitteln: hartnäckig, regelmässig nervig, aber doch so, dass die Mächtigen ihm und seiner Sache am Ende wohlgesinnt waren.
Als er dann 1991 mit einem Glanzresultat für die EVP als Nationalrat nach Bern reiste und sein gewohntes Terrain verliess, wurde es für ihn schwierig. Ich deute das so: Ernst war im Bundeshaus wie ein Fisch im fremden Teich. Dieses zähe Feilschen um Kompromisse war nicht seins. Während andere strategische Reden hielten, um Mehrheiten zu finden, legte Ernst am Rednerpult mit einer Predigt los. Plötzlich wurde er nicht mehr verstanden. Schlimmer noch: einige belächelten ihn sogar. Vier Jahre später trat er nicht mehr zur Wahl an.
Ich fühlte mich seiner Theologie immer verbunden. Wohl auch, weil ich ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stamme.
Die Theologie ist ein Nachdenken darüber, was Gott vorgedacht hat. Darin war Ernst hervorragend, auch wenn gewisse universitäre Kreise immer ein bisschen die Nase gerümpft haben, dass die Theologie des Bauernsohns Ernst nach Stall roch. Nur verstehen diesen Geruch viele nicht, weil es eine Frage der Herkunft ist. Ich fühlte mich seiner Theologie immer verbunden. Wohl auch, weil ich ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stamme.
Jedenfalls ist der Schweiss und Dreck theologisch hochrelevant. Was ich damit meine: Wenn Gott durch die Geburt eines Kindes Mensch geworden ist, dann ist Gott immer auch im Archaischen einer Geburt und im Sterben präsent. Ernst öffnete mir die Augen dafür, dass überall dort, wo Menschen ausgeschlossen werden, hungern müssen oder Gewalt und Missbrauch erfahren, letztlich Gott durch den Dreck gezogen wird. Die Theologie von der Menschwerdung Gottes ist der Anfang von allem. Und darin bewegte sich Ernst jeden Tag.
Was Ernst ausmachte: Er war immer präsent und verfügbar, wenn er auf Menschen traf. Nie schielte er auf die Uhr oder auf das Einhalten von irgendwelchen Anstellungsprozenten. Am Pfingstsamstag, 19. Mai, durfte er im Alter von 91 Jahren ‹endlich nach Hause› gehen, wie er das Unausweichliche nannte. Ernst war mir zeitlebens ein Lehrmeister.»