Nach den Weihnachtstagen tönte der Pfarrer am Telefon ein wenig müde. Den Wunsch, ihn anlässlich seines Geburtstags für dieses Magazin zu porträtieren, wehrte er ab: Zuerst wolle er im Atelier am Sihlsee seine vierhundert Gemälde «büschele», die nur knapp von einem Schwelbrand verschont geblieben seien: «Es muss Ordnung sein, wenn mich der Herr eines Tages zu sich ruft.»
Dann setzte er, wie so oft, zu einem Monolog an – über Zwingli, den Begründer der ersten Armenpflege in der Stadt Zürich, über die Pflicht der Kirchen, sich intensiver um die Verlierer dieser Gesellschaft zu kümmern, über das Wirken von Jesus und über das bevorstehende 500-Jahr-Jubiläum der Reformation. Was den geplanten Artikel angehe, so wünsche er sich, wenn schon, endlich einmal eine theologische Würdigung seiner Arbeit. Er werde sich gelegentlich melden, «so in drei bis vier Monaten».
Mit dem Pfarrer verbindet mich eine langjährige, ziemlich turbulente Geschichte. Als Journalist habe ich ihn in seiner schwersten Krise begleitet und oft hart kritisiert. Damals widmete er mir ein Bild, das er in einer schlaflosen Nacht gemalt hatte: Es zeigt Kühe in einem Stall, die statt Heu Zeitungen fressen und auf die «Sonntagszeitung» scheissen. «Schlagzeilen sind Zeilen, die schlagen», schimpfte er, als wir das Gemälde einige Jahre später in seinem Atelier besichtigten.
Das Leben und Wirken Ernst Siebers lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Nennen wir sie die grüne, die rote und die blaue Periode. Am Ende der grünen Periode, seiner schönsten, längsten und fruchtbarsten Zeit als Pfarrer, war er bereits 67 Jahre alt, pensioniert, Nationalrat, prominent und beseelt von der Aufgabe, Obdachlosen und Drogenabhängigen zu helfen. In der roten Periode, die zwölf Jahre dauerte, ging er durchs Fegefeuer, als finanzielle Ungereimtheiten das Vertrauen der Öffentlichkeit in seine «Sozialwerke» erschütterten. In der blauen Periode, nach seinem 80. Geburtstag, sei er ruhiger geworden, sagen Menschen, die ihn kennen und schätzen. Er ziehe sich öfter in sein Atelier am Fuss des Hoch-Ybrig zurück, um zu malen.
Dass er sich kurz vor Weihnachten von «Glanz & Gloria» in einer rosafarbenen Stretchlimousine durch Zürich chauffieren liess, erstaunte indessen niemanden: Einer Fernsehkamera sei der Pfarrer noch nie ausgewichen. Die Erfahrung zeigt, dass die Spenderinnen und Spender seine Medienauftritte honorieren.
Ernst Siebers Weg zur Ikone
Als junger Mann liebäugelte Sieber mit der Schauspielschule, für die er Talent gehabt hätte, verdingte sich dann aber als Knecht und liess sich zum diplomierten Landwirt ausbilden. Nach der Matura auf dem zweiten Bildungsweg und dem Studium der Theologie in Zürich arbeitete er in der Pfarrgemeinde Uitikon-Waldegg, nunmehr als «Knecht Gottes», wie er sich noch heute gerne bezeichnet. Dort lernte er die schöne Lehrerin und Sängerin Sonja Vassalli kennen. Mit dem «schüchternen Jüngling», der «immer ganz viel Liebe und Schutz brauchte», wie sie sich einmal äusserte, zog sie acht Kinder auf, vier eigene und vier in Pflege. Die Ehe hält seit 58 Jahren, die Zahl der Enkel beläuft sich auf dreizehn.
Der Pfarrer scheute sich nicht, dem Hells-Angels-Boss Tino hinten auf die Maschine zu steigen und durch die Gegend zu brettern.
Sieber war schon immer ein unkonventioneller Pfarrer. Die grüne Periode läutete er auf originelle Weise ein: An heissen Sommersonntagen pilgerte er mit Jazzband und Gospelchor zum Strandbad am Türlersee, wo er mit dem Megafon in der Hand predigte – «chömed go lose, auch die i de Badhose!»
Seinen legendären Ruf als Obdachlosenpfarrer begründet er im eiskalten Seegförni-Winter 1963, als er Randständige auf den Strassen zusammenlas und in der städtischen Zivilschutzanlage unter dem Helvetiaplatz einquartierte. In Zürich Altstetten fühlte sich die aufmüpfige Quartierjugend von ihm verstanden. Den Jungen machte unter anderem mächtig Eindruck, dass sich ihr Pfarrer nicht scheute, dem Hells-Angels-Boss Tino hinten auf die Maschine zu steigen und durch die Gegend zu brettern.
Zur Ikone wurde Sieber im Juni 1980, als er anlässlich der Zürcher Jugendunruhen eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen wütenden Demonstranten und der Polizei verhinderte, indem er sich mit seinem Esel auf der Quaibrücke zwischen die Fronten stellte. Zürich brannte in jenem Sommer trotzdem, derweil sich Sieber weiterhin für alle einsetzte, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Einmal trat er im «Wort zum Sonntag» des Schweizer Fernsehens im Büssergewand mit Stelzen auf, um zu zeigen, «wie wenig Boden wir alle zeitweilig unter den Füssen haben».
Damals wurde das Elend der offenen Drogenszene, die sich auf dem Platzspitz ausbreitete, zum grossen Thema. Während die Behörden überfordert waren, half Sieber, so gut es ging. Er gründete die Stiftung Sozialwerke Pfarrer Sieber, zu der auch das Kleinspital Sune-Egge für Aidskranke und kranke Drogenabhängige gehörte, eine echte Pionierleistung.
Wann immer er eine neue Institution ins Leben rief – und es wurden immer mehr –, hagelte es Proteste. Niemand wollte die Drögeler, die Kranken und Verwahrlosten in der Nachbarschaft. Der Pfarrer versuchte mit allen Mitteln, die Öffentlichkeit für seine Projekte zu gewinnen; mit Ansprachen und Predigten, aber auch mit Büchern wie «Platzspitz – Spitze des Eisbergs» oder dem Bestseller «Menschenware – wahre Menschen», von dem der Zytglogge-Verlag 50’000 Stück verkaufte.

Bilder wie aus der Mappe eines Schauspielagenten: Als junger Mann liebäugelte Ernst Sieber mit der Schauspielschule.
Seinen unermüdlichen Einsatz vergalt ihm die Theologische Fakultät der Universität Zürich mit der Ehrendoktorwürde. Die reformierte Kirche ernannte ihn zum Dekan der Stadt Zürich links der Limmat. Das erfüllte ihn mit Stolz, weil er neue Pfarrerinnen und Pfarrer in ihr Amt einsetzen konnte und für ihre Betreuung zuständig war – wofür ihm allerdings oft die Zeit fehlte, denn der Ausbau seiner Sozialwerke nahm ihn völlig in Beschlag. In jenen Jahren entfernte er sich auch ein Stück weit von seiner Familie. Seine Frau Sonja sagte einmal, er habe sich «auf die Suche nach seiner Insel gemacht».
Traum «nationales Drogendorf»
Von dieser Insel hatte er eine klare Vorstellung. Er wollte ein nationales Drogendorf für tausend Abhängige aufbauen. Die Finanzierung sollte über Spendengelder und Beiträge des Bundes erfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, kandidierte Sieber 1991 für den Nationalrat und wurde mit 80’000 Stimmen glanzvoll gewählt.
Am ersten Tag der Session pfiff er aufs Protokoll, trat noch vor der Vereidigung ans Rednerpult und erinnerte die Parlamentarier an die Präambel der Bundesverfassung: «Die Stärke unseres Staates lässt sich messen am Wohle der Armen.» Dass der Bund lediglich 200’000 Franken an das Projekt Urdörfli zahlte, obwohl beide Räte seine Motion für das nationale Drogendorf unterstützt hatten, enttäuschte ihn zutiefst.
Als in Zürich die Schliessung des Letten bevorstand, dieser Hölle auf Erden, brachte der Pfarrer kurz vor Weihnachten rund zweihundert Drogenabhängige mit einem Sonderzug der SBB nach Kollbrunn im Tösstal, um sie in einer leer stehenden Textilfabrik unterzubringen – «Betten statt Letten» nannte er seine Aktion; er hatte immer ein Flair für griffige Slogans. Wie schon so oft gelang es ihm, die lokale Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, «diesen Ärmsten der Armen wenigstens vorübergehend zu helfen». Wann immer er auftrat, setzte er auf starke Symbole: auf das Kreuz mit dem vergoldeten Heiland auf der einen und dem rostigen auf der andern Seite, auf die schwere Holzkette um den Hals, auf die Grubenlampe oder auf die Schraubenzwinge um den Kopf.
Unter der Geschäftsleitung seines Schwiegersohns entwickelten sich Siebers Sozialwerke in sieben erfolgreichen Jahren zu einem florierenden Unternehmen. Mehr als zweihundert Mitarbeitende betrieben ein Geflecht von Notschlafstellen, therapeutischen Lebensgemeinschaften, sozialmedizinischen Einrichtungen und Begegnungsstätten für Drogenabhängige in Zürich, Bern, Graubünden und Schaffhausen – der Pfarrer mit seinem Zuspruch und ein paar Fünflibern in der Tasche immer mittendrin.
Sieber hatte sich nie persönlich bereichert, aber unbesehen jedes Dokument unterschrieben, das man ihm vorlegte. Ihn interessierten die Armen, nicht die Buchhaltung.
Für jeden Armen hatte er ein gutes Wort, die Mitarbeitenden hielt er diesbezüglich eher kurz. Jährlich flossen zehn Millionen Franken Spendengelder in die Kassen, dazu fünf Millionen an Beiträgen der öffentlichen Hand. Als verhängnisvoll sollte sich erweisen, dass sich die Familie im Stiftungsrat und in der Geschäftsleitung mehrheitlich selber kontrollierte. Dies war der Grund, warum die grüne Periode im Jahr 1995 so abrupt in die rote überging.
Nach einer Serie von Enthüllungen in den Medien musste Sieber erklären, warum die Sozialwerke 840’000 Franken in eine marode Millionenüberbauung im Thurgau gesteckt hatten, an der sein Schwiegersohn beteiligt war. Die Zürcher Fürsorgedirektion reichte Strafanzeige wegen des Verdachts auf Zweckentfremdung von Spendengeldern ein. Wie sich herausstellte, hatte sich der Pfarrer nie persönlich bereichert, aber unbesehen jedes Dokument unterschrieben, das man ihm vorlegte. Ihn interessierten die Armen, nicht die Buchhaltung. Er beteuerte, er habe im Thurgau lediglich seinen Lebenstraum vom «Bundesdörfli» verwirklichen wollen. Das Investment endete mit einem Abschreiber von 600’000 Franken und dem Rücktritt des Schwiegersohns aus der Geschäftsleitung.
Widerwille gegen «Bürohengste»
Um das Vertrauen in Siebers Sozialwerke wieder herzustellen, entsandte die Regierung einen Altbundesrichter und einen ehemaligen Generaldirektor der Zürcher Kantonalbank in den Stiftungsrat. Mit dem eigensinnigen Pfarrer, der immer tat, was er wollte, bekundeten sie ihre liebe Mühe. Gleichwohl halfen sie mit, eine etliche Jahre zurückliegende Veruntreuung eines Buchhalters von 1,8 Millionen Franken unter den Teppich zu kehren.
Die Enthüllung löste einen neuen Medienwirbel aus. Um den Wirren zu entkommen, begab sich der Pfarrer mit seinen Drogenabhängigen auf den «Marsch der Armen». Begleitet vom Fernsehen führte er sie auf der Suche nach einem Bundesdörfli kreuz und quer durch die Ostschweiz, ehe die erschöpfte, mittlerweile arg dezimierte Karawane auf dem Spiesshof in Ramsen SH zur Ruhe kam. Das Gehöft mit angegliederten Werkstätten und einer Kapelle bot zwei Dutzend Bedürftigen Platz.
Mit den Jahren wuchs Siebers Widerwille gegen die «Bürohengste», die ihm von aussen aufgezwungen wurden und ständig dreinredeten. Nicht weniger als dreiundzwanzig Stiftungsräte hatten sich bei den Sozialwerken im Zuge der Aufräumarbeiten die Klinke in die Hand gedrückt. Mit dem ernüchternden Resultat, dass die Spenden massiv zurückgingen und die Rechnung völlig aus dem Ruder lief. Als dann auch noch publik wurde, dass sechsstellige AHV- und Pensionskassenbeiträge der Mitarbeitenden nicht einbezahlt worden waren und der Konkurs drohte, flehte der Pfarrer im Blick um Spenden: «Ich schrecke jede Nacht aus dem Schlaf!»
Wertvolle Sieber-Marke bleibt
Sein Hilferuf wurde erhört: Ein Unbekannter stellte via reformierte Kirche eine Million Franken in Aussicht – unter einer Bedingung: Der Pfarrer und seine Frau mussten alle operativen Tätigkeiten aufgeben und die Stiftung verlassen, Sieber durfte lediglich Ehrenpräsident bleiben.
Für ihn war das die härteste aller Strafen. «Meine Stiftung und der Kirchenrat haben ihren Pfarrer verkauft. Ist das Wertschätzung?» fragte er. «Ihr habt die Million genommen und euren Pfarrer davongejagt. Niemandem habe ich etwas zuleide getan, ich habe nur meine Arbeit gemacht, für Gottes Lohn.» Von seinem einstigen Sozialimperium blieben ihm noch die Notunterkunft Pfuusbus sowie die Wohn- und Arbeitsgemeinschaften Spiesshof, Suneboge und Puureheimet Brotchorb.
Der damalige Kirchenratspräsident Ruedi Reich hielt grosse Stücke auf «seinen» Pfarrer und dessen Arbeit. Doch als es kein Ende nehmen wollte mit den negativen Schlagzeilen, unter denen auch die reformierte Kirche als Geldgeberin der Sozialwerke litt, kritisierte er Sieber und seine Selbstinszenierung für einmal harsch.
Grenzenlos enttäuscht suchte Sieber nach seiner Absetzung sein Seelenheil in der Ferne. Er reiste nach Afghanistan, um den «Ärmsten der Welt» Medikamente, Geld und Fladenbrote zu verteilen. Eine Filmsequenz zeigt ihn in einer kleinen Siedlung im Hochland, umringt von staunenden Menschen, auf einem weissen Esel, den ihm der Dorfgeistliche geschenkt hat.
Sein Plan, sechs Kriegswaisen in die Schweiz zu bringen, scheiterte. Auch den Esel musste er zurücklassen, weil die Fluggesellschaft ihn nicht transportieren wollte. Den Abstecher bezahlte er mit einer schweren Herzkrise. Nach jener Reise malte er intensiver an seinem Selbstportrait «Memento mori – gedenke des Todes». Es zeigt einen Totenschädel neben seinem eigenen Gesicht, dessen Züge er immer wieder seinem Alter anpasst.
«Ernst Sieber hat auf eine einzigartige Weise die Grundbotschaft des Christentums übersetzt.» Fraumünster-Pfarrer Niklaus Peter
Der Versuch der Evangelischen Volkspartei, ihn erneut zum Nationalrat zu machen, scheiterte. Die offene Drogenszene war inzwischen aus Zürich verschwunden, der «Sozialmissbrauch» war zum populärsten politischen Thema geworden.
Die blaue Periode begann für Sieber damit, dass ihm die Zürcher Stadtregierung zum 80. Geburtstag eine Ehrenmedaille «für besondere Menschen» überreichte. Er nutzte die Gelegenheit, um den Zürcherinnen und Zürchern im «Tagesanzeiger» einen offenen Brief zu schreiben: «Zu meinem Geburtstag wünsche ich mir, dass mein jahrzehntealter Traum von einem Bundesdorf für arme Menschen in Erfüllung geht. Ein Dorf für Menschen, die jemand sein wollen, die jemand sein können, die nicht nur verwaltet werden, sondern in Freiheit leben wollen, zusammengeschlossen in einer Dorfgemeinschaft. Und natürlich eine Kirche mitten im Dorf – nach wie vor und trotz allem.» Beim Festgottesdienst zu seinen Ehren platzte das Grossmünster aus allen Nähten. Der Andrang war ein Beweis für die ungebrochene Popularität des Pfarrers.
Sechs Jahre später bekam er von Stadtpräsidentin Corine Mauch für sein Lebenswerk das Zürcher Staatssiegel. Auch die hiesige Volksschule hat ihm ein Denkmal gesetzt: Das Lehrmittel «Wir glauben in Vielfalt» für Fünft- bis Siebtklässler widmet ihm unter dem Titel «Bruder der Menschen am Rand» ein ganzes Kapitel. Vierundzwanzig Seiten im Lehrerordner geben Hinweise, wie das umfassende Thema der Nächstenliebe im Unterricht behandelt werden könnte. Wie aber ordnet die Kirche sein Wirken ein?

Bilder wie aus der Mappe eines Schauspielagenten: Als junger Mann liebäugelte Ernst Sieber mit der Schauspielschule.
«Ernst Sieber hat auf eine einzigartige Weise die Grundbotschaft des Christentums, dass Gott Liebe ist, nicht nur in Worte übersetzt, sondern in Taten, in ein Werk, das sich jener Menschen angenommen hat, die durch Drogen oder Alkohol auf der Strasse gelandet waren und noch heute landen», beantwortet Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster und Dekan des Pfarrkapitels, die Bitte um eine theologische Würdigung. «Er ist diesen Menschen auf eine menschliche Weise begegnet, hat ihre Sprache gesprochen, ihre Sorgen angehört, ihnen Zeit geschenkt, ihnen Hilfe für den Moment geboten und Werke langfristiger Hilfe aufgebaut. Wenn Evangelium Kommunikation der guten Botschaft heisst, so ist er ein Kommunikator ersten Ranges, ein Beispiel von Glaubwürdigkeit, wie es wenige gibt. Für dieses Lebenswerk sind wir Pfarrer und Pfarrerinnen der Stadt Zürich ihm dankbar.»
Anselm Burr gehört wie Sieber zu den eigenwilligen reformierten Zürcher Theologen. Auch er kümmerte sich um Randständige und machte mit seinen Aktionen in der Kirche St. Jakob immer wieder Schlagzeilen. Zum Beispiel mit einer Fotoausstellung, die Jesus im Umfeld von Homosexuellen, Prostituierten und Transvestiten zeigte.
«Ernst Sieber ist heute weniger geschwätzig, klarer und auch bescheidener. Das gefällt mir.» Anselm Burr, ehemals Pfarrer am St. Jakob
Sieber habe ihn seinerzeit als Dekan ins Pfarramt eingeführt und ihm einen Hirtenstab überreicht, den er nach wie vor in Ehren halte, erinnert sich Burr. Als Dekan sei der Pfarrer aber stets auf Distanz geblieben: «Er war immer der Chef, liess anfragen oder ausrichten. Nähe kam nie auf. Ob ihn das bedroht hätte?» Im Kollegenkreis habe man Siebers Engagement für die Ausgegrenzten anerkannt, «doch auf seine manipulativen Energien haben die meisten mit Distanzierung reagiert». Heute empfinde er ihn «als weniger geschwätzig, klarer und auch bescheidener. Das gefällt mir.»
Auch Christoph Zingg kann sich von seinem Pfarrkollegen aus eigener Erfahrung ein Bild machen. 2004, als sich die Krise der Sozialwerke zuspitzte, war er Leiter der Zürcher Stadtmission, die sich seit 150 Jahren um Bedürftige kümmert.
In dieser Funktion schrieb er im «Blick» einen geharnischten Leserbrief: Es sei unbestritten, dass Sieber Grosses geleistet habe. Genauso unbestritten sei aber, dass er sich seit Jahren weigere, mit anderen Anbietern auf dem Platz Zürich zusammenzuarbeiten: «Allein in Zürich wirken wenigstens ein halbes Dutzend diakonische Werke, die mit ihren Angeboten seit Jahr und Tag mit und für Menschen da sind, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden. Sieber hätte Partner, würde er sie nur wollen, und für ‹seine› Leute wären sicher Lösungen möglich, gemeinsame halt. Aber um wen geht es letztlich?»
Inzwischen leitet Zingg die «Sozialwerke Pfarrer Sieber». Er führt sie seit sechs Jahren mit Erfolg. Ein Blick in die Jahresrechnung zeigt, dass die Stiftung auf einem soliden Fundament steht; das Spendenaufkommen ist wieder so hoch wie in den besten Zeiten. «Wo Sieber draufsteht, wird weiterhin Sieber drin sein», verspricht Zingg: «Wir bauen auf christliche Werte, die Marke Sieber wird erhalten bleiben, aber bei uns steht nicht mehr eine Person im Mittelpunkt, sondern das langfristige Wohl der Organisation.»
Zwischen ihm und Ernst Sieber sei das Eis gebrochen, seit sie gemeinsam am Sihlsee Landschaften malen, der Pfarrer habe Freude an seiner Rolle als Lehrmeister. Zingg sagt, in solchen Stunden denke er manchmal darüber nach, «wie schön es wäre, wenn mir der Ernst eines Tages feierlich seinen schwarzen Schlapphut überreichen würde, als symbolisches Zeichen für die vertrauensvolle Übergabe seines Lebenswerks».
Über den Traum entscheiden andere
Im Februar kommt es nach etlichen Anläufen doch noch zu einem Treffen mit dem Pfarrer. Auf Zinggs Wunsch angesprochen, reagiert er mit Schalk in den Augen: «Eines Tages, das kann schon morgen sein, muss ich auf dieser Erde den Hut nehmen, also brauche ich ihn noch selber.» Im Verlauf des Gesprächs wird klar, dass er sich Sorgen um die Zukunft der Sozialwerke macht. In einer sich rasch verändernden Welt genüge es nicht, die Einrichtungen gut zu verwalten: «Mein Nachfolger sollte regelmässig in der Öffentlichkeit auftreten und dafür sorgen, dass die Bevölkerung ihn und seine Mission kennt.»

«Eines Tages, das kann schon morgen sein, muss ich auf dieser Erde den Hut nehmen, also brauche ich ihn noch selber», antwortet Pfarrer Sieber auf die Bitte, seinen legendären Schlapphut dem jetzigen Leiter der Sozialwerke Pfarrer Sieber zu übergeben.
Zuversichtlicher stimmt ihn, dass die Kirche allmählich merke, worauf es ankomme: «Orthopraxie statt Orthodoxie.» Die Menschenrechte seien in den westlichen Ländern in Gefahr. Es sei deshalb höchste Zeit, dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe wieder mehr Nachachtung zu verschaffen: «Wir müssen mit allen Kräften auf eine solidarische Gemeinschaft hinarbeiten. Arme und Kranke sollen nicht ausgegrenzt, sondern in voller Wertschätzung integriert werden.» Wenn die Kirche auf diesem Weg vorangehe, brauche sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen.
Konkret hofft der Pfarrer, dass in Zürich schon bald ein Areal mit Gotteshaus und umliegenden Gebäuden frei wird, wenn sich die vierunddreissig Kirchgemeinden der Stadt wie geplant zu einer einzigen zusammenschliessen. «Dann», sagt er, «könnte mein Lebenstraum von einem grossen, autonomen Dorf für die Benachteiligten dieser Gesellschaft doch noch in Erfüllung gehen.»