Meiner Frau Sonja und meiner Familie gewidmet.
Der Glaube meiner Mutter hat mich geformt. So hat sie regelmässig einsame Menschen an unseren Tisch geladen. Bereits als kleiner Junge war mir klar: Die Stühle an unserem Tisch sind alle gleich hoch. Darüber gesprochen wurde nicht, einzig die Handlung zählte.
Bis heute ist das in mir drin – ausser natürlich, dass ich auch darüber spreche. Die Frage, wie Jesus mit den Zöllnern, mit den Sündern und den Armen umging, ist von jeher Ausgangspunkt meiner täglichen Arbeit. Seit meinem Studium weiss ich, dass das «Sein wie Jesus» nicht eine Sache des Wissens ist, sondern dass wir die historische Figur Jesus ins Zentrum stellen müssen.
«Weil ihr mich liebhabt»
Sepp kam zu Zeiten des Platzspitzes in den Sune-Egge, eine Einrichtung für Drogenabhängige. Er war an Aids erkrankt, es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er bat mich, seine Familie an seinem Bett zu versammeln, da er sich bei seinen Eigenen entschuldigen wollte. Für die «Lämpen», die er – insbesondere seiner Mutter – bereitet hatte. Als alle vollzählig um sein Bett standen, wollte er, dass sich alle die Hände reichen. Auch Sepp streckte seine Hände aus und schloss damit den Kreis. Dann fragte er in die Runde: «Wisst ihr, warum ich an Gott glaube?» Er antwortete gleich selbst: «Weil ihr mich liebhabt.» Was Sepp in diesem Augenblick tat: Er rief mit seinen Lieben eine Solidargemeinschaft ins Leben. Der Moment war ein Zipfel des Gottesreiches.
Wenn ich der Not begegne – und das tue ich auch heute noch täglich –, dann denke ich nicht zuerst über das Verhältnis zwischen Geist und Materie oder Körper und Seele nach, wie dies die alten Kirchenväter taten. Vielmehr stelle ich die Praxis im Geist Jesu ins Zentrum. Das ist für mich die «Ähnlichkeit mit Jesus», sprich: seiner Praxis zu folgen. Erst dann wird seine Liebe erfahrbar, erst dann wird er der «Mitmensch gewordene» Gott. Diese Praxis lebe ich mit meinen Brüdern und Schwestern.
Die Botschaft der Menschwerdung Gottes ist radikal und politisch – und sie stellt vermeintliche Gegebenheiten in unserer Gesellschaft auf den Kopf.
Doziert hat mir dies eine Putzfrau während meines Studiums an der Universität Zürich. Alice und ich sassen jeweils vor dem Hauptgebäude auf der untersten Treppenstufe. Einmal zeigte sie mit der Hand nach oben auf die oberste Stufe und sagte: «Wenn du einmal Pfarrer bist, dann beginne mit dem Schrubber und Lappen dort oben. Du musst sie runterholen, die Obersten und Reichen.» Alice erteilte mir auf der Treppe eine Lektion über politische Diakonie. Sie sprach von der Notwendigkeit, die Schere von Arm und Reich kleiner werden zu lassen und somit endlich eine weltweite Gerechtigkeit zu erreichen – und damit Raum zu schaffen für Gottes Reich.
Leidende und ihr Leidensdruck
Die heutige Diakonie kränkelt. Sie ist unpolitisch. Wir sollten uns vielmehr an die Diakonie zur Zeit Roms erinnern.
In einem Brief an einen Gegner des Christentums rühmte der römische Kaiser Julian die Solidarität der christlichen Gemeinden: «Begreifen wir denn nicht, dass das Christentum am meisten gefördert wurde durch die Menschlichkeit gegenüber den Fremden und durch Fürsorge, für die Bestattung der Toten? Die gottlosen Galiläer (die Christen, Anm. d. Red.) ernähren ausser ihren eigenen Armen auch noch die unsrigen; die unsrigen aber ermangeln offenbar unserer Fürsorge.» Dieses Beispiel zeigt, wie Christen damals menschlich gehandelt haben. Und so wuchs die Kirche – im Dienst der Praxis Jesu, auf Augenhöhe. Dabei war in der Begegnung mit den Leidenden immer zentral, sie von ihrem Leidensdruck zu befreien.
Vor Jahren erhielt ich im Januar einen Anruf aus dem Sanatorium im zürcherischen Wald. Einer meiner Brüder, ich kannte ihn noch vom Hilfsprojekt Bunker am Helvetiaplatz im Jahre 1963, lag im Sterben. Als ich an sein Sterbebett trat, riss er seine blauen Augen weit auf und fragte mich: «Kannst du mir alle meine Fehler verzeihen?» – «Selbstverständlich», antwortete ich ihm und sagte: «Wenn du mir meine vergibst.» Seine Augen strahlten. Auf einmal wies er mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger nach vorne und sagte: «Siehst du das Licht? Das Licht! Da ist er: Gelobt sei Jesus Christus.» Mit erhobenem Kopf sank er zurück ins Kissen. Dann sagte er seine letzten Worte: «Ich gehe jetzt heim. Du auch. Aber gib acht, es hat Eis auf der Strasse.»
Das Menschliche zum Massstab
Der Sterbende redet Klartext: Wer mit Jesus geht, kommt zu Christus.
Mein theologisches Anliegen ist seit je, die zentrale Bedeutung Jesu aufzuzeigen, um zu Christus, dem Auferstandenen, zu gelangen. Denn: Dieser hat keine Massstäbe an die Menschen gelegt, sondern einzig das Menschliche zum Massstab gemacht. Diese Hoffnung ist radikal – und wird mich bis an mein Lebensende tragen.