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Autorin: Seraina Kobler
Freitag, 11. August 2023

Das Kunstwerk «L’ange protecteur» oder «Der Schutzengel» von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof.

Sie wacht stumm über die Reisenden, in fröhlich geformtem Tintenblau und mit Neonröhren vor dem Bauch, wie leuchtende Nabelschnüre. Wer oft aufs Gleis hastet, vergisst ihre Präsenz manchmal, gewöhnt sich daran, da die Nana mittlerweile zum Zürcher Hauptbahnhof gehört wie der Geruch von abgeriebenem Eisen und das Quietschen einfahrender Züge.

Seit einiger Zeit aber ist der Pappmaché-Engel der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle in den Reisewegen unserer Familie sehr präsent. Wenn die Tochter fragt, wo wir abfahren, dann erinnert mich ihr banger Blick daran, dass sie innerlich überlegt, ob der Weg die grosse Halle kreuzt, denn die grosse Halle, das bedeutete lange, sich ihren Ängsten zu stellen, stete Überwindung, bis zur kompletten Verweigerung.

Angefangen hat es vor einigen Monaten, als sie eine Werkschau im Kunsthaus besuchte. Ein ­Sonntags­ausflug, viele andere Familien und viele andere Kunstwerke. Sie wurde behutsam an den Totenkopf-­Bräuten vorbeigeführt, die sie aber nicht zu kümmern schienen, an barocken Kunstwerken mit sich türmenden Menschenhaufen. Doch dann der Blick auf eine Videoinstallation, bei der Niki de Saint Phalle auf Farbbeutel schiesst. Ich weiss nicht, was sie genau darin gesehen hat. Doch ich weiss, dass sie sehr viel sensibler auf Formen, Bilder und Farben reagiert, als ich dazu in der Lage bin. Vielleicht ist mir das geschriebene Wort näher, sie aber kann sich Stunden über Papier beugen, ihre Emotionen in ein paar Strichen zum Ausdruck bringen.

Später hat mir eine Freundin gesagt, dass Nikki de Saint Phalle in der Installation symbolisch ihre Eltern erschoss; vielleicht drang diese Absicht, die Verlorenheit und Wut durch all die Jahrzehnte und Bildschirme hinweg, direkt in das kindliche Herz meiner Tochter. Wir haben Versuche unternommen, den Schmerz zu heilen, der sie jedesmal von neuem überfällt, wenn wir verreisen. Haben Ballons mit Farbe gefüllt, damit sie selbst schiessen kann. Haben sie zeichnen lassen. Unzählige Gespräche geführt, wenn sie abends nicht einschlafen konnte.

Irgendwann habe ich mich erinnert, dass ich selbst als Kind in einer Ausstellung von Niki de Saint Phalle war, die mich tief bewegt hat. Versuchte, nochmals heraufzubeschwören, was es war. Die Tragik, dass die Kunst ihr zuerst das Leben gerettet und es ihr dann, in Form giftiger Chemikalien, wieder genommen hat? Die Geschichte einer Befreiung, die in den bunten, fröhlichen Frauenskulpturen, Nanas genannt, zum Ausdruck kommt? Aber ist denn auch wirklich fröhlich, was bunt ist? Ist eine Depression an strahlend schönen Tagen nicht schwieriger auszuhalten als an einem verhangenen Wintermorgen, der einen wie eine Decke umhüllt? Und mir wird klar, dass vielleicht auch in den lebensfrohen, runden Körpern der Nanas mehr Trauer verborgen sein kann, als sie den Anschein machen.

Wir kamen aber nicht umhin, doch einmal von den oberen Gleisen einen Zug zu nehmen. Zum Glück hat im Falle meiner Tochter das Geschenk der Zeit gewirkt: Die Erinnerung bleichte aus, sie hat sie umgeschrieben, anders besetzt. Mit dem Eis, das wir im Laden gekauft haben, der Aussicht auf ein paar Tage im Süden. Doch ich werde jedes Mal daran denken, wenn ich zur Nana hochblicke – und mich erinnern.

  • Cheeeese-us

    N° 7/2023

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