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Autorin: Denise Tonella
Freitag, 10. November 2023

Samuel Walters (1811–1882), Ansicht des Schiffes von Johann Conrad Kuhn, Liverpool, um 1860, Öl auf Leinwand, 75,5 × 109 cm. Schweizerisches Nationalmuseum.

Ich liebe Objekte, die uns um die halbe Welt reisen lassen und aus denen ganz neue Facetten einer Geschichte entspringen, wenn man die Fragen, die man an sie stellt, erweitert. Dieses Gemälde ist ein Werk von Samuel Walters (1811–1882), dem bedeutendsten englischen Marinemaler seiner Zeit. Zahlreiche seiner Bilder wurden von grossen Auktionshäusern verkauft, andere befinden sich in Museen. Das hier abgebildete kam 2016 in die Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums. Es konnte aus dem Besitz der Nachfahren von Johann Conrad Kuhn, dem Auftraggeber des Gemäldes, angekauft werden.

Kuhn kam 1808 in Thal SG zur Welt. Nach einer Ausbildung zum Arzt wanderte er 1833 nach Galveston aus, einer kleinen texanischen Stadt am Golf von Mexiko. Die Schweiz war damals ein Auswanderungsland. Grosse Armut und Abenteuerlust veranlassten viele zum Aufbruch. Nord- und Südamerika waren begehrte Ziele.

In Galveston machte Kuhn Karriere: 1846 wurde er zum schweizerischen Konsul ernannt, daneben betätigte er sich als Baumwollhändler. 1859 baute die Firma S. Gildersleeve & Sons den ungefähr 50 Meter langen Dreimaster. 1860 segelte das Schiff mit einer ersten Baumwolllieferung nach Liverpool, wo Samuel Walters es auf Leinwand festhielt. Am vordersten Mast weht die Schweizer Fahne mit dem Namen des Schiffs, «J. C. Kuhn», dahinter die texanische und die amerikanische Flagge.

Interessant wird die Geschichte des Schiffs, wenn man sich fragt, was es bedeutete, damals in Galveston als Baumwollhändler tätig zu sein. Man muss bedenken, dass um 1860 dreissig Prozent der Bevölkerung in Texas aus versklavten Menschen bestand. Viele von ihnen arbeiteten auf den Baumwollplantagen. Das Gemälde erzählt also auch eine Geschichte der kolonialen Verflechtungen eines Schweizer Händlers.

Das Schicksal des Schiffs änderte sich bereits 1861 radikal, als die amerikanische Marine in New York es übernahm, um es im Sezessionskrieg einzusetzen, ein Konflikt, der seinen Ursprung in der tiefen Spaltung zwischen Nord- und Südstaaten hatte, die vor allem in der Sklaverei-Frage wurzelte. Der Krieg endete 1865 und hatte die endgültige Abschaffung der Sklaverei in den USA zur Folge. Ob das Schiff den Krieg überlebte und wo es eingesetzt wurde, wissen wir (noch) nicht.

Das Bild dieses Schiffes weckt in uns Phantasien, die durch Romane, Erzählungen und Filme geschaffen wurden. Man hört das Rauschen der Wellen und die Stimmen der Seeleute. Was mich jedoch am meisten beeindruckt, ist die Gleichzeitigkeit mehrerer Geschichten, die Samuel Walters Schiffsbild in sich trägt. Es zeigt das Werk dieses begabten Malers, erzählt von der erfolgreichen Auswanderung und Karriere eines Schweizer Arztes, gibt Hinweise auf die Geschichte des Handels und der abenteuerlichen und gefährlichen Schiffsreisen über den Atlantik, bringt koloniale Verflechtungen zutage oder streift die Geschichte eines amerikanischen Bürgerkrieges, bei dem mehr als 600 000 Soldaten getötet wurden. Faszinierend dabei ist, dass seine Geschichte nie zu Ende ist. Denn je nachdem, welche Fragen wir dem Gemälde in Zukunft stellen werden, werden weitere Aspekte zutage treten.

  • Eine Schweiz-Reise

    N° 10/2023

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