Der ehrliche Klappentext

«Kalte Füsse» von Francesca Melandri

Die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri beschreibt in ihrem Buch «Kalte Füsse» eindrücklich, wie sie von der Vergangenheit ihres Vaters eingeholt wurde.
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Autor: Markus Ganz
Donnerstag, 15. Mai 2025

Schon als Kind erfuhr Francesca Melandri, dass ihr geliebter Vater während des Zweiten Weltkriegs als Soldat der italienischen Armee gedient hatte. Er war sogar mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden. Franco Melandri hatte gerne die immergleichen amüsanten Anekdoten vom sogenannten Rückzug aus Russland erzählt.

Erst nach dem Tod des Vaters fand die römische Autorin heraus, dass dieser Russlandfeldzug in Wahrheit grösstenteils ein Ukrainefeldzug gewesen war. Im Rahmen ihrer Recherchen zum Buch «Kalte Füsse» zeigten sich weitere Widersprüche und Fehler in den drei Büchern, die der Vater ab den 1970er-Jahren geschrieben hatte.

Ein Schock sei diese Erkenntnis gewesen: «Und nun marschiert eine Nation namens Russland, die sich immer noch als Imperium versteht und Teil unserer Kultur ist, erneut in ein Land ein, das du vor achtzig Jahren kolonialisieren wolltest.»

Aus dem Schock ist ein Buch entstanden, das über weite Strecken wie ein sinnierendes Zwiegespräch zwischen Melandri und ihrem Vater wirkt. «Kalte Füsse» ist oft emotional geprägt, in den historischen Grundzügen aber sachlich.

Die Autorin schreibt in ihren Anmerkungen, dass sie dieses Buch nicht hätte schreiben können ohne eine neue Generation von Historikern, die den sogenannten Russlandfeldzug «vom Nimbus des unberührbaren Nationalmythos befreiten und mithilfe von Dokumenten und unwiderlegbaren Fakten auf den Boden der Realität zurückholten».

Trotzdem ist es die persönliche Betroffenheit von Francesca Melandri, die dieses Buch auszeichnet. «Mir wird ganz schwindelig, Papa, angesichts dieses verworrenen Gebildes aus Geschichte und Gegenwart.» Denn es ergeben sich bei ihrer Recherche «beängstigende Ähnlichkeiten zwischen deinem Krieg und dem (aktuellen) Krieg in der Ukraine».

Ortsnamen aus den Büchern des Vaters tauchen auch in heutigen Nachrichten auf. In einem aktuellen Video sieht die Autorin, wie zwei ukrainische Soldaten beim Ausheben eines Schützengrabens auf menschliche Knochen stossen. Und sie denkt, dass diese auch von ihrem Vater hätten stammen können. «Dann würde ich nicht existieren, meine Schwestern nicht und meine Kinder auch nicht, und niemand wüsste, dass wir nicht existieren.»

Melandri zeigt auch Wut: «Kein Italiener (…) scheint sich daran zu erinnern, was wir vor achtzig Jahren in deinem Krieg waren: nämlich weder Kollaborateure noch Feinde der Nazis, nein, wir waren ihre Verbündeten.» Und auch was das Plündern angehe, seien die Italiener nicht besser gewesen; Weizen aus der Ukraine war schon damals einer der Gründe für den «Brotkrieg» genannten Einmarsch. Sie prangert an, dass man in Italien, generell im Westen, bis heute nichts aus der Geschichte gelernt habe.

Der Buchtitel «Kalte Füsse» bezieht sich auf die Redewendung «kalte Füsse bekommen», «als Symbol für Feigheit und Ehrlosigkeit, (…) wenn wir im Westen uns weiterhin auf unsere verantwortungslosen kalten Füsse berufen und die Ukraine einem eingefrorenen Konflikt überlassen».

Melandri hinterfragt aber auch den Pazifismus und den Antiimperialismus der westlichen Linken, zu denen sie sich selbst zählt. Und es empört sie, dass im April 2022 «das italienische Parlament für einen Tag des Nationalen Gedenkens an den Opfermut der italienischen Gebirgsjäger» votierte und ihn auf den 26. Januar festlegte, den Jahrestag der Schlacht von Nikolajewka im Jahr 1943, im Umfeld der grösseren Schlacht von Stalingrad. Ob niemandem aufgefallen sei, dass es «vielleicht keine gute Idee ist, (…) an einen Krieg zu erinnern, in dem wir (…) die Besatzer waren»?

Bereits im Dezember 1942 hatte die sowjetische Gegenoffensive begonnen, die zu einem Wendepunkt des Krieges wurde. Bald standen die italienischen Soldaten verloren in der winterlichen Steppe, «und eure Füsse waren kalt, eiskalt, erfroren». Nun sei es nur noch darum gegangen, die eigene Haut zu retten.

Wer überlebte, kam als Antifaschist zurück – war ihr Vater zumindest ein anständiger Faschist gewesen? Am Ende des Buchs bleiben viele Fragen. Und doch kann Melandri mit leichter Verwunderung feststellen: «Sieh mal einer an, Papa, da wollte ich ein Buch über den Krieg schreiben, und stattdessen ist es ein Buch über Demokratie geworden. Über Gerechtigkeit und Freiheit.»

Francesca Melandri: «Kalte Füsse». Klaus Wagenbach, Berlin 2024; 288 Seiten; 34.90 Franken.

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