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Was für ein Schicksal: Eine junge Frau wird ungewollt schwanger, das Paar heiratet überstürzt. Im Juli 1953 kommt in Zürich ihr erstes Kind zur Welt. Das Neugeborene ist gesund, ihm fehlen aber eine Hand und ein Fuss. Bereits nach wenigen Zeilen wird klar, in diesem Buch wird nichts beschönigt. Schnörkellos schildert Autor Alex Oberholzer seine Geburt. «Die Sünden aus dem letzten Leben mussten gigantisch gewesen sein», schreibt er, denn nur ein Jahr später ereilte die Familie «erneut ein Schicksalsschlag»: Der Junge erkrankte an Kinderlähmung. Im Kinderspital (Kispi) diagnostizierten die Ärzte Lähmungen in Beinen, Bauch-, Rumpf- sowie Rückenmuskulatur. Oberholzer wurde als Langzeitpatient aufgenommen und in die Kispi-Aussenstation nach Affoltern am Albis verlegt. «Dort blieb ich zwölf Jahre», schreibt Oberholzer lapidar.
Leserinnen finden im Buch eine breite Auswahl aus persönlichen Erinnerungen. Oberholzer schildert etwa einen Besuch beim Orthopäden, als eine Schwester (Pflegefachfrau) dem damals Zehnjährigen das Bellevue zeigte. «Da machte sie etwas, was mich heute noch leise schauern lässt: Sie setzte ihr Häubchen ab. Langes, blondes Haar fiel auf ihre Schultern. Ich staunte nur und war perplex. Alle Schwestern in meinem Leben trugen immer ein Häubchen. Ich hatte mir noch nie vorgestellt, was drunter war. Und jetzt das. Diese Pracht. Die Welt war voller Wunder.»
Die romantisierte Anekdote darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kindheit vor allem eines war: entbehrungsreich, einsam und schmerzerfüllt. Die jungen Patientinnen und Patienten kannten keine Welt ausserhalb. Das Essen war eher minderwertig, und für persönliche Betreuung blieb wenig Zeit und Raum. Die Kinder litten an Schmerzen, vor allem, wenn Prothesen angepasst werden mussten. Gewisse Erlebnisse haben traumatischen Charakter: Oberholzer schildert in einem Kapitel, wie er als Zwölfjähriger zurück ins Elternhaus kehrte, zu Vater, Mutter, Schwester und Bruder. Es trägt die Überschrift «Die Hölle».
Für immer zurück nach Hause zu gehen sei für ihn eine fürchterliche Vorstellung gewesen. «Vor mir standen die Ärztin und eine fremde Frau. Ich sagte: Grüezi, Schwester Mami. Warum tragen Sie kein Häubchen?» Mit der Rückkehr «war die letzte Verbindung zu meiner gesamten bisherigen Welt abgeschnitten. Ich war nur traurig und verzweifelt.» Den Kontakt zu Eltern und Geschwistern fand Oberholzer nicht mehr. Gerettet habe ihn eine Sonderlösung: Oberholzer handelte sich aus, dass er an den Wochenenden und in den Ferien ins Kispi zurückkehren durfte. Zu den Erlebnissen aus dieser Zeit zählt auch ein Ausflug in die Provence. Für den damals 17jährigen ein grosses Abenteuer, das er bei einem Bootsausflug allerdings beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.
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