Berta» beginnt mit den schönen Erinnerungen. Die längsten Apfelhautschlangen der Welt, die Suche nach dem Bären am Sternenhimmel, die gemeinsamen Spielabende. Erst dann folgt ein erster Hinweis darauf, dass nicht alles schön war.
Berta kam 1884 als viertes Kind einer armen Bauernfamilie im Kanton Aargau auf die Welt. Bei der Geburt des fünften Kindes starben sowohl ihre Mutter als auch das Neugeborene. Der Vater kam daraufhin kaum mehr über die Runden und wurde depressiv. Die Behörden schritten ein. Berta und ihre Geschwister wurden dem Vater weggenommen, getrennt und fremdplatziert. «Verdingkinder waren sie nun», heisst es im Buch von Béatrice Gysin. Was folgte, war ein Leben voller Entbehrungen und 16-Stunden-Arbeitstagen. «Oft sass Berta allein in der Küche. Oft blieb der Hunger.» Zur Schule durfte Berta nur teilweise gehen, eine Ausbildung blieb ihr verwehrt.
Berta war eines von Zehntausenden Kindern in der Schweiz, die im 19. und 20. Jahrhundert von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren. Zunächst richteten sich diese vorwiegend gegen arme Familien, später gegen solche, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprachen. «Das gefährdete Kind galt auch immer als gefährlich», wird in «Berta» treffend festgehalten. Fremdplatzierte Kinder mussten häufig auf Bauernhöfen oder in Erziehungsanstalten arbeiten, wurden misshandelt und manchmal sogar versteigert – alles, um sie auf den «rechten Weg» zu bringen. Die Praxis dauerte bis 1980.
Später war Berta eine von Zehntausenden Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Dienstmädchen verdienen mussten. Auch da galten harte Arbeitsbedingungen. Dienstmädchen arbeiteten meist sieben Tage in der Woche, meistens von früh bis spät. Sie lebten bei ihren Arbeitgebern und waren ihnen ausgeliefert.
Und schliesslich war Berta eine von Zehntausenden Schweizerinnen, die ausgebürgert wurden, weil sie einen Ausländer geheiratet hatten. Ihr deutscher Ehemann musste zudem im Ersten Weltkrieg kämpfen. Als Nicht-Schweizerin hatte sie keinen Anspruch auf Unterstützung durch die Behörden. Erst ab 1952 erhielten die Frauen in der Schweiz die Möglichkeit, ihre Staatsbürgerschaft nach der Heirat zu behalten.
Das ist alles mehr als genug, um daran zu zerbrechen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Berta ihren Humor zu Lebzeiten nie verloren hat und ihrer Tochter und ihren Enkelkindern die Geborgenheit geben konnte, die sie selber nie erleben durfte.
«Berta» ist eine Mischung aus einer Graphic Novel, einer sehr kurz gehaltenen Biographie und wissenschaftlichen Texten. Das macht das Buch äusserst abwechslungsreich. Sterne oder Schneeflocken zieren das dunkel- und hellblaue Cover des Buches. Im Hintergrund ist ein verschwommener Wald zu sehen, über dem Titel ein kleines Schwarzweiss-Portrait der Protagonistin. Das Cover passt zum einfühlsamen Stil von «Berta».
Daran beteiligt waren drei Personen. Die Illustrationen stammen von Béatrice Gysin, der Enkelin von Berta. Sie bestehen aus Bleistiftskizzen und Collagen mit Tierbildern, Dokumenten oder Fotos ihrer Grossmutter und ihres Grossvaters. Immer wieder gibt es darin Neues zu entdecken. Mit wenigen – manchmal sind es nur drei – und kurzen Sätzen beschreibt Bettina Wohlfender, freie Autorin und Dozentin, einzelne Episoden aus Bertas Leben. Unterbrochen werden die Illustrationen und biografischen Texte von Artikeln der Historikerin Mirjam Janett zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, der Kinderarbeit, den Dienstmädchen und der Ausbürgerung von Frauen in der Schweiz.
Das Buch vermag zu berühren und gleichzeitig zu kontextualisieren. Die Leserinnen lernen durch Gysins liebevolle Erinnerungen Berta als Menschen kennen, der sich nicht auf das Unrecht reduzieren lässt, das ihm widerfahren ist. Damit haben die Autorin und ihre beiden Mitstreiterinnen einen wichtigen und kreativen Beitrag zur Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte geleistet.
Béatrice Gysin, Bettina Wohlfender, Mirjam Janett: «Berta». Edition Clandestin, Biel 2023; 96 Seiten; 45 Franken.