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Autor: Tom Kroll
Fotografin: Annick Ramp
Freitag, 10. Juni 2022

Die Rushhour des Lebens begann für Stefan Thurnherr 2003. Der damals 33jährige war frisch verheiratet, eben Vater geworden und hatte einen neuen Job in der Versicherungswirtschaft angetreten. Kirche? «Pah.» Für Thurnherr war Kirche das Gebäude vis-à-vis seines Zuhauses. Wenn er sonntags in der Küche beim Frühstück sass, sah er Frauen, Männer und Kinder St. Peter in der Zürcher Altstadt betreten. Er dagegen blätterte weiter in seiner Zeitung.

Thurnherrs Rushhour ist längst verstrichen. Heute ­klimpert in seiner Sakkotasche der Schlüssel zum Kirchturm. Thurnherr sperrt die Tür zum muffigen Gemäuer auf und klettert über die Leiter nach oben. Die Sprossen knarzen. Im Gewölbe kurz vor der Turmspitze bleibt er vor einer Apparatur stehen. Ein Sicherungskasten? «Nein, das ist ein Computer, der den Uhrzeiger an der Fassade von St. Peter steuert», erklärt er. Ständig sei die alte Uhr stehengeblieben, die Wartung der Mechanik viel zu teuer ausgefallen. Heute liefen die Zeiger auf die Millisekunden genau. «An altem darf man nicht hängenbleiben», sagt er. Die Frage drängt sich auf: «Herr Thurnherr, muss die Kirche so funktionieren wie diese Uhr?» Ein Moment der Stille. Dann: «Das ist mein Ziel.»

Thurnherrs Amtsbezeichnung lautet: «Kirchenkreiskommissionspräsident». Der sperrige Titel geht auf eine Fusion in der Stadt Zürich zurück. 2019 schlossen sich 32 Kirchgemeinden zu einer einzigen Gemeinde zusammen, eingeteilt in zehn Kreise. Geleitet werden alle diese Kreise zentral von einer sieben­köpfigen Kirchenpflege. Thurnherrs Auftrag ist es, für das «gedeihliche» kirchliche Leben vor Ort zu sorgen, wie es in der Gemeindeordnung heisst.

Thurnherr steht dem Kreis 1 vor – hier finden sich Fraumünster, Grossmünster, die Prediger-, die St.-Peter- und die Wasserkirche. Auf dem Papier verspricht sein Amt wenig Macht. Er verfügt über kein eigenes Budget; theoretisch muss alles, was er gestalten will, von der Kirchenpflege abgenickt werden. Doch im Kreis 1 heisst es: Dem Thurnherr wird viel abgenickt. Er sei eben ein begnadeter Organisator, ein Netzwerker, der das Amt auf­gewertet hat. Der Gotteshäuser als Touristenhotspots vermarktet und das Image der Kirche mit kulturellen Events aufpoliert. Es gibt aber auch Reformierte in Zürich, die finden das, was Thurnherr macht, weniger gedeihlich für das kirchliche Leben vor Ort. Sie stellen sich die Frage, ob seine Art, Kirche zu gestalten und zu führen – nämlich mit Marketingmethoden, Kenn­zahlen und einer strikten Verwertbarkeitslogik –, nicht dem Kerngedanken reformierter Tradition widerspricht.

Ein Mann der Zahlen

Eigentlich arbeitet Thurnherr als Partner in einer schweizweit bekannten Vermögensberatung. Dort sorgt er dafür, dass seine Kunden ihre Renten- und Erbschaftsangelegenheiten im Blick haben. Auf der Website seiner Arbeitgeberin hat er dafür eigens eine Videokolumne aufgeschaltet; sie heisst «Stefan Thurnherr erklärt». Man sieht ihn vor Flipcharts stehen und auf Prozentsymbole oder Icons mit Sparschweinen deuten. Für das SRF tritt er als Versicherungsexperte in der Sendung «Kassensturz» auf und vermittelt den Zuschauern, wie sie am besten sparen können.

Heute will Thurnherr erklären, warum einer wie er, der über sich sagt, er sei ein «nüchterner Mann der Zahlen», ein Mann der Kirche wurde. Er will erklären, warum er das Pensum in seinem gut bezahlten Job um fast die Hälfte reduzierte und stattdessen an Donnerstagen und Freitagen ganztägig einen Kirchenkreis organisiert, in einer Zeit, in der doch die meisten Gemeinden Schwierigkeiten haben, überhaupt jemanden zu finden. Und er will erklären, warum die Kirche seiner Meinung nach die Wirtschaft nicht zu fürchten braucht, ja wie sie Hand in Hand zusammen den Weg in die Zukunft beschreiten könnten.

Thurnherr wuchs in einem Dorf in der Nähe von Winterthur auf. Seine Eltern, obwohl keine Kirchgänger, liessen den Sohn taufen und schickten ihn in den Konfirmandenunterricht. Es gehörte sich, Mitglied der Kirche im Ort zu sein. Fürs Leben geprägt hat ihn aber eine andere Organisation: die christliche Jugendgruppe CVJM – oder wie Thurnherr sagt: die Cevis. Die biblischen Geschichten erschlossen sich dem Buben in  Geländespielen», mit dem Kompass in der Hand, dem Taschenmesser im Hosensack, und nachts, wenn er mit seinen Freunden am knackenden Lagerfeuer sass und zu den Sternen aufsah.

«Ich kann mich gut an den Auszug aus Ägypten erinnern», sagt er über diese Zeit – und meint damit eine Wanderung, die ihn als Kind nicht über den Nil, aber über die Töss führte.

Zu den Personen, die den Heranwachsenden beeindruckten, gehörte der Pfarrer. Der Mann verstand es, eine tatkräftige Gemeinde zu versammeln. Eine Gemeinschaft, die half, wenn jemand ins Straucheln geraten war und durchs staatlich finanzierte soziale Netz zu fallen drohte. Brauchte die arme Familie von nebenan eine neue Waschmaschine, fand sich immer jemand, der sie finanzierte. «Wenn Kirchgemeinden gut organisiert sind, dann setzen sie ungeheure Kräfte frei», sagt Thurnherr. «Setzt man ein Fensterglas ohne Kitt in einen Rahmen, fällt es heraus. Ohne Kitt geht es nicht.» Und so, wie sich der Kitt zum Fenster verhalte, so verhalte sich die Kirche zur Gesellschaft.

Ein Macher

Thurnherr kann man sich nicht als einen vorstellen, der nachts gebeugt über theologische Texte nachdenkt. Er ist ein Macher. Fragt man ihn nach seinem Glauben, weicht er aus und spricht von der Gemeinschaft. In Thurnherrs Leben gab es weder ein Erweckungserlebnis noch eine Krise, die ihn zum Kirchgänger machte. Sein Weg in die Kirche war er ein anderer.

Kurz nachdem er sein neues Altstadthaus bezogen hatte, klopfte eine Nachbarin bei ihm an. Ob er nicht einmal die ­Gemeinde kennenlernen wolle? Thurnherr vertröstete sie.

Einige Jahre später, 2009, feierte die Gemeinde von St. Peter auf dem Kirchplatz, dem Platz vor Thurnherrs Haustür, das ­Erntedankfest. Thurnherr mischte sich unter die Leute, trank ein Glas Rotwein, sah sich um und dachte: «Ganz vernünftige Menschen hier.» Als er wenig später seine Kinder in den Konfirmandenunterricht schickte, entstanden zwischen ihm und den Eltern der anderen Jugendlichen erst Bekanntschaften, dann Freundschaften. Und als die Nachbarin wieder an seine Tür klopfte und fragte, ob er helfen wolle, einen neuen Pfarrer für die Gemeinde zu suchen, willigte Thurnherr ein.

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