Während ich mich über die jährliche Kirchensteuer beschwere, gebe ich für die Yogastunde bereitwillig Geld aus. Dabei versprechen mir beide Unternehmen, die hinter den Ausgaben stehen, doch ähnliche Dinge: innere Einkehr, Entschleunigung und Besinnlichkeit.
Die Kirche ist der Ort, den Generationen meiner Familie aufgesucht haben, um zumindest einmal die Woche in andächtige Stille zu verfallen und Zuspruch zu finden. Und auch ich war schon als kleines Kind an den Ablauf eines Gottesdienstes gewöhnt. Trotzdem habe ich mich bis heute nach einer langen und anstrengenden Woche noch nie nach einer Kirchenbank gesehnt, ganz gleich, wie ausgelaugt und trostlos ich mich fühlte. Warum wenden sich so viele Christen der fernöstlichen Spiritualität zu statt dem, was sie quasi von Geburt an kennen?
Anders als ich heute waren meine Vorfahren schwere körperliche Arbeit gewohnt. Das Sitzen und Zuhören war für sie die Ausnahme, der geistige Input eine willkommene Abwechslung zu den eigenen Gedanken. Ich hingegen bin es seit meinem sechsten Lebensjahr gewohnt, still zu sitzen, zuzuhören und abstrakten Erläuterungen zu folgen. Es ist für mich kein Genuss, sondern einfach Alltag, so wie es in den vielen Generationen vor mir das Säen und Ernten, das Schustern, Schmieden und Mahlen war.
Während ich beim Yoga für die Herzöffnung ganz körperlich den Brustkorb dehne und den Blick nach oben richte, falte ich in der Kirche die Hände und starre zu Boden. Im Gegensatz zur Yogastunde möchte ich mich im Gottesdienst nicht mit meinem Körper vereinen, sondern ihn loswerden, um mich besser auf das Geschehen konzentrieren zu können.
In der Kirche nerven mich meine eigenen Befindlichkeiten: meine Müdigkeit vom frühen Aufstehen, mein Frösteln vom Durchzug, meine Rückenschmerzen vom Sitzen. Anstatt den gegenwärtigen Zustand zu akzeptieren, versuche ich ihn angestrengt zu ignorieren. Jede Körperlichkeit, die ich in der Kirche wahrnehme, werte ich als Aufdringlichkeit.
«Ich möchte nicht mein Handy vor der Kirche in den Flugzeugmodus schalten, um drinnen sofort wieder neue Pop-up-Gedanken von der Kanzel zu bekommen.»
Sophia Fritz
Mein Fernbleiben von der Kirchenbank ist nicht die Konsequenz einer Entfremdung. Ich kenne und schätze die Fürbitten, die Predigten, den Friedensgruss und das Orgelspiel. Vieles empfinde ich zwar bis heute als befremdlich, aber nichts davon ist mir wirklich fremd. Mein Fernbleiben entspringt auch keinem Gefühl der moralischen Überlegenheit.
Ich bin frei von der Illusion, dass Menschen im Kollektiv beständig ihren höchsten Werten entsprechend handeln und leben können. Gemeinschaft bringt zwangsläufig gute und schlechte Dinge hervor, und die schlechten betont man so gerne, wenn man über die Kirche spricht, weil es ein Gefühl von Genugtuung verschafft, einer Institution, die sich selbst Heiligkeit zuschreibt, Fehlbarkeit, ja Sünde nachzuweisen.
«Hallo» auf «Namaste»
Genau wie meine Grosseltern sehne ich mich nach tröstenden Worten, Sinnhaftigkeit und Frieden. Aber ich suche diesen Trost nicht mehr in der Kirche, in der ich mich erst mal durch altvertrauten Zweifel kämpfen muss, bevor sich, im besten Falle, etwas Besinnlichkeit einstellt. Mein Fernbleiben ist die Konsequenz einer grösseren Auswahl.
Im Gegensatz zu Christen früherer Zeiten kann ich heute auswählen, ob ich mich mit den Missständen der Kirche noch auseinandersetzen möchte. Von manchen Institutionen kann ich mich nicht lösen, weil mein Beruf, mein soziales Umfeld, meine Zukunft von ihnen abhängen. Doch die Kirche gehört nicht dazu.
Die Arbeitstage sind lang, die freie Zeit ist sehr begrenzt, und die Auswahlmöglichkeiten der Gestaltung sind riesig. Die wenigen Stunden, die man sich zur Regeneration zusammenkratzt, sollen so effizient wie möglich genutzt werden. Auch im Yogastudio bin ich nicht frei von Zweifeln. War das «Live, laugh, love»-Poster an der Wand wirklich nötig? Darf ich mit einem lapidaren «Hallo» antworten, wenn die Rezeptionistin ihre roten Gelnägel aneinanderlegt und mir ein «Namaste» entgegenhaucht?
Aber im Gegensatz zum erdrückend ehrwürdigen Kirchenschiff ist das Yogastudio ein für mich unbefangener Ort, ähnlich gottlos und geschäftig wie die Filiale einer hippen Restaurantkette. Anspannung, Entspannung, Dehnung, Atmung. Beim Yoga bekomme ich zuverlässig und schnell das, was ich bestellt habe: eine Drive-in-Achtsamkeit am Montagabend.
Ein Problem in der Kirche liegt für mich nicht, oder nur geringfügig, an schwacher Rhetorik, fehlendem Elan oder banalen Predigten, sondern an dem Überschuss an Input, den ich im Alltag ohnehin wahrnehme. Wenn ich schon tagsüber konstant mit den Angeboten jongliere, die mir Streamingdienste, soziale Netzwerke, Podcasts und Eilmeldungen entgegenbringen, wenn selbst das Gratisblatt im öffentlichen Verkehr mir auf meiner dreiminütigen Fahrt noch etwas zu sagen hat, dann brauche ich nach Feierabend keinen frischen Impuls mehr, der mich zum Nachdenken anregen soll. Ich möchte nicht mein Handy vor der Kirche in den Flugzeugmodus schalten, um drinnen sofort wieder neue Pop-up-Gedanken von der Kanzel zu bekommen.
Um in dieser leistungsorientierten Gesellschaft einem Burnout vorzubeugen, braucht man am Ende des Tages keine Anregung mehr, sondern eine Abregung, die im besten Falle in ihrer tiefenentspannenden Wirkung an ein künstliches Koma grenzt. Wenn ich mich gegen einen radikalen Austritt aus dem ganzen System entscheide, kann ich meinen Alltag nur mit dem ihm Gegensätzlichen ausgleichen: der Körperlichkeit und dem Bewusstsein für die Intuition.
Achtsamkeit gegen Bares
Natürlich dient der Besuch eines Gottesdienstes nicht nur der Selbstregulation und Besinnung, sondern ist eben auch ein Dienst an Gott. Und nach jeder noch so guten Yoga-Einheit steht da doch wieder die blöde Frage im Raum: Woher kommen wir eigentlich, und was für einen Zweck hat das alles?
Verschiedene Thesen zur Lösung dieser Sinnfragen sind in jeder Religion angelegt und mir aufgrund meiner Prägung aus dem Christentum besonders vertraut. Alle Werte, die ich als Ideale ansehe, kann ich in meiner Muttersprache ausdrücken: allumfassende Güte, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, die Fähigkeit zur Vergebung. Obwohl diese Worte dem nahekommen, was ich meine, scheue ich mich davor, sie im Alltag zu benutzen.
«Die Kirche bleibt altmodisch, jedenfalls dann, wenn sie ihren Kern nicht verleugnet: Begnadigung statt Selbstoptimierung.»
Sophia Fritz
Während mir das Christentum in seiner Spiritualität trotz Dreifaltigkeit und lebendigem Gott fadenscheinig und platt vorkommt, wirken die sieben Chakren und das Konzept von Karma irgendwie charmant. Doch warum spricht man eigentlich von Meditation, wenn man den Zustand der inneren Einkehr auch als Gebet bezeichnen könnte?
Es ist einfacher, dort an die Richtigkeit einer Religion zu glauben, wo man ihren jahrhundertealten kulturellen Hinterlassenschaften nicht im Alltag begegnet. Während ich mich als Christin zu den Missbrauchsfällen und den patriarchalen Strukturen verhalten muss und einem Pfarrer nicht ohne das Wissen darum begegnen kann, darf ich mir hier in Europa, fernab ihrer Kultur, die indische Lehre vorurteilsfrei aneignen.
Meine Einkaufszettel, meine Hobbys und meine Profilbilder sind politische und soziale Statements, deren ich mir durch meine ständige Repräsentation in den sozialen Medien durchaus bewusst bin. Und weil ich mich nicht persönlich für das rechtfertigen möchte, was die Kirche in den letzten Jahrhunderten verbockt hat, befreie ich mich sogar durch meine Wortwahl von dieser Altlast. Ich google How-to-Guides anstatt Gebote, ich führe Dankbarkeits-Journals, anstatt zu beten, ich detoxe, anstatt zu fasten. Die Gefahr, unzeitgemäss, fatalistisch oder einfältig zu wirken, ist beim Gebrauch von kulturell vielschichtig aufgeladenen Wörtern wesentlich höher als bei den eingedeutschten, die bei uns gerade erst mit einseitiger und durchweg positiver Bedeutung aufgeladen werden.
Mir sind die Motivationen der Yogalehrerinnen klarer als die der Geistlichen, deren Altruismus mir suspekt erscheint. Beim Yoga ist es simpel: Achtsamkeit gegen Geld. Doch wer lebt schon wirklich die pure Nächstenliebe, so wie er behauptet?
Wer Yoga macht, ist ein Individualist. Wer als Yogalehrerin arbeitet, wirkt so, als hätte er sich selbst gefunden. Die Gemeinschaft, die der Kirche so wichtig ist, fehlt hier gänzlich. Yoga ist ein Weg, auf dem kein Protokoll von einer höheren Macht geführt wird. Yoga ist der Hund, der sich immer freut, dich zu sehen, egal, wo du vorher gewesen bist. Die Kirche dagegen ist kein loser Verein, sondern das Franchise-Unternehmen Gottes, der genau weiss, wie lange ich schon nicht mehr da war.
Erlösung statt Ehrgeiz
Es gibt noch einen Punkt, der das Yogastudio zum Religionsersatz des 21. Jahrhunderts macht: Durch meine Konditionierung ist es mir lieber, für Erfüllung zu arbeiten, als Gnade zu erlangen. Das Gelingen einer Yogastunde hängt grösstenteils von meiner eigenen Konzentrationsfähigkeit und meiner Disziplin ab. Ich kann über die Zeit hinweg länger in komplizierten Stellungen verweilen, mich tiefer dehnen, mehr zu mir finden und an meinem Flow arbeiten. Während ich beim Yoga sicher mit einer Belohnung rechnen kann, hat Jesus Christus mir in der Kirche durch seinen Tod die Möglichkeit vorweggenommen, einen eigenen Beitrag zu meinem Seelenheil zu leisten. Wer glaubt, wird erlöst. Was kann man schon selbst tun? Im Gegensatz zum Yoga bleibt die Erlösung im Christentum bis zum Ende unklar.
In gewisser Weise fühle ich mich von ihm um meine Methodik betrogen, die mir sonst doch in allen Lebenslagen weiterhilft. Bedürftigkeit inmitten der scheinbaren Fülle und dem Überfluss unserer westlichen Welt impliziert, dass nicht etwas mit unserer Umwelt, sondern mit uns selbst nicht stimmt. Wer Sozialhilfe bezieht, gilt als zu faul zum Arbeiten, Drogensüchtige sind angeblich selbst schuld an ihrem Schicksal, Hausfrauen scheinbar nicht emanzipiert genug, kurzum – Abhängigkeit ist peinlich und ein Beweis für die eigene Unzulänglichkeit.
Yoga ist kein Gott, aber im Wohlstand brauchen wir wenig Trost. Vielleicht kommen wir erst in der materiellen Not zurück zum Glauben, weil dann Bedürftigkeit wieder offensichtlich und nicht mehr individuell und damit schambesetzt ist. Yoga ist die Visitenkarte meiner Selbstdisziplin, das unausgesprochene Versprechen, dass ich an mir selbst arbeite und daran, gelassener, achtsamer und resistenter zu werden. Selbstkritisch und fortschrittsliebend, that’s how we like it.
Die Kirche, die ich kenne, versucht es mit Andachten, Hauskreisen und Taizé-Liedern. Die Kirche, die ich kenne, fragt mich, was es noch braucht, damit man auch aus ihren Veranstaltungen Gelassenheit und Achtsamkeit ziehen kann. Aber die Konsequenz einer grösseren Auswahl an Spiritualitätsmöglichkeiten ist eben auch, dass wir nicht mehr die Motivation haben, die festgefahrenen Strukturen einzelner Institutionen jahrelang zu verändern, wenn drei Strassen weiter schon der Ort existiert, der gegenwärtig unserem Ideal entspricht.
Die Kirche bleibt altmodisch, jedenfalls dann, wenn sie ihren Kern nicht verleugnet. Glaube ist kein autogenes Training. Bei dem Versuch, durch moderne Ansätze auch einen Teil zur zeitgemässen Selbstoptimierung ihrer Besucher beizutragen, verliert die Kirche ihre wichtigste These aus den Augen: Begnadigung statt Selbstoptimierung, Erlösung statt Ehrgeiz. Wenn die Kirche das aufgibt, dann kann sie sich statt des gekreuzigten Jesus auch das «Live, laugh, love»-Poster über die Kanzel hängen – und damit hat das Yogastudio seit Jahren mehr Erfahrung.
Sophia Fritz ist freie Autorin in München.
Der Illustrator Jannis Pätzold lebt in Berlin.