Tief einatmen, die Arme über den Kopf heben, den Blick auf die Fingerspitzen richten, beim Ausatmen den Oberkörper nach unten klappen, die Hände zum Boden bringen. Wieder hörbar einatmen. Ich übe den Sonnengruss. Am liebsten ist mir dabei die Position, bei der Arme, Rücken und Oberschenkel durchgestreckt werden und der Blick zur Nasenspitze geht. Sie heisst Aufschauender Hund.
Der Entschluss, es mit Yoga zu probieren, liegt nur wenige Wochen zurück. Ich schrieb an einem Text, mit dem ich nicht vorwärtskam. Eine schlaflose Nacht lag hinter mir, Liebeskummer plagte mich. Ich war verletzt, traurig, wütend. Meine Atmung war so flach, dass mir schwindlig war. Ich wünschte, ich wäre souveräner, kreativer, glücklicher.
So verordnete ich mir Yoga. Bei Google suchte ich in meiner Stadt Kurse. Die Websites versprachen das, was mir selber abgeht: Gelassenheit, Beweglichkeit, Glück und Spass. Ich konnte wählen zwischen Iyengaryoga, Kundaliniyoga, Hot Yoga, Schwangerschaftsyoga, Hormonyoga, Acro Yoga, Tantra-Yoga, und sogar Guerillayoga gab es. Ich entschied mich für das Studio mit der ansprechendsten Website. Weichgezeichnete Schwarzweissaufnahmen zeigten gutaussehende Menschen, die konzentriert und anmutig übten. So wollte ich auch sein, also buchte ich einen Kurs.
Carpe diem im Nacken
Ich bin nicht die einzige. Die Yogastunde ist gut belegt. Vor mir beugt eine junge Frau geschmeidig ihren Rücken. «Carpe diem» hat sie auf dem Nacken tätowiert. «Achtet auf eure Atmung, spürt die Energie, die durch euren Körper fliesst.» Wir üben den Sonnengruss, die Dreiecke, den Krieger, den Fisch, den Lotus. Ich kann mit den Anweisungen nicht immer Schritt halten, komme mir ungelenk vor. «Im Yoga gibt es kein ‹Falsch›», sagt die Lehrerin, als sie meine Haltung korrigiert. Sie lächelt dabei.
Ich finde das gut. Meine Bedenken, mich unbeholfen zu benehmen, verfliegen rasch. Ich denke zurück, wie elend und ungenügend ich mich noch Stunden zuvor gefühlt habe, Druck im Körper, die Uhrzeit der Textabgabe bedrohlich vor mir. Und jetzt: Alles ist einfach okay, ich bin okay. Das einzige, was ich tun muss, ist, mich zu bewegen, zu atmen und zu entspannen.
Ich fühle mich der Welt wieder gewachsen. Warum mache ich erst jetzt Yoga? Im hellen Raum riecht es nach Räucherstäbchen, die auf einem Altar abbrennen, und doch hat das Ganze keinen schmuddelig-esoterischen Beigeschmack. Die schönen Menschen habe schöne Tattoos und ich bin mitten unter ihnen. Ich fühle mich wunderbar. Auf der Yogamatte übe ich, beweglich zu sein, mich zu spüren, loszulassen. Die Erfahrung, dass auch ich lernen kann, meine Bewegungen und meine Atmung bewusster zu führen, macht mich entspannt, und ja, ich bin irgendwie glücklich.
Nach dem Abschieds-«Om» frage ich die Yogalehrerin, was es mit der jahrtausendealten indischen Tradition eigentlich auf sich hat, von der ich selber kaum etwas verstehe. «Yoga ist keine Religion. Es ist mehr so eine Art Philosophie, die zu allem passt», sagt sie. Auch zu mir passt Yoga, stelle ich fest und verlasse den Raum.
Im Empfangsraum trinke ich Tschaitee aus dem Samowar und studiere die weiteren Angebote des Yogastudios. Da gibt es den «Spiritual Warrior», den «Dynamic Lunch Flow» und das «Early Bird Yoga». Ich habe Lust, das alles auszuprobieren. Erst als ich mich in die Umkleidekabine begebe und vor meinem Schliessfach mit dem Namen «Erfüllung» stehe, wird mir das Ganze doch einen Tick zu albern. Ich krame meine Socken, Hosen und Pullover aus dem Fach und denke: Müsste auf der Schliessfachtür nicht viel eher «Verblendung» geschrieben stehen? Ist Yoga mehr als die Ego-Apotheose einer überspannten Städterin, die sich darüber hinwegtröstet, dass das richtige Leben sie fertigmacht? Und überhaupt: Was übe ich hier genau? Ich höre Adorno «falsches Bewusstsein» rufen.
Yoga ist wie kaum eine andere östliche Weisheitstradition aus seinem philosophisch-asketischen Kontext herausgeschält, banalisiert und markttauglich gemacht worden. Die Religionswissenschaftler Jeremy Carrette und Richard King sehen im Yoga das Opium eines urbanen, säkularen Milieus, das konsumistische Selbstverwirklichung und Wellness verspricht. Die beiden bezeichnen Yoga als Gymnastik mit Hipsterfaktor, die sich mit «Om»-Chants und gegenkultureller Ästhetik eine Aura der Authentizität und des Exotischen verleiht – und doch nur den Glauben der Individuen einer neoliberalen Gesellschaft an sich selber bestärkt.
Auf der Yogamatte übt jeder für sich. Yoga, so Carrette und King, schöpfe das spirituelle Kapital östlicher Weisheitstraditionen ab, sei aber wenig mehr als Wohlfühlprogramm und Survivalkit für ein experimentelles, hippes Publikum. Die gesellschaftlichen Umstände, die dazu führen, dass sich jeder alleine durchs Leben wurstelt, blieben beim Yoga unentdeckt. Ebenso die Tatsache, dass nicht jeder sich den Lebensstil einer Yoga-Übenden leisten kann. Kommodifizierte Erfüllung und Selbstverwirklichung kosten. In meinem Fall sind das dreissig Franken die Stunde.
Carrette und King sind keine Romantiker, sie wissen um die Unmöglichkeit der Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten «ursprünglichen» Yoga. Dennoch beklagen sie die geschichtliche Ironie, die aus einer Tradition, die einst Ich-Verzicht, Körperkontrolle und Einsicht in die Verbundenheit aller Lebewesen lehrte, das Gegenteil gemacht hat. Yoga, so die Kulturkritiker, sei heute oft zu individualistisch, zu gegenwartsbejahend, zu brav, zu unpolitisch. Eine Art Wärmedecke des Neoliberalismus. Oder anders gesagt: Yoga ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems, weil es den Glauben an ein autonomes Selbst aufrechterhält statt ihn aufzusprengen. Gerade darin läge für die beiden das Potenzial religiöser Traditionen: dass sie mehr Widerstand leisten gegen den gesellschaftlichen Status quo. Damit würden sie der Vorstellung eines vereinzelten, autarken Selbst den Boden unter den Füssen wegziehen.
Adorno im Hinterkopf
Vor dem Spiegel beim Haaretrocknen gesellt sich Adorno zu mir und fragt: «Gehst du ins Yoga, weil du Angst hast, zu wenig kreativ zu sein? Übst du dich in Gleichmut, um die Prekarität deines Liebeslebens zu verkraften? Machst du den Krieger, weil du dich gern als souveränen, unverwundbaren Menschen sähest? Oder übst du Yoga, um dein Bewusstsein für deine Verletzlichkeit und für das, was dich und andere kaputtmacht, zu stärken?»
Ich bin mir nicht sicher. Sicher bin ich mir einzig darin, dass ich den Aufschauenden Hund einfach gerne mache. Zurzeit übe ich den Lotussitz. Er will mir nicht gelingen. Ich bin zu ungelenk und denke zugleich an die Ermunterung der Yogalehrerin, dass doch alles nur «eine Frage der Übung» sei. Ich probiere weiter. Vielleicht lerne ich aber auch einfach, dass es okay ist, unbeholfen und ungeschickt zu sein. Und dass es okay ist, es zu bleiben. Im Yogastudio und ausserhalb. Sollte es so richtig gut kommen zwischen Yoga und mir, dann lerne ich vielleicht auch, dass ich in Ordnung bin, wenn ich öfters traurig und wütend bin – weil eben die Welt oft falsch ist.