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Autorin: Barbara Lukesch
Illustration: Pascal Beck
Freitag, 14. Oktober 2016

Seit wir eine Ferienwohnung in Appenzell Ausserrhoden haben, verbringe ich den Sommer meist auf dem Land, umgeben von Bauernhöfen, Wiesen und Weiden. Auf ausgedehnten Wanderungen begegne ich immer wieder Kuhherden. Dabei merkte ich, dass ich ein Rind kaum von einem Ochsen, geschweige denn eine Mutterkuh von einer Milchkuh unterscheiden konnte. Als in den Medien wiederholt Artikel über die Gefährlichkeit von Kühen erschienen, wurde ich zusehends unsicherer beim Durchqueren von Weiden – ich hatte keine Ahnung, wie ich auf ein Tier reagieren sollte, das sich mir nur schon näherte. Gleichzeitig interessierte mich das ländliche Leben immer mehr: Wie sieht eigentlich ein Jahr auf einem Bauernhof aus?, fragte ich mich, welche Arbeiten gehören zu einem landwirtschaftlichen Alltag?

Langsam kristallisierte sich ein Wunsch heraus: Ich wollte für ein Buch über einen Bauern und seinen Alltag recherchieren. Die Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx vom Wörterseh-Verlag war sofort dabei und präsentierte mir einen möglichen Protagonisten: Wisi Zgraggen aus Erstfeld im Kanton Uri, knapp 40, Besitzer von rund 150 Mutterkühen und Kälbern, verheiratet, vier Kinder im schulpflichtigen Alter und – besonders erwähnenswert – seit einem schweren Unfall ohne Arme. Ich winkte ab: Ich wolle ein Buch über einen Bauern und keins über einen Behinderten schreiben, so bewundernswert dieser sein Schicksal auch meistere. Ich stellte mir vor, wie ich ständig um den richtigen Ton und angemessenen Umgang ringen würde, um mir dann keine Blösse zu geben. Die fehlenden Arme würden meinen Fokus zu sehr beeinträchtigen. Doch die Verlegerin blieb dabei: «Lern ihn auf jeden Fall einmal kennen!»

Vor der ersten Begegnung überlegte ich mir, wie ich ihm denn die Hand geben sollte. Musste ich ihm vielleicht beim Trinken oder Essen – wir hatten in einem Restaurant abgemacht – behilflich sein? Als wir uns dann gegenübersassen, lief alles völlig natürlich ab. Der Zufall hatte es gewollt, dass ich mir einige Tage vorher den Arm gebrochen hatte, nun in einem Gips. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu scherzen, vor lauter Solidarität mit ihm hätte ich mir gerade den Arm gebrochen. Wisi lachte schallend, und das Eis war gebrochen. Ohne Zögern drückte ich ihm zur Begrüssung seinen Stumpf, den Rest des linken Armes, der ihm nach dem Umfall geblieben ist. Seine Frau Angelika war mitgekommen und half ihm beim Essen. Routiniert wickelte sie ihm ein Stoffband mit Klettverschluss um den Stumpf, an dem sich eine Schlaufe befand. Dort hinein schob sie die Gabel, mit der Wisi, tief über seinen Teller gebeugt, allein essen konnte. Ich war beeindruckt, aber da kamen mir auch sofort Fragen in den Sinn: Wie zieht er sich seine Kleider an? Wie führt er seinen Hof? Wie fährt er Auto? Wie umarmt (!) er seine Frau und Kinder? Plötzlich wollte ich ihn näher kennenlernen und mich ausführlich mit ihm unterhalten.

Es war faszinierend, ihm zuzuschauen, wie er sich im Alltag bewegt. Wie er mit der Nasenspitze sein iPhone bedient oder das GPS programmiert oder wie er das Auto mit dem rechten Fuss lenkt. Seine Familie hatte die Wohnung möglichst behindertengerecht eingerichtet: Ein elektronisches Schliesssystem erlaubt es ihm, die Haustür auch ohne Arme zu öffnen, im Badezimmer stehen ihm vom Closomat bis zur elektrischen Zahnbürste viele Hilfsmittel zur Verfügung, die ihm eine selbständige Körperpflege ermöglichen. Auch einige Arbeitsmaschinen hat er für viel Geld auf seine Bedürfnisse umrüsten lassen, damit er weiterhin Landwirt bleiben kann.

Wisi Zgraggen war 25 Jahre alt, frisch verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes, als er bei der Arbeit verunfallte. Er geriet in die laufende Ballenpresse, die ihm beide Arme abriss. Eigentlich war vorgesehen gewesen, dass er in jener Zeit den Hof von seinem Vater Alois übernehmen sollte, der Milchkühe züchtete. Damit war es plötzlich vorbei. Noch auf der Unfallstelle sagte Wisi aber zu seinem Vater, er werde weiterbauern, sie müssten allerdings die Milchkühe verkaufen, weil er nie mehr melken könne.

Schweren Herzens willigte Alois ein. Seine Herde war sein ganzer Stolz, aber er realisierte sofort, dass ihr Hof nur so eine Überlebenschance hatte. Und nichts war ihm wichtiger, als dass mit Wisi auch die fünfte Generation der Zgraggens in Erstfeld Landwirtschaft betrieb.

Vater und Sohn machten sich auf die Suche nach Alternativen. Nachdem sie die Zucht von Alpacas, Damhirschen und Truthähnen verworfen hatten, entdeckten sie im Internet Dexterkühe, ausgesprochen kleine, robuste Tiere mit schwarzem oder dunkelbraunem Fell und delikatem Fleisch, mit denen auch Wisi zurechtkommen würde. Gemeinsam bauten sie eine neue Herde auf, besuchten Züchter in Norddeutschland und Dänemark, wo die Dexter-Rasse besonders verbreitet ist.

Kühe belegen Spitzenplätze

Heute ist Wisi ein erfolgreicher Fleischproduzent, der sein Weideland über die Jahre nach und nach erweitert hat. Hier noch eine Parzelle dazugekauft, dort eine schöne Weide gepachtet. Keine Selbstverständlichkeit in einem Bergkanton, in dem der landwirtschaftlich nutzbare Boden rar und deshalb hart umkämpft ist. Sein Fleisch verkauft er direkt ab Hof. An Tierschauen wie dem Swiss Open belegen Zgraggens mit ihren Tieren Spitzenplätze oder stellen sogar den Champion. Nach wie vor kann Wisi auf die Hilfe seines Vaters zählen, obwohl er seit 2010 die alleinige Verantwortung für den Betrieb trägt. Dieses Jahr hat Thomas, sein Ältester, endgültig beschlossen, in die Fussstapfen des Vaters zu treten, und eine Lehre als Landwirt begonnen. Mit ihm käme auf dem Bielenhof die sechste Generation zum Zug.

Wisi ist ein Mensch, der es seiner Umgebung leicht macht, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Er mag es nicht, wenn man ihm etwas abnehmen will, was er auch selbst erledigen kann. «Ich muss nicht bemuttert werden; ich habe schon eine Mutter.» Nach unseren ersten Gesprächen, die wir immer am Küchentisch führten, räumte ich jeweils eilig die leeren Kaffeetassen weg. Doch bald merkte ich, dass er sich genauso gut Tasse für Tasse zwischen Wange und Armstumpf klemmen und sie in den Ausguss stellen kann. Auch die automatische Kaffeemaschine bedient er alleine. Nur mit den gefüllten Tassen geht das nicht. Oder mit dem Pullover, den er sich nicht selber überziehen kann. Oder mit der Zigarette, die ihm jemand in den Mund stecken und anzünden muss. In all diesen Fällen bittet er ungeniert um Hilfe. An seine Grenzen stösst er, wenn er allein unterwegs ist und Wasser lösen oder das grosse Geschäft verrichten muss. Dann braucht er jemanden, der ihm im wahrsten Sinne die Hose runterlässt oder – noch schamvoller – den Hintern putzt.

Das eigene Versagen eingestehen

Es sind solche Situationen, die ihm das selbständige Leben einschränken. Doch er hat Strategien entwickelt, die ihn gut durch den Alltag kommen lassen. Ist er ausserhäuslich unterwegs, trinkt er den ganzen Tag lang nahezu nichts und kompensiert den Flüssigkeitsmangel abends daheim. Muss er trotzdem einmal austreten, wendet er sich an Menschen, die Kinder haben und wissen, was es heisst, jemanden auf die Toilette zu begleiten. Als er einmal auf einer Heimfahrt unwiderstehlichen Stuhldrang verspürte, klopfte er beim nächstgelegenen Altersheim an in der Annahme, das Pflegepersonal müsse mit solchen Notfällen vertraut sein.

Wisi Zgraggen handelt praktisch, ist zupackend und immer daran interessiert, vertrackte Situationen möglichst einfach zu lösen. Er hat das Glück, ausgesprochen heiteren Gemüts zu sein und nie, nicht einmal in den schweren Tagen nach dem Unfall, von Depressionen heimgesucht zu werden. Gleichzeitig betrachtet er sich und sein Leben mit grosser Nüchternheit. Er sei sich bewusst, sagte er mir einmal, dass er niemals allein leben könne und in hohem Masse von seiner Familie abhängig sei, insbesondere von seiner Frau Angelika. Dass ihre Ehe den Unfall unbeschadet überstanden hat, ja dass das Paar inzwischen vier Kinder hat, bezeichnet er denn auch als «einen der grössten Glücksfälle» seines Lebens.

Schliesslich trage er selbst eine gewisse Schuld an seinem Unfall: «Es war mein Fehler, dass ich den Motor des Traktors, der die Ballenpresse antreibt, aus purer Bequemlichkeit nicht abgestellt habe. Wäre er nicht gelaufen, wäre mir wahrscheinlich nichts passiert.» Er musste sich damals dieses Versagen eingestehen und damit leben lernen. Für ihn gehört diese Einsicht nun schon längst zu seiner Geschichte. Letztlich hätten sie alle – er und seine Angehörigen – mit dem Geschehenen weiterleben müssen: «Das heisst aber auch, dass ich es mir und meiner Familie schuldig bin, jeden Tag alles daran zu setzen, ein möglichst normales Leben zu führen.»

Barbara Lukesch: Bauernleben – Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zgraggen. Wörterseh-Verlag, 2016.

Barbara Lukesch ist freie Journalistin und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen sowie an der Schweizer Journalistenschule MAZ. Sie lebt in Zollikon ZH und Gais AR.