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Autor: Erwin Koch
Illustratorin: Kati Szilágyi
Freitag, 07. Juni 2019

Wie erzählt man sein Leben?
Wo anfangen?

Mit der Mutter, die mich gebar – als zehntes von elf Kindern?
Mit dem Vater, der im Aktivdienst war, Soldat, weit weg, als ich zur Welt kam?
Oder mit der Wahrheit, dass ich, fünfundsiebzig, ausgestattet mit einem künstlichen Knieteilgelenk, ein gutes Leben hatte, trotz allem?
Wegen allem!

Meine Mutter, ihre Eltern stammten aus Deutschland, war eine starke Frau. Und friedfertig war sie, auf Ausgleich bedacht, versehen mit einem Blick über die Familie hinaus. Meine Sicherheit, dass es das Leben, zumindest grundsätzlich, gut meint mit einem, habe ich wohl von ihr, dieses Urvertrauen, dass mir nichts passieren kann – ausser das, was ohnehin passiert, irgendwann, der Tod.
Und passiert, solange ich lebe, trotzdem etwas, was ich nicht will, mache ich das Beste draus.
Man kann, finde ich, nicht sein Leben lang nur auf einem Stuhl sitzen, unbeweglich und steif, weil man Angst hat, das Leben stelle einem eine Falle, sobald man vom Stuhl aufsteht.
Damals, mit Hans, meinem Mann, der so anders war als ich, dachte ich oft: Theres, was hast du für ein Glück, nicht ständig solche Zweifel und Ängste zu haben wie er.
Hans starb am 14. April 2015.
Am Vormittag brachte ich ihn noch einmal ins Kantonsspital Winterthur, die Ärztin sagte, medizinisch sei Hans nicht mehr zu helfen, und ich sah, wie seine Züge sich plötzlich lösten und weich wurden, fast glatt und sanft, wir legten ihn auf ein Bett, ich fuhr nach Hause, um seine Zahnbürste zu holen, seinen Pyjama.

Und als ich wiederkam, war er tot.
Hans.
Er ging, als niemand bei ihm war.
Typisch Hans.

Ich stamme aus Marthalen, Zürcher Weinland, und hatte sechs Brüder und vier Schwestern, ich bin die Zweitjüngste. Mein Vater war Bauer, meine Mutter Bäuerin, wir hatten, wenn’s hoch kam, acht Kühe, es war Krieg, als ich im Mai 1943 zur Welt kam.
Niemand hatte mich sehnlichst erwartet – ein Kind mehr im Haus, am Tisch, im Bett.
Sonst nichts.
Das ist es vielleicht, was mich geprägt hat: die Wohltat der späten Geburt.
Ich wurde in eine riesige Familie hineingeboren, ich war nichts Besonderes, aber eine von ihnen, eine von elf, getragen vom Gefühl, es sei gut, was ist und wie es ist. Von meinem Vater, der Hände hatte wie Schaufeln, habe ich das Zupackende.

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Das Schönste, was Hans, mein Mann, in all den Jahren je zu mir sagte, in zweiundvierzig Jahren, waren die Worte: Danke vielmal, Theres, dass du mich mitgenommen hast.
Danke vielmal, Theres, dass du mich mitgenommen hast –

Das sagte er in den Strassen von Helsinki, als wir, ans Jahr kann ich mich nicht erinnern, von einer Reise zum Nordkap kamen – von einer Reise, gegen die er sich lange gesträubt hatte.
Die ihm, bevor er dann doch mitkam, zu ungewiss gewesen war.
Zu teuer.
Zu aufregend.
Zu irgendwie.

So war er, mein Hans – anders als ich.

Denke ich an meine Kindheit in Marthalen, denke ich an die Freiheiten, die wir hatten.
Die Freiheiten, die unsere Eltern, vielleicht aus Not, uns liessen. Was stiegen wir auf Bäume und Dächer, was spielten wir im Wald, stundenlang, keiner wusste, wo wir waren, was wir taten.
Nichts Böses geschah, kein Unglück, kein Weltuntergang, höchstens ein blauer Fleck, ein wundes Knie.
Jeden Samstag feuerte die Mutter den grossen Kessel ein, zog uns Kinder, eines nach dem andern, durchs warme Wasser in der metallenen Wanne, befahl dann, kaum war man dem Bad entkommen, ein Scheit nachzulegen, damit auch die Schwester oder der Bruder, der nun an der Reihe war, noch warmes Wasser hatte.
Manchmal, meist abends, schickte sie einen zu den Nachbarn, ein Körbchen am Arm, darin zwei Eier.
Einfach so – weil sie wusste, dass die Nachbarn keine Eier hatten.
Obwohl wir selber kaum genug davon hatten.

Aber wie erzählt man sein Leben?
Wo beginnen?
Vielleicht doch mit der frühesten Erinnerung?
Es muss 1944 oder 1945 gewesen sein. Ich spielte draussen vor dem Haus, als ein Militärflugzeug geflogen kam, schnell und heulend zog es übers Weinland, ich erschrak und begann zu schreien vor Angst – eine Schwester zog mich ins Haus, hielt mich, trocknete meine Tränen.

Nichts Besonderes.

Bei Hans, der mein Gegenteil war oder vielleicht auch nicht, war es anders: Er war der Älteste hier auf diesem Hof, Gemeinde A., Kanton Zürich, wo ich nun seit achtundvierzig Jahren bin, Hans war das erste Kind seiner Eltern, das erste von sechs, sein Vater war im Dienst, als Hans Bub war, jeden Morgen um fünf half er der Mutter beim Grasholen, ging dann zur Schule, molk abends die Kühe, half beim Heuen, beim Emden, bei der Kartoffelernte, bei der Zuckerrübenernte, überall und ständig, Hans musste zu früh zu viel Verantwortung übernehmen.
Das Schicksal des Ältesten.

Die Schublade seiner Mutter war ständig voller Rechnungen, die sie erst bezahlte, wenn das Kartoffelgeld kam, das Weizengeld.
Diese Dinge haben aus ihm gemacht, was er war –
Ein übervorsichtiger Mensch.
Zögerlich.
Irgendwie ängstlich.
Die Welt anderswo interessierte ihn wenig, mich umso mehr. Woher meine Lust auf Fremdes kommt, weiss ich nicht. Sie steckt in mir. Kaum hatte ich das Geld beisammen, kaufte ich ein kleines Auto, fuhr nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, überall war mir wohl.

Was trieb es Hans doch um, wenn er Ende Monat eine Rechnung nicht bezahlen konnte.
Dann bezahlen wir sie halt später, sagte ich, sobald wir bezahlen können. Das machen alle so.
Als er, nach langem Ächzen und Zögern, sich endlich dazu entschlossen hatte, den alten Stall umzubauen, verliess ihn plötzlich der Mut.
Reicht das Geld?
Reicht das Geld?
Irgendwie reicht es bestimmt, lachte ich.
Aber du bist schuld, wenn wir verlumpen, sagte Hans.
Diese Schuld, sagte ich, nehme ich gern auf mich.

Mein Hans.

Es geht immer irgendwie weiter.
Und sterben muss man sowieso.

Als ich in der ersten Klasse war, sieben oder acht Jahre alt, starb der Mann unserer Nachbarin, die Frau war schwanger, erwartete ihr viertes Kind. Und plötzlich, ich weiss nicht mehr wie, war ich, wenn die Nachbarin und ihr Knecht auf dem Feld waren, die Kinder in der Schule, Betreuerin des Neugeborenen, ich umsorgte es, wickelte es, wusch und fütterte es – man traute mir etwas zu.
Ich traute mir etwas zu.
Während Wochen und Monaten.
Was ich tat, war im Dorf, in dem ich lebte, selbstverständlich, in der Welt, in die ich geboren war.

Erzählt man so sein Leben?

Zuckerrüben brauchen Pflege. Tagelang geht man durch die Felder, lockert die Erde, hackt aus dem Boden, was nicht auf den Acker gehört.
Aber einmal, viele Jahre sind es her, wuchs zwischen den Rüben eine Sonnenblume, einsam und stark.
Ich liess sie stehen, eine Pflanze am falschen Ort, aber wunderschön.
Die Blume wurde immer grösser, begann zu blühen.
Eine Blume in der Mitte von Zuckerrüben. Und irgendwann war sie weg. Hans hatte sie aus dem Boden gerissen.

So war er.

Er war ein guter Mann, ein guter Vater.
Ich hatte ihn gern.
In all den Jahren hat er mir nie etwas geschenkt.
Weil er nicht auf die Idee kam, ein Geschenk, egal wie klein, könnte mich freuen, könnte mir guttun.
Er hat sich selber nie etwas geschenkt.
Weil er nicht auf die Idee kam.
Weil er sich selber keine Freude machen konnte.
Was Hans tat, musste nützlich und nötig sein.
Basta.
Ja, wir stritten, wir stritten oft.
Und wenn ich sagte, nun würde mir alles zu viel, am liebsten liefe ich weg, antwortete er: Wo willst du denn hin?
Dass ich bei ihm bleibe bis ans Ende seiner Tage, war ihm selbstverständlich.
Ich, seine Frau, war ihm selbstverständlich.
Und er mir – wenn ich ehrlich bin.

Kann man sein Leben überhaupt erzählen?

Mit acht hatte ich ständig Kopfschmerzen, es ging mir schlecht und schlechter, schliesslich brachte man mich zum Arzt. Der meinte, ich hätte wohl etwas Falsches gegessen. Und schickte mich nach Hause. Es wurde noch schlimmer. Kantonsspital Winterthur. Hirnhautentzündung. Eine Woche lang lag ich in einem Zimmer, allein, isoliert. Meine Mutter besuchte mich, ich sah ihr Gesicht hinter einem kleinen Fenster, sie winkte, ich winkte, ich freute mich, sie zu sehen.
Aber ich weinte nicht – das Spital hatte nichts Bedrohliches, nichts Gefährliches, ich kam mir nicht verlassen vor.
Die Geborgenheit, die mich zu Hause umfing, das Fundament meiner ersten Jahre reichte bis nach Winterthur.
Nach einer Woche verlegte man mich in einen Saal, alte Frauen darin, die wenig sprachen – es war, wie es war, 1951.

Als ich in der zweiten Klasse war, acht oder neun, heiratete eine Schwester.
Dann noch eine.
Noch eine.

Eine lebte nun in A. an der Thur.
Die besuchte ich oft, übernachtete dort, half ihr im Haus –
ich war jetzt in Zürich in der Lehre, Hausbeamtin, mit Praktikum in der Kantine von Rieter in Töss, Winterthur.
Eines Abends, 1963, weihten die Leute von A. ihr neues Schulhaus ein, ein Dorffest. Ich ging hin – da sah ich ihn zum erstenmal.
Wir tanzten.
Und tanzten wieder.
Hans sagte meiner Schwester, sie brauche sich um mich nicht länger zu kümmern, er bringe mich sicher und schadlos nach Hause.

Eigentlich wollte ich nie einen Bauern.

Er wollte mich küssen.
Ich nicht.

Man sah sich wieder –

Und eines Tages – mein lieber Hans – stieg er auf sein altes Velo und fuhr von A. nach Töss, wo ich bei Rieter in der Kantine war, er blieb bis am Abend – wir küssten uns.
Und Hans stieg wieder auf sein Rad, fuhr so froh und beschwingt nach Hause, dass die Polizei meinte, da komme ein Betrunkener, man hielt ihn an, Hans war nüchtern, aber verliebt.
Wie ich.

Jetzt ist er tot.
Ich denke oft an ihn.
Seine Katze, die sich Hans, kaum lag er hier auf dem Sofa, jeweils auf die Brust gelegt hatte, brauchte vier Wochen, bis sie begriff, dass er nicht wieder kommt.
Ja, ich denke oft an ihn.
Wenn ich etwas bereue in meinem Leben, dann dies: dass ich vielleicht zu früh aufgab, ihn für die Welt zu begeistern, die er nicht kannte.
Als ich Hans zum erstenmal sah, hatte er den Hof seiner Eltern, abgesehen von der Zeit als Rekrut und Soldat, noch nie verlassen.
Die Welt, die er nicht kannte, war ihm unheimlich.
Er wollte sie nicht, er brauchte sie nicht.
Und irgendwann gab ich auf, ihn zu bereden, Hans, lass uns doch einmal einen Ausflug machen, lass uns verreisen, nur für zwei Tage, Hans, lass uns, lass uns, lass uns.
Das bereue ich, dass ich vielleicht zu früh aufgab.
Ich dachte, irgendwann käme er selber auf den Geschmack der Welt.
Es gab Zeiten, da dachte ich, seine Kühe seien ihm wichtiger als ich.
Dann schämte ich mich, dass ich so dachte.

Wenige Wochen vor seinem Tod fuhren wir durchs Toggenburg, Hans ging es schlecht. Ich sagte: Lass uns hier links abbiegen, Hans, fahren wir auf den Säntis.
Er nickte.
Wir setzten uns in die Bahn, es war ein schöner heller Tag, und als wir Stunden später wieder ins Auto stiegen, sagte er: Das war das letzte Mal, dass ich dort oben war.

So war es.

Leukämie.

Die Hochzeitsreise, Mai 1970, ich war schwanger, ging an die italienische Riviera. Dort hatte ich einst einen Sommer lang gearbeitet. Hans, sagte ich, lass uns an Meer fahren, dort ist es so schön, so hell, so wunderbar.
Schönes und Helles gibt es auch hier, sagte Hans.
Schliesslich fuhren wir in meinem kleinen Renault nach Italien – Hans sass stumm neben mir, mürrisch, und begann erst zu reden, als der Gotthard längst hinter uns lag.

Vier Winter lang war ich schwanger, wir haben vier Kinder, Peter, Marianne, Walter, Erika, vier bodenständige Menschen, mein Stolz.

Manchmal sagte er: Um neun fahren wir aufs Kartoffelfeld.
Dann lag es an mir, alle vier Kinder in Windeln zu packen, alles bereitzustellen, was mit auf den Acker musste, Milch, Brei, Brot, Most, es lag an mir –
Hans merkte nicht, dass ich oft überfordert war.
Hans merkte wenig –

Trotzdem – er war ein guter Mann.
Mein Mann.

Bevor wir heirateten, hatten wir uns Ringe gekauft, einen für ihn, einen für mich. Irgendwann, Jahrzehnte später, fiel ihm seiner, schmal und dünn gerieben, vom Finger – ich schnitt mir meinen, der zu eng geworden war, mit der Eisensäge entzwei.
Hans, seit dreissig Jahren sind wir nun verheiratet, lass uns neue Ringe kaufen, einen für dich, einen für mich.
Wozu?

Ich kaufte mir einen neuen, bezahlte ihn mit meinem Geld.
Aber Hans –

Du bist schuld, wenn wir verlumpen.

Wo willst du denn schon hin?

Wir hatten einen schönen Baumgarten, viele alte Bäume, einer neben dem andern. Dann kam ein eisiger Winter, ich weiss nicht mehr wann, die meisten Bäume erfroren, es gab im Herbst kaum Obst – und ich hatte wenig zu tun. Da nahm ich, mittlerweile Lehrerin an der Sonntagsschule von A., meinen Mut zusammen und ging in einen Fortbildungsurlaub, zehn Tage lang.
Zehn Tage –
Hans verstand nicht.
Konnte nicht.
Hans sagte nichts.
Er schwieg und schwieg.
Und Jahre später, als Hans mich doch ab und zu begleitete, ans Nordkap, an die Ostsee und so weiter, sagte ich ihm: Wäre ich damals nicht gegangen, hätte ich später den Mut nie mehr gehabt.
Du bisch es cheibe Fraueli, sagte er.
Das sagte er oft.

Ich glaube, am liebsten war er im Stall.
Und im Kavallerieverein.
In der Männerriege.

Mein Mann –

Als er sechzig wurde, schlug ich ihm vor, den Hof unserem Ältesten zu übergeben. Hans zögerte. Dann übergab er. Und wir, Hans und ich, zogen in die Wohnung nebenan, die wir bis anhin vermietet hatten.

Und –
Dann –
Es kam eine schwierige Zeit –
Am Morgen wusste ich, die ich dreissig Jahre lang jeden Morgen den Ofen eingeheizt hatte, kaum noch, wie man den Ofen einheizt, ich wusste kaum noch, wie man kocht, wie man sich anzieht, am liebsten wäre ich nicht mehr aufgestanden, es ging mir immer schlechter, schliesslich brachte man mich in die psychiatrische Klinik in Littenheid, Depression, Burnout, es hiess, ich müsste sieben Wochen bleiben. An manchen Wochenenden durfte ich nach Hause, Hans holte mich ab, Hans brachte mich hin, er war, wie er war, Hans redete nicht viel, Hans erzählte von der Ernte, von den Kühen und Katzen, seinem Alltag – ich war froh, dass es so war.

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Juli 2020
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In der Klinik erinnerte ich mich an einen Traum, den ich einst geträumt hatte, ich war in den Zuckerrüben an der Thur, ich allein, da ist plötzlich ein riesiges Flugzeug über mir, ein Jumbojet, und stürzt ab, ich werfe mich zu Boden, die Hacke neben mir, überall Staub und Dreck, eine dunkle braune Wand, und ich warte, dass der Dreck über mich kommt, mich zudeckt und erstickt – plötzlich streichelt jemand meinen Rücken, ganz leise und zärtlich, ich stehe auf und gehe nach Hause.

Kann sein, dass mein Hans mich streichelte.
Im Traum.

Nun sitze ich hier am Fenster und erzähle mein Leben.
Es war gut zu mir.
Ist es noch.
Wegen allem!

Und eines Tages, nicht mehr sehr fern, steht meine Asche neben der von Hans, hier in A. am Rand des Kantons Zürich.
Auf dem Stein an seinem Grab ist noch Platz für einen Namen: meinen.

Theres –