Nur die deutsche Sprache kennt das Wort Heimat und die damit verbundene Vorstellung, in einer Landschaft seine Wurzeln zu haben. Der Schriftsteller und Pfarrer Jeremias Gotthelf hat die Sehnsucht nach einem eigenen Fleck Erde einst in Geschichten gepackt. Sie spielen im Emmental – einer ländlichen Schweiz, in der die Menschen fleissig und gottesfürchtig sind. Das ist bald 180 Jahre her.
Wer heute die Bundesstadt Bern Richtung Osten verlässt und immer kleineren Landstrassen folgt, befindet sich nach einer halben Stunde Autofahrt inmitten einer eigentümlichen Landschaft, die gegürtet ist von sanften Hügeln. Bei offenen Fenstern riecht es nach Gülle, auf den Anhöhen stehen einsame Bauernhöfe mit Walmdächern bis zum Boden und Fensterreihen mit Blumentrögen, daneben dunkle Schuppen mit geschlossenen Toren. Rund vierzig Dörfer zählt die Region um das Einzugsgebiet der Emme und der Ilfis, verteilt auf einer Fläche, die so gross ist wie der Genfer- und der Vierwaldstättersee zusammen. Das Hohgantmassiv grenzt sie gegen das Berner Oberland ab, das Napfgebiet gegen Luzern.
Doch eigentlich ist das Emmental mehr Mentalität als absteckbares Gebiet. Die Dörfer haben Namen wie Eggiwil, Heimiswil, Lützelflüh oder Sumiswald. Sie gleichen sich: Im Dorfkern findet sich die Dreiheit von Beiz, Pfarrhaus und Kirche. Fast in jedem Ort wartet irgendwo am Strassenrand ein Bär aus Holz, der den Reisenden zuwinkt. Eine Randregion, entkoppelt vom Rest der Schweiz. Ohne Navi könnte man hier verlorengehen. Oder sich gleich in einem Chrachen oder auf einem Hoger niederlassen.


Jeder in Krauchthal kennt Herrn und Frau Pfarrer. Daran hat sich das Pfarrehepaar Jasmin Zehnder, 33, und Tobias Zehnder, 36, auch nach drei Jahren nicht gewöhnt. Manchmal wären sie gerne einfach nur Jasmin und Tobias.
Grillen zirpen, der Motor eines Traktors springt an, und von weit her sind die Schreie eines Schweins zu hören. Irgendwann beginnen die Glocken der reformierten Kirche die neunte Stunde zu schlagen. «Willkommen im Emmental», begrüsst Jasmin Zehnder die Besucher. Seit gut drei Jahren teilt sie mit Tobias das Pfarramt der Gemeinde. Dazu gehört auch, dass sie das 7-Zimmer-Pfarrhaus neben der Kirche bewohnen, inklusive Hund Diego und Kater Tulio. «Als wir hierherzogen, mussten wir zuerst einmal Möbel für die vielen leeren Räume anschaffen», erinnert sich Jasmin.

Von den 2300 Einwohnern im Dorf sind 1700 reformiert. An das Pfarrleben im Emmental haben sich Jasmin und Tobias noch immer nicht recht gewöhnt: «Obschon wir beide auch auf dem Land aufgewachsen sind, geht es hier zu wie zu Gotthelfs Zeiten. Jeder kennt den Herrn und die Frau Pfarrer. An einen Feierabend ist meist nicht zu denken», sagt Tobias. Zudem werde grosser Wert auf Etikette gelegt. So auch bei der Gartenpflege: «Der Umschwung ist das Instagram der Emmentaler. Damit präsentierst du dich nach aussen. Das ist auch der Grund, weshalb unser Pfarrgarten so akkurat hergerichtet ist – entgegen meinem Naturell», sagt Tobias.
Die Emmentaler seien aber auch sehr freiheitsliebend. Der Pfarrberuf sei deshalb eine Mischung von Freestyle und Sozialkontrolle: «Wenn die Kirchgemeinde hinter dir steht, kannst du auf dem Land ziemlich vieles ausprobieren. Ich muss dafür nicht zuerst noch zehn Pfarrkollegen fragen, wie das in den Städten der Fall ist.» Die Leute seien unkompliziert und machen mit, zum Beispiel bei einem Gottesdienst mit Videoprojektionen oder Brunch. Dennoch müsse er «eine Gattung» auf der Kanzel machen. Sein Hemd für die Sonntagspredigt sei deshalb stets frisch gebügelt. Weil er seine Mühe damit hat, hilft ihm der 1800-Watt-Cleanmaxx: «Während ich die Predigt ein letztes Mal übe, lasse ich nebenher die Bügelpuppe laufen.»


Gotthelf über allem: Ganz oben im Buchregal von Jasmin und Tobias Zehnder finden sich die gesammelten Werke von Jeremias Gotthelf. Albert Bitzius, wie der Schriftsteller mit richtigem Namen hiess, war vor gut 190 Jahren selber Pfarrer im nahen Lützelflüh. Mit seinen Erzählungen schuf er den Mythos Emmental und seine Figuren: die arbeitsamen Bauern, die geselligen Runden in der Beiz und den hochverehrten Herrn Pfarrer, der mit wohlwollender Strenge über die Gemeinschaft und ihre Sitten wacht. «Der Wille zur heilen Welt ist bis heute im Emmental zu spüren», sagt Jasmin.



Der Jakob-Markt in Zollbrück ist Emmentals Rohstofflager. In den 1940er Jahren von der Familie Jakob als Gemischtwarenladen im nahen Rüderswil gegründet, versorgt heute das in dritter Generation geführte Unternehmen mit 180 Angestellten die Menschen aus der Region mit Schürzen, Arbeitsschuhen, Pflanzenerde, Faden und Zwirn. Milchwaren, das Fleisch und die frischen Erdbeeren stammen aus lokalen Landwirtschaftsbetrieben. Über ein Viertel der fussballfeldgrossen Verkaufsfläche nimmt die legendäre Woll- und Garnabteilung ein: Die Emmentaler lieben die Handarbeit. Bis auf wenige Plätze ist der Besucherparkplatz vor dem Jakob-Markt besetzt. Hier in Zollbrück hat Konkurrent Landi keine Chance.

Lilly Brönnimann, 89, und Rosa Schlunegger, 88, sind im Emmental geboren und werden hier wohl auch sterben. Im Seniorenheim Dändlikerhaus in Ranflüh erinnern sie sich gern an ihr Leben. Rosa sagt: «Es isch geng bös gsy, aber schön.»
Lilly Brönnimann wohnt seit dreieinhalb Jahren im Dändlikerhaus. Einige Jahre vor ihrem Umzug ins Heim hat sie es mit der Tochter zusammen besichtigt. Danach konnte sie sich vorstellen zu bleiben. Heute sagt sie: «Es ist wie eine Familie.» 21 Bewohnerinnen und Bewohner leben in der ehemaligen Pension für Diakonissinnen, die meisten davon über 85 Jahre alt. Fast alle stammen aus der Gegend und kennen sich seit der Primarschule oder vom «Schätzelen» früher. Nachmittags trifft man sich unten in der Wohnstube, um einen Jass zu klopfen, oder zum «Brichten», wie hier «einen Schwatz halten» genannt wird.
Lilly Brönnimann, die in Langenthal zur Welt kam, erzählt bei solchen Gelegenheiten auch gerne von ihrer Zeit in Südkorea. Ende der 1950er Jahre begleitete die gelernte Verkäuferin ihren damaligen Mann, Offizier und Sekundarlehrer, von Burgdorf nach Panmunjom, genauer, in die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea, die seit Ende des Koreakriegs 1956 existiert. Hatte ihr Mann Ferien, besuchten sie andere Länder, so auch Thailand und Japan. Nach einem halben Jahr kehrte sie ins Emmental zurück. Von ihrem Zimmer im Dändlikerhaus aus sieht sie nun bei klarem Wetter bis zu Eiger, Mönch und Jungfrau. «Ich mag die Sonnenuntergänge hier. Mir geht es gut.»
Rosa Schlunegger pflichtet ihr bei. «Wir haben es hier gäbig.» Sie mag unter anderem das feine Essen. «Heute abend gibt es Hörnli und Ghackets mit Apfelmus.» Im Dändlikerhaus kümmert sich Rosa um die Hühner im Garten. Das erinnert sie an früher. Ihren ganzen Lebtag lang hat sie gebauert, auf einem grossen Hof im benachbarten Lützelflüh. Ein gutes Stück Land gehörte dazu, ebenso Kühe, Rösser, Kälber, Sauen und eben: Hühner. Alles hätten sie «geng selber gemacht, mit dem Rosswagen in die Käserei», bis sie sich in den 60ern einen Traktor kauften. «Das Leben ist geng bös gsy, aber schön.» «Bös» sagen die Leute hier, wenn sie meinen, etwas sei streng gewesen. Heute hat sie es gemütlicher. Ihren Hof führt einer ihrer Grosssöhne weiter.

Jodeln, örgelen und predigen: Mehr Landliebe als bei Pfarrer Stephan Haldemann, 53, und Ehemann Jürg Wenger, 58, geht nicht. Stephan sagt, sein Leben in Signau im Emmental sei seine Bestimmung.
Der «Blick» war schon da, das Schweizer Fernsehen ebenso. Stephan Haldemann und Jürg Wenger sind das bekannteste Pfarrehepaar im Emmental. Die beiden haben sich beim Jodeln kennengelernt, Jürg spielt auch noch Schwyzerörgeli. Mehr Emmental geht nicht.

Seit rund 28 Jahren bewohnt Stephan das stattliche Pfarrhaus neben der Kirche, wenig später zog Jürg bei ihm ein. Der macht nun den Haushalt und hilft seinem Mann insbesondere bei der Altersarbeit. Er könne sich keine bessere Pfarrstelle vorstellen als jene hier in Signau, sagt Stephan: «Dort, wo das Chnebeli gesteckt ist, ist es gesteckt.» Ehemann Jürg ist im nahen Langnau geboren, er selber ein «Auswärtiger» aus Münsingen im Aaretal. Er glaube aber an die Vorherbestimmung: Hier und nirgends sonst sei auch seine Heimat.
Klar, anfangs habe es schon misstrauische Stimmen aus der evangelikalen Ecke gegeben, erzählt Stephan. Diese fanden, ein schwules Paar habe im Pfarrhaus nichts verloren. Trotzdem sprach sich damals die grosse Mehrheit der Signauerinnen und Signauer für ihn aus. «Der Weitblick im Emmental mag begrenzt sein. Man ist ja hier in den Chrächen. Wer sich aber bewährt, den behält man.»
Was ihm wichtig ist: Er und Jürg seien «naach by de Lüüt». So kennt er die Jungen im Dorf seit der Taufe. Viele von ihnen hat Stephan später auch konfirmiert und verheiratet. Und für manchen seiner einstigen Kritiker hat er auch schon die Abdankung gehalten. «Auf ihren Wunsch hin», wie er sagt.

Der Emmentaler ist nach aussen asketisch, tief drinnen aber ein Genussmensch, sagt Urs Mäder, 57, Wirt im Restaurant Bären in Trubschachen.
In jedem Dorf im Emmental gibt es eine Beiz mit Stammtisch. Fast immer trifft man sich im Bären. 25 von 40 Dörfern kennen einen; ohne das Beizensterben wären es wohl noch mehr. Die Trubschacher rühmen sich, den allerältesten zu haben. Erstmals wurde das hiesige Gasthaus Zum Bären 1356 urkundlich erwähnt. Heute begrüsst hier Urs Mäder Einheimische wie Auswärtige.

Urs mit Gesicht zu zeigen erübrigt sich. Zu bekannt ist er in der Gegend und zu unverkennbar seine kulinarische Handschrift mit «frisch zubereiteten» Kalbsleberli und Cordons bleus als Spezialitäten.
Der Emmentaler ist ein Genussmensch, sagt Urs. Gotthelf würde ihm zustimmen. Bei aller Askese gehörte es sich schon zu seiner Zeit, tüchtig aufzutischen. In den Romanen des Schriftstellers finden sich regelrechte Bauerstuben-Gelage mit Züpfe, Käse und «Weinwarm» – einer Suppe aus «Wein, geröstetem Brod, Eiern, Zucker, Zimmet und Safran».
Die Emmentaler Suppenspezialität ist in der Zwischenzeit vielerorts dem Cordon bleu XXL gewichen. Ein Trend, mit dem Urs nichts anfangen kann: «Übergrössen gibt es bei mir nicht.» Viel lieber wolle er «vernünftige Portionen» servieren, damit auch noch ein Coupe Meringue mit frischen Erdbeeri im Bauch Platz habe. Beim Blick auf seine Wurst-Käse-Salate kann es einem Städter-Magen trotzdem mulmig werden.


Das Schwingen und seine «Böse Buben» gehören zum Emmental wie das Hornussen und das Jodelchörli. Wer als erster Eidgenosse einen Hoselupf wagte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist aber, dass die Emmentaler für ihre Zäheit und Kraft schweizweit bekannt sind. Der Trubschacher Bären-Wirt Urs hat eine Wall of Fame in seinem Restaurant hängen, die regionale Könige und Auswärtige ehrt. Die Leistungsschau ist allerdings unvollständig. So ignoriert sie die Tatsache, dass im Dorf die wahren «Bösen» nicht männlich, sondern weiblich sind. Seit sich ab den 1980er Jahren auch Frauen offiziell im Sägemehl wälzen dürfen, ist bereits zum sechsten Mal eine Trubschacherin bei eidgenössischen Wettkämpfen als Siegerin vom Platz gegangen. Kein Dorf der Schweiz stellt mehr Schwingerköniginnen als das 1500-Einwohner-Dorf Trubschachen.

Rasenmäher-Roboter, Ranflüh.

Pool-Roboter, Fankhaus.

Rasenmäher-Roboter, Signau.
Abgeschiedener geht nicht: Die Familie Fankhauser lebt in einem 400 Jahre alten Haus in Hinter Hütten, am Fusse des Napf. Trotzdem sind sie Besuch aus aller Welt gewohnt. Regula Fankhauser, 47, sagt, dieser Fleck auf Erden sei gesegnet.
Google Maps kennt den Weg nach Hinter Hütten zum Weiler Fankhaus nicht. Wer es trotzdem bis zum Hof der Familie Fankhauser schafft, ist auch ohne Anmeldung willkommen. «An unserem Tisch hat es immer Platz», sagt Regula. Sie ist reformierte Pfarrerstochter und, anders als ihr Mann Simon, eine Zugezogene. Das Baseldeutsch verrät ihre Herkunft. Nach Kindheitsjahren in London und Basel hat sie hier, im tiefsten Emmental, ihre Heimat gefunden. «An keinem anderen Ort der Welt würde ich sein wollen. Ich liebe dieses Leben und meine Familie.»

Mit ihrem Mann führt sie einen Biohof mit Milchkühen und Hühnermast. Zur Familie gehören neben den Kindern Debora, Carina und Dominic auch Lehrlinge, Austauschschülerinnen und Menschen in Lebenskrisen. Aber auch Mennoniten oder Amische aus Übersee finden regelmässig den Weg zu Fankhausers. Oft carweise. So macht jeden Sommer eine Gruppe von Amischen aus Berne, Indiana, hier Halt. Dann sieht man Männer mit Strohhüten auf dem Feld Disteln stechen und Frauen in farbigen Röcken und weisser Haube mähen und jäten. Später sitzen alle bei einem grossen Buffet zusammen. «Viele davon sind Freunde geworden», sagt Regula.
Die Gäste sind einstige Glaubensflüchtlinge, die sich auf Spurensuche nach ihren Vorfahren, den Emmentaler Täufern, begeben. Denn um 1685 führte hier der Täufer Christen Fankhauser, ein Vorfahre von Regulas Mann Simon, den Hof. Fankhauser hatte damals unter dem Heuboden ein Versteck angelegt siehe Bild oben. Damit wollte er seinen Häschern entgehen, die in der Kirche und im Staat sassen und dagegen ankämpften, dass er und viele Emmentaler Bauern aus Glaubensgründen die Taufe ablehnten und den Waffendienst verweigerten. Zusammen mit einem ehemaligen Pfarrer hat Regula nun die Geschichte der Täufer im Emmental zusammentragen. Daraus entstand ein kleines Museum auf dem Heuboden. Also genau dort, wo Christen Fankhauser jeweils die Luke zu seinem Versteck öffnete. Die Täufer von damals seien ihr bis heute ein Vorbild, sagt Regula: «Trotz Verfolgung und Gewalt haben sie ihre Überzeugungen nie aufgegeben.»
Dann erinnert sie sich daran, wie eine Gruppe von Amischen damals, nach der Heirat von ihr und Simon, auf der Heubühne ein Gebet und den Segen für sie als Paar gesprochen haben. Regula ist sich sicher: «Das wirkt bis heute.» Dieser Ort sei gesegnet.

Vielleicht wurde das Gefühl von Heimweh zum ersten Mal von einer Emmentalerin empfunden, fernab ihrer Heimat, die so heimelig und unheimlich zugleich ist.