In ein paar Tagen beginnt in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft, umstritten wegen der Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung von Arbeitern. Hand aufs Herz: Werden Sie die Spiele verfolgen?
Marion Schwermer: Ich habe kürzlich mit Freude zur Kenntnis genommen, dass mein Mann, der Fussball mag, die Spiele nicht schauen will. Insofern nehme ich an, dass wir sehr wenig gucken werden. Ganz auf die WM zu verzichten kann ich mir jedoch nicht vorstellen. Wahrscheinlich läuft es auf ein bewusstes Ignorieren hinaus. Was passiert, wenn es bei der deutschen Mannschaft gut laufen sollte, weiss ich allerdings nicht.
Alina Schwermer: Boykottieren, nicht boykottieren – ich ärgere mich ein wenig über die Oberflächlichkeit dieser Debatte. Sie ist so wahnsinnig nationalisiert. Alle zeigen mit dem Finger auf Katar, den «bösen Staat». Dabei ist die Sachlage viel komplexer.
Wie meinen Sie das?
Alina Schwermer: Es gibt zwei Ebenen. Zum einen das spezifische Unrecht in Katar: eine brutale Autokratie, ein religiöses Patriarchat und eine skrupellose katarische Minderheit, die auf Kosten einer zugewanderten Mehrheit lebt. Das ist die eine Ebene, die sehr klar gesehen wird. Die zweite Ebene ist unsere Rolle in diesem System. Die Arbeiter gehen nach Katar, weil sie in Nepal oder Bangladesch in grösster Armut leben und in Europa nicht reingelassen werden. Am Ende «unserer» Lieferketten sehen die Arbeitsbedingungen ähnlich aus wie jene, die wir in Katar so kritisieren. Wir blenden aus, dass Nike die Trikots mit Methoden moderner Sklaverei produziert. Zudem müssen wir uns bewusst sein: Ein Teil «unseres» Wohlstands kommt aus Katar. Volkswagen, die Deutsche Bahn, die Deutsche Bank – sie alle verdienen durch oder in Katar. Katar hält zum Beispiel zehn Prozent der Anteile bei VW und sechs Prozent bei der Deutschen Bank. Der Reichtum, der den Fussball finanziert, ist nur möglich durch solche Arbeitsbedingungen.
Das wird ja schon auch thematisiert.
Alina Schwermer: Aber in der Regel nicht so umfassend, nicht als differenzierte Kapitalismuskritik. Und viele reden dann von der angeblich «guten WM», die in vier Jahren in den USA stattfinden soll: in einem Land, das die Todesstrafe anwendet und im Ausland menschenrechtswidrige Folterlager unterhält. In der Empörung steckt viel Heuchelei.
Dann bringt ein Boykott also gar nichts?
Alina Schwermer: Den Fernseher nicht einzuschalten ist ein legitimer Protest. Aber es macht keinen grossen Unterschied, dafür ist das Spiel zu global. Viel wichtiger finde ich, für strukturelle Veränderungen zu kämpfen.
Heisst das nun, dass Sie die WM verfolgen werden?
Alina Schwermer: Ja. Als Sportjournalistin werde ich mich ohnehin mit der WM befassen. Aber ich werde wohl viele Spiele verpassen, weil ich wegen meines Buchs zu unzähligen Boykott-Veranstaltungen eingeladen worden bin. Die finden natürlich genau während der Spielübertragungen statt.
«Es gab kooperative und kreative Formen, wie etwa in Südostasien, wo nicht Sieg und Niederlage zählten, sondern die künstlerische Performance.» Alina Schwermer
Was gefällt Ihnen eigentlich am Fussball?
Alina Schwermer: Ich mag das Spiel, habe es immer schon gemocht. Ein gutes Fussballspiel ist wie ein gutes Theaterstück. Es bewegt und es improvisieren viele mit. Ich mag, dass es Variationen gibt und man so viel gesellschaftlich und politisch darüber erzählen kann. Man kann fast überall auf der Welt über Fussball ins Gespräch kommen. Ich hatte lange selbst eine Saisonkarte und habe im Verein gespielt, das hat mich geprägt.
Marion Schwermer: Auch ich habe Fussball gespielt, meistens als einziges Mädchen unter vielen Jungs. Im Tor war ich nicht so schlecht. In meiner Jugend habe ich diese Leidenschaft für Fussball auch im Stadion miterlebt. Ich kann sie gut nachvollziehen.
Wieso begeistern sich so viele Leute für diesen Sport?
Marion Schwermer: Fussball ist gruppenbildend und ein Ort, wo man Zugehörigkeit entwickeln kann. Er schafft Gelegenheiten, in denen man auch einmal anders sein darf. Man trifft sich, fährt gemeinsam zum Spiel und hat im Stadion die Erlaubnis, seine Emotionen auszuleben. Als Theologin frage ich mich, wie der Fussball es schafft, diese vielen Emotionen zu wecken. Im Stadion sieht man sofort, was die Menschen bewegt, in der Kirche ist von Freude und Begeisterung oft wenig zu spüren.
Ihre Nichte hat ein Buch über Fussball geschrieben. Was hat Sie daran fasziniert?
Marion Schwermer: Dass Fussball ein Ort sein kann, an dem man alles durchdeklinieren kann: Fussball als Abbild der Gesellschaft. Und es hat mich ein Stück weit erschreckt, zu lesen, dass es trotz Unzufriedenheit offenbar sehr schwierig ist, etwas an diesem System zu verändern. Weil das Fussballgeschäft als eine Form des Kapitalismus einfach alles einkassiert und so dominant und mächtig ist, dass es verhindert, den Fussball anders zu denken.
Alina Schwermer: Genau das hat mich so geärgert und war der Hauptgrund, wieso ich das Buch geschrieben habe: weil kaum jemand ernsthaft über Alternativen nachdenkt. Obwohl das Geschäft von wenigen superreichen und konservativen alten Männer diktiert wird. Obwohl Männer im Fussball tausendfach so viel verdienen wie Frauen. Obwohl der Sport undemokratisch ist und mit seinem Ressourcenverbrauch den Planeten zerstört. Der gesamte Weltsport verursacht jährlich einen ökologischen Fussabdruck von der Grösse Dänemarks – und der Fussball hat einen grossen Anteil daran.

Aber der Fussball hat doch auch viele positive Aspekte. Es ist ein globaler Sport, der Erwachsene und Kinder zusammenbringt und integriert.
Alina Schwermer: Ja, das ist eben die Ambivalenz. Und gerade weil er so viele verbindet, ist es so wichtig, ihn besser zu machen. Man sieht bei uns kaum noch Kinder, die frei Fussball spielen. Sie werden von ihren Eltern in einen Verein geschickt, werden uniformiert, müssen abliefern und funktionieren. Es ist ein autoritäres System, ein Sport, der von Erwachsenen für Kinder organisiert wird. All das müsste die Gesellschaft viel mehr entsetzen.
Man hört ja durchaus Kritik.
Alina Schwermer: Wenn man mit den Leuten spricht, spürt man diese Unzufriedenheit schon. Aber wenn es dann um konkrete Vorschläge geht, winken die meisten ab. Da wollen alle, dass es so bleibt, wie es ist.
Ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern, mit Auf- und Abstieg?
Alina Schwermer: Das ist ein gutes Beispiel. Die Auf- und Abstiegsregel in den Ligen sorgt dafür, dass die Clubs immer mehr Geld investieren müssen, um am Ende der Saison nicht abzusteigen. Wenn man mit Fans über dieses Problem spricht und vorschlägt, die Regelung abzuschaffen, heisst es schnell: «Nein, bloss nicht ! Das macht doch Fussball aus!» Im Fussball, ganz allgemein im Sport, geht es um Sieg oder Niederlage. Honoriert wird das Dominieren, nicht der Nutzen für die Gesellschaft.
Der Fussball lehrt uns aber auch, mit Misserfolgen umzugehen.
Alina Schwermer: Das stimmt. Ein Problem haben wir aber, wenn einige Clubs zwangsläufig erfolgreich sind und eine grosse Mehrheit diesen Erfolg nie erreichen kann. Natürlich haben Sieg und Niederlage etwas Attraktives für das Publikum und die Wirtschaft. Sie wecken Emotionen. Aber das war nicht immer so. Es gab früher auch andere Formen des Fussballs.
«Den Suchprozess, der im Buch deutlich wird, würde ich mir auch für Menschen wünschen, die sich zur Zukunft der Kirche Gedanken machen.» Marion Schwermer
Wie sahen die aus?
Alina Schwermer: Es gab kooperative und kreative Formen, wie etwa in Südostasien, wo nicht Sieg und Niederlage zählten, sondern die künstlerische Performance. Auch die Tabellen, wie wir sie heute kennen, gab es vor 200 Jahren noch nicht. Damals war es undenkbar, über eine ganze Saison zu messen, wer nun der Beste ist. Das kam erst mit den Demokratiebewegungen und dem technischen Fortschritt.
Wieso hat sich im Fussball kein neues Modell durchgesetzt?
Alina Schwermer: Weil die Alternativen keine Plattform bekommen, keine Sichtbarkeit. Das ist ja auch das Problem, wenn es darum geht, die grossen Fussballverbände herauszufordern. Neue Ideen werden kaum beachtet.
«Futopia» enthält ganz viele, teils auch kuriose Ideen, wie Fussball sonst noch organisiert und gespielt werden könnte: von Fussball als Theateraufführung; von Ligen, in denen nicht die Anzahl Tore, sondern der Beitrag an die Gesellschaft belohnt wird; von Überraschungsfussball, bei dem die Regeln noch während des Spiels geändert werden. Wieso haben Sie für Ihr Buch die Form der Utopie gewählt?
Alina Schwermer: Utopie ist ein schönes Wort und zugleich ein Begriff, der wahnsinnig unterschätzt ist. Ich finde es wichtig, dass wir dem Mangel an Perspektive und Vorstellungskraft etwas entgegensetzen. Deshalb habe ich bewusst diesen grossen Begriff gewählt. Auch weil es mir nicht nur um den Fussball geht, sondern um unsere Gesellschaft, um eine grundlegende Kapitalismuskritik.
Marion Schwermer: Es ist wichtig, einen Begriff zu haben, der den ganzen Horizont aufmacht. Oft geschieht Veränderung ja nicht, indem man sie gross plant, sondern indem man erstmal den Horizont öffnet. Durch Utopien werden plötzlich Schritte möglich, die vorher gar nicht denkbar waren. Dieser Gedanke, einfach einmal Ideen zu sammeln und unter ein Dach zu bringen, hat mich inspiriert.

Auch in Ihrer Arbeit als Theologin?
Marion Schwermer: Im Glauben und in der Religion geht es oft um die Suche. Und dieser Prozess braucht Anregungen und Ideen. Den Suchprozess, der im Buch deutlich wird, würde ich mir auch für Menschen wünschen, die sich zur Zukunft der Kirche Gedanken machen: mutig, konsequent und an der Sache orientiert. Im Wissen darum, dass die Zukunft nicht vorgegeben ist, sondern neu gedacht, entdeckt und an konkreten Orten verwirklicht werden kann.
Um einen solchen Suchprozess in Gang zu bringen, wird im Buch die Gründung eines Instituts für kritische Sportforschung und Utopien vorgeschlagen.
Alina Schwermer: Genau, ich bin gerade mit weiteren Interessierten aus dem Sportbereich dabei, ein solches Institut zu gründen.
Das ging schnell.
Alina Schwermer: Im nächsten Jahr legen wir los. Das Institut heisst «Upis – Institut für Utopien, politische Bildung und Intervention im Sport». Wir möchten uns breit aufstellen und möglichst viele Kompetenzen an Bord holen. Es geht darum, bereits vorhandene Ideen und Gruppen unter ein Dach zu bringen, neue Ideen zu entwickeln, zu forschen und alternative Konzepte in den Mainstream zu tragen.
Wie stark können Sie mit einem solchen Institut Einfluss auf das System Profisport nehmen?
Alina Schwermer: Ich glaube, wir können mit dem Institut wirklich etwas verändern. Aber das sind sehr mächtige Gegner, denen wir gegenüberstehen. Es geht also erstmal gar nicht um Änderungen im System. Sondern darum, Menschen einen Weg aufzuzeigen, Alternativen sichtbar zu machen. Erst dann wollen wir Druck erzeugen für Veränderungen.
Wem trauen Sie am ehesten zu, grosse Veränderungen zu erkämpfen?
Alina Schwermer: Einem breiten gesellschaftlichen Bündnis. Nicht aus dem Fussball heraus, sondern mit Gruppen auch von ausserhalb des Fussballs. Ob sich wirklich Grundlegendes ändert, bevor der Kapitalismus unkontrolliert kollabiert? Meine Hoffnungen sind da nicht allzu gross. Aber das bestehende System ist so unsinnig. Wir haben keine andere Wahl, als es zu versuchen.
«Ich denke, dass sich der Fussball irgendwann gravierend verändern wird. Aber wahrscheinlich nicht durch eine Bewegung von unten.» Alina Schwermer
Was ist mit den eingefleischten Fans, den Ultras?
Alina Schwermer: Selbst die kritischen Ultras sind gefangen in diesem System. Sie bringen zwar immer mal wieder Kritik an, hängen aber gleichzeitig an einem Verein, der wiederum stark in die Strukturen des Verbands eingebunden ist. Kommt hinzu, dass es den Ultras an Nachwuchs fehlt.
Weshalb?
Alina Schwermer: Mit dem Fan-Sein geht man ja auch Verpflichtungen ein. Die Tickets und Reisen zu den Spielen kosten Geld und Zeit, und viele Jugendliche sind weniger dazu bereit, diese Verpflichtungen einzugehen. Es gibt genug andere Freizeitangebote. Zudem lässt bei vielen die Bindung zu einem Verein nach. Immer mehr junge Leute verfolgen lieber die grossen Clubs oder die internationalen Superstars, gucken deren Tik-Tok-Videos und nicht mehr die 90 Minuten eines Spiels. Das Konsumverhalten wird sich verändern, die Begeisterung für das Live-Erlebnis Fussball im Stadion wohl aber nicht.
Dann werden wir auch in 50 Jahren noch eine Fussball-WM schauen?
Alina Schwermer: Da bin ich mir nicht sicher. Ich denke, dass sich der Fussball irgendwann gravierend verändern wird. Aber wahrscheinlich nicht durch eine Bewegung von unten.
Sondern?
Alina Schwermer: Durch äussere Einflüsse. In 50 Jahren werden ohne echten Klimaschutz 3,5 Milliarden Menschen in einem Gebiet leben, das so heiss ist wie die Sahara. Dort lässt sich nicht mehr gut Fussball spielen.
Aber gerade die WM in Katar zeigt doch, dass das durchaus möglich ist.
Alina Schwermer: Für eine gewisse Zeit, ja. Aber wenn die Branche gezwungen ist, immer weiter zu wachsen und gleichzeitig die Kriege und Krisen immer multipler werden auf dieser Welt, dazu die Emissionsauflagen und andere Vorgaben strenger werden und Menschen weniger Geld zur Verfügung haben, investieren weniger Sponsoren. Dann schrumpft die Branche. Das ist kein Szenario, das ich mir wünsche, weil es dann erst recht nicht mehr um produktive Lösungen geht, aber ich halte es für relativ wahrscheinlich.
Das klingt pessimistisch. Kann der Einzelne diese WM zum Anlass nehmen, um dem etwas entgegenzustellen?
Alina Schwermer: Ja. Indem sie oder er ein Thema findet im Fussball, das sie oder ihn wirklich bewegt. Dann sich mit anderen zusammenschliessen, Lösungen entwickeln und darum kämpfen. Und in den Medien den Zukunftsdiskurs sichtbar machen, statt nur übers Vergangene zu reden.
Alina Schwermer: «Futopia – Ideen für eine bessere Fussballwelt». Die Werkstatt, Bielefeld 2022; 448 Seiten; 26 Franken.