Sie will tauchen. Unbedingt. Doch bei einem Kurs im Hallenbad endet sie schluchzend am Beckenrand, weil sie unter Wasser eine Panikattacke erleidet. Zehn Jahre ist das her. Bis im vergangenen Frühling hat sie die Angst vor der Wassertiefe nicht überwunden.
Dabei ist sie am See aufgewachsen. Sie war oft schwimmen; und sofern es die Temperaturen zulassen, schwimmt sie noch heute täglich. Bloss tauchen blieb unmöglich. «Ich habe mich immer gefürchtet, weil ich den Boden nicht sehen konnte. Bis ich festgestellt habe: Es sind die unsichtbaren Böden in mir, meine Abgründe, die mir Angst machen.» Es ist eine Analyse, ehrlich, offen, selbstkritisch.
Den Schmerz aushalten
Anja Niederhauser hatte eine freie Kindheit auf dem Land. «An Geburtstagspartys bin ich auf Kühen geritten», erzählt sie bei einem Treffen in Zürich, wo sie heute lebt und arbeitet. Die Eltern sind Künstler, Anja wuchs in Fruthwilen am unteren Bodensee praktisch als Einzelkind auf. Der Altersabstand zu ihren Halbgeschwistern ist gross.
Lange vor Anjas Geburt kam ein Bruder 17jährig bei einem Unfall ums Leben. Trauer war ein präsentes Thema in der Familie. «Mein Vater erzählte gern, dass mein Bruder mit seinem Freund sonntags zum Frühstück einen ganzen Zopf gegessen hat und wie er sich auf sein Auto freute, das nach seinem Führerschein schon parat gestanden hätte.» Auch die Umstände, wie der junge Mann ums Leben gekommen war, waren Gesprächsthema, und immer wieder wurden Fotos angeschaut.
Vielleicht auch deshalb beschäftigte sie sich als Jugendliche intensiv mit der Frage, woher Menschen kommen und wo hin sie nach dem Tod gehen. Sie studierte Theologie und wurde mit Mitte Zwanzig eine der jüngsten reformierten Pfarrerinnen der Schweiz. Viele Jahre war sie in verschiedenen Spitälern als Seelsorgerin engagiert, nebenbei übernahm sie immer wieder Stellvertretungen von Pfarrkolleginnen. Ausgerechnet im Frühjahr 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, machte sie sich selbständig.
Seither begleitet und berät sie in ihrer Praxis Frauen und Männer, die einen Verlust erlitten haben. Trauergespräche zu führen bedeute, die Wohlfühlzone zu verlassen. In diesen Begegnungen kämen Menschen sich am nächsten. «Es ist leichter, zu zweit in Abgründe zu schauen, weil man einen Schutzraum hat. Das er möglicht es, hinzusehen, ohne zu zerbrechen.» Oft werde durch diese Gespräche etwas angestossen, sagt sie und erzählt von einer Klientin, der es gelang, die Trauer umzuwandeln und daraus Energien zu ziehen: Sie gründete einen Verein für Menschen, die Angehörige an Corona verloren haben.
In den Gesprächen in ihrer Praxis werde oft geweint, aber immer wieder auch gelacht, sagt Niederhauser. Sie selbst ist eine lebensbejahende, fröhliche Person; Situationskomik nutzt sie, um schwere Stimmungen aufzulockern. Humor helfe, zu neuer Kraft zu finden, sagt sie.
Gleichzeitig ist sie Realistin genug, um zu erkennen, wie schmerzhaft Trauer sein kann. Bei Hinterbliebenen könne sie sich sogar körperlich äussern. Besonders in Erinnerung geblieben ist der Theologin ein Ereignis, das bald zwanzig Jahre zurückliegt. Ein Mann in ihrem Alter beging Suizid, Niederhauser leistete der Familie als Seelsorgerin Beistand. «Solche Ereignisse machen auch mich sprachlos. Es gibt wenig Passendes, das man dann sagen kann.»
Eine Zeit lang hielt sie sich Piranhas als Haustiere.
Das Bedrohliche und das Morbide faszinieren Niederhauser. Eine Zeitlang hielt sie sich Piranhas als Haustiere. «Heute ist der Tod en vogue. Ständig wird darüber geredet. Es gibt Ausstellungen, Podien, Veranstaltungen. Der Tod als Tabu? Das ist längst vorbei», sagt sie.
Als Therapeutin habe sie allerdings beobachtet, dass uns als Gesellschaft Trauernormen weggebrochen seien. Wie kondolieren wir dem Nachbarn, dessen Frau verstorben ist? Und wer klingelt bei ihm, um ihm einen Teller Suppe vorbeizubringen?
Gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen nachzugehen interessiert sie – und lenkt sie auch von eigenen Trauerprozessen ab. Was ihr hilft? Sie gibt eine pragmatische Antwort: «Je mehr ich über etwas Bescheid weiss, desto besser geht es mir damit.» Wissenschaftliche Passagen zu Sterbeprozessen oder Trauerphasen zitiert sie aus dem Effeff. Die Schwere wird sie auch durch Ablenkung los. Sie stöbert leidenschaftlich nach Büchern und hat so viele, dass sie sich auf ihrem Wohnzimmerboden stapeln. Unter «Anjas_Bibliomania» rezensiert sie einige auf Instagram, als Maximalwertung verleiht sie eine Punktzahl von zehn goldenen Eiern. Sie spielt Geige und Cembalo, sie joggt und sie schwimmt.
Pragmatisch, unkonventionell, verletzlich
Niederhauser, die noch ihren Master in Psychologie abschliesst, hat ein Gespür für den Umgang mit Menschen. «Sie fühlt sich ein in jemanden, so dass sich ihr Gegenüber gesehen und verstanden fühlt», sagt einer. Als Seelsorgerin sei sie empathisch und verfüge über ein enormes Wissen. Ihre Standpunkte vertrete sie gezielt und verdeutliche ihre Positionen ohne Eskalation, schildert eine Pfarrerin. «Sie geht ihren Weg mutig und gibt das Ruder nicht aus der Hand. Ihre kraftvolle Art inspiriert mich.»
Niederhauser arbeitet unkonventionell. Mit einer Witwe, die über gesundheitliche Probleme klagte und ihre Lethargie loswerden wollte, baute sie im Garten ein Trampolin auf. Als Spitalseelsorgerin verschenkte sie einst nicht Kerzen, sondern Gummibälle und Farbstifte, um Patientinnen an die eigene Lebensfreude zu erinnern und sie zum Spielen und Malen anzuregen. Wann immer sie Zeit findet, stellt sie Leinwand und Farbtöpfe bereit und greift selbst zum Pinsel. Die Bilder, die unter ihrem Künstlernamen Demoncoeur entstehen, präsentiert sie in Galerien.
Diesen Herbst erscheint im Zürcher Saldo-Verlag Anja Niederhausers psychologischer Ratgeber «Wendepunkte im Leben». Thematisiert werden das Altern, Beziehungs- und Jobprobleme, Krankheit und Unfall sowie Trauer und Verlust. Der Ratgeber zeigt, wie eine Krise zum Wendepunkt gemacht werden kann, so dass Menschen nach einer Krise wieder eine lebenswerte Perspektive einnehmen können.
Wo aber liegen Niederhausers Schwächen, was sind das für Abgründe, vor denen sie sich fürchtete? Darüber kann oder will sie kaum sprechen. So leicht sie sich als Coachin öffnet, so schwer fällt es Fremden, sich ihr privat zu nähern. Sobald es um ihre eigene Geschichte geht, verschliesst sie sich. Freundinnen vertraut sie sich an, rückt aber oft lieber deren Bedürfnisse ins Zentrum. Ihr Umfeld bezeichnet sie als selbstlos. Als ein Ex Freund stirbt, fährt Niederhauser über Nacht nach Frankreich, um den Eltern Trost zu spenden. Ein anderes Mal befindet sich eine Freundin in einer familiären Notlage. Wieder steigt Niederhauser spontan ins Auto, gut 1200 Kilometer sind es nach Köln und zurück. «Ich habe eben ein ausgeprägtes Helfersyndrom», sagt sie und lacht.
Vielseitig begabt, zwei Studienabschlüsse. Doch Niederhauser selbst sieht sich nicht als besonders erfolgreich.
Hochintelligent, vielseitig begabt, zwei Studienabschlüsse, zahlreiche Weiterbildungen, daneben immer auch praktische Tätigkeit. Ihre Arbeitstage sind überdurchschnittlich lang, sie arbeitet sehr viel und hat einen grossen Freundeskreis, den sie intensiv pflegt.
Doch Niederhauser sagt von sich selbst, sie sehe sich nicht als besonders erfolgreiche Frau. In ihr steckt eben auch eine Perfektionistin, die an sich selbst die höchsten Ansprüche stellt. Das ist eine Hypothek. Aus Lust, Neugierde und Schaffens drang geht sie auch mal an die Grenzen der Belastbarkeit. «Sie geniesst es, wenn viel läuft. Aber manchmal leidet sie auch darunter», sagt ein Kollege.

«Teilweise bin ich über meine Grenzen hinausgegangen.»
Wenn ihr Kopf nicht ruhen will, stoppt sie ihr Körper. «Ich beobachte mit Sorge, wie verletzlich und zerbrechlich sie Erkrankungen oder private Schwierigkeiten werden lassen», meint eine Freundin. Im Sommer fiel sie während einer Ausbildung in Ohnmacht und musste sich im Spital behandeln lassen. Ihre erste Ehe ist geschieden. Ihr Wunsch, Kinder zu bekommen, blieb unerfüllt. Als sie zögerlich von privaten Schicksalsschlägen erzählt, fehlen der sonst so redegewandten Frau die Worte. Sie analysiert lieber andere statt sich selbst. «Teilweise bin ich über meine Grenzen hinausgegangen. Weniger Projekte nebeneinander laufen zu lassen ist eine Kunstform, die ich längerfristig anstrebe», sagt Niederhauser.
Die eigenen Abgründe kennt nur sie. Im Frühjahr habe sie es gewagt, hinzuschauen und diese zu erkunden. «Das war spannend», sagt sie und ist wieder ganz die kraftvolle, selbstbestimmte Persönlichkeit. Stück für Stück hat sie sich gelöst von ihren Ängsten. «Ich fühle mich frei.» Der Blick durch ihre neue Schwimmbrille ist ungetrübt. Im Wasser begegnete sie jungen Egli, sie beobachtete eine Äsche und Sonnenbarsche. Sie traut sich, zu tauchen.