Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Bilder: Annick Ramp
Freitag, 11. September 2020

Heinz Leuenberger kann nicht durch Thun gehen, ohne dass Leute ihn anhalten und über frühere Zeiten plaudern wollen. Viele hat er als Pfarrer konfirmiert, getraut oder als Seelsorger begleitet. Andere hat er verärgert, weil er als Gemeinderat Stellen für ausgesteuerte Arbeitslose schuf. 32 Jahre war Leuenberger Pfarrer in der Thuner Kirche Scherzligen, 28 Jahre in der Lokalpolitik aktiv, mehr als die Hälfte davon als Sicherheitsdirektor. Der Theologe und Sozialdemokrat war so etwas wie ein Exot in der behäbigen Stadt im Berner Oberland, oft umstritten, aber für seine Unermüdlichkeit am Ende doch respektiert.

Leuenberger wurde vor elf Jahren pensioniert, trotzdem sitzt er fast täglich um neun Uhr in seinem Büro. Er sagt von sich, dass er nicht anders kann, als Dinge anzupacken. Seit vier Monaten gibt es aber immer wieder Momente, in denen sein Arbeitsplatz leer bleibt. Dann sitzt er einfach in seinem Wohnzimmer, einem offenen Raum mit grossen Fenstern und ausgewählter Kunst an den Wänden, und betrachtet das kleine Bild über dem Sofa.

Die gelben, grünen und blauen Punkte und Striche darauf erzeugen ein flirrendes Leuchten. Gemalt hat es sein Adoptivsohn Alban während eines Gefängnisaufenthaltes. Am 7. Mai 2020 versagte Albans Leber nach Jahren der Alkohol- und Drogensucht. Er starb nur fünf Jahre nach seiner Adoptivschwester Jennie, die 2015 einen Herzstillstand erlitt. 40 und 33 Jahre wurden die beiden alt.

Vielleicht ist da auch noch etwas anderes, was Heinz Leuenberger antreibt: ein tiefes Bedürfnis, auch das Unmögliche zu schaffen. Etwa, seine Kinder zu retten.

Dass Jennie einfach sterben könnte, damit habe niemand gerechnet, sagt Heinz Leuenberger. Dagegen sei der Tod seines Sohnes angekündigt gewesen. Alban habe um die Fatalität seines Wegs gewusst – und sei ihn trotzdem gegangen. Er habe nie von den Drogen weggewollt. «Auch wenn ich diesen Weg nicht verstehe: Alban hatte ein Leben, das für ihn stimmte.»

Die Worte klingen versöhnlich, seltsam aufgeräumt schon fast. An den Tagen, an denen Heinz Leuenberger in seinem Wohnzimmer auf Albans Gemälde schaut, überkommen ihn dennoch Schmerz und Zweifel. Dann ertappt er sich bei der Frage, ob er genug für seine Kinder getan hat, ob es nicht etwas gegeben hätte, wovon er ihnen mehr hätte bieten sollen. «Ich muss das nun einfach aushalten», sagt er. Etwas, das ihm, der es gewohnt ist, für alle Probleme eine Lösung zu haben, schwerfällt.

Heinz Leuenberger nimmt sein Mobiltelefon hervor, betrachtet die Fotografie eines Jungen mit hellbraunem Haar und eines Mädchens mit roten Backen, beide lächeln schüchtern in die Kamera. Er erinnert sich, wie Alban als Kindergärtner auf dem Nachhauseweg eine Schnecke von der Strasse auflas, um sie vor den Autos zu retten, und darüber das Heimkommen vergass. Wie Jennie als kleines Mädchen stundenlang bastelte. Später, und schon erwachsen, legte sie Verwandten zu Weihnachten Geschenke in den Milchkasten.

Ein Feuerplatz im Garten

Die Zeit mit Alban und Jennie begann Anfang der 1980er Jahre. Heinz Leuenberger war Mitte dreissig, bereits Pfarrer an der Kirche Scherzligen und im Thuner Stadtrat, frisch verheiratet, seine Frau Marianne arbeitete als Lehrerin. In der Kirchgemeinde baute er einen Jugendtreff auf, und als Politiker debattierte er über genossenschaftlichen Wohnungsbau. Wie seine Frau sehnte auch er sich nach einem Leben als Familie. Alban war dreieinhalb, als er zu ihnen kam. «Ein herziger Junge, er hing von Beginn weg sehr an uns.» Sprechen konnte er in dem Alter allerdings noch nicht. Von den Behörden wussten sie, dass er ein schweres Trauma mitbrachte. «Wir sagten uns: Umso mehr verdient Alban Geborgenheit und Liebe.»

Alban wurde als uneheliches Kind geboren. In seinen ersten Lebensjahren band ihn seine leibliche Mutter stundenlang ans Bett, während sie ausser Haus arbeiten war, manchmal den ganzen Tag. Ohne Nahrung und ohne Zuwendung. Ein Kinderpsychiater, den Heinz Leuenberger und seine Frau wegen Albans verzögerter Entwicklung aufsuchten, sagte zu ihnen: «Die Frage ist nicht, ob Alban seine Kleinkindzeit überlebt, sondern wie Sie als Eltern das Leben mit ihm überstehen werden.» Sie schlugen die Bedenken in den Wind. Viel lieber wollten sie daran glauben, die verlorenen Jahre mit ihrer Zuneigung wettmachen zu können. Ein halbes Jahr nach Alban nahmen sie Jennie zu sich. Auch sie ein uneheliches Kind, auch ihre Mutter hatte nicht zu ihr schauen können.

Marianne Leuenberger gab ihre Arbeit auf, kochte, sang mit den Kleinen, las Büchlein vor. Heinz Leuenberger predigte, unterrichtete, hörte Verzweifelten zu, politisierte und erzählte den Kindern abends, wenn er mal keine Sitzung hatte, Gute-nachtgeschichten. Jennie war ein ruhiges Kind, viel im eigenen Zimmer, fast immer in ihrer eigenen Welt. Alban fand seine Sprache. Doch es zeichnete sich ab, dass die Mutter ihn nie aus den Augen lassen durfte. Mit fünf begann er im ganzen Haus zu zeuseln. Also baute die Mutter mit ihm eigens einen Feuerplatz im Garten vor der Küche, wo er mit den Flammen spielen konnte.

Doch Alban brauchte mehr. Bald schon zündete er die Voliere beim Gymnasium an, mit zwölf dann die Garderobe der städtischen Kunsteisbahn. Damals war Heinz Leuenberger schon Sicherheitsdirektor der Stadt. Das Jugendstrafgericht schickte den Sohn ins Knabenheim «Auf der Grube». Ein fatales Jahr, wie Heinz Leuenberger heute sagt. In der Einrichtung, die später wegen gewalttätiger Erziehungsmethoden in die Schlagzeilen geraten sollte, lernte der Sohn Strafen kennen – und die Drogen. Sie traten an die Stelle des Feuers. Auch von ihnen wollte er schon bald mehr und mehr. «Etwas in Alban brannte. Egal wie viel Liebe wir ihm gaben – es verpuffte, konnte nie genug sein», sagt Heinz Leuenberger.

Und Jennie? Sie fiel insgesamt weniger auf, war ein ganz anderer Mensch als Alban, dieser Glühkörper, der alle Energie auf sich zog. Die Tochter war sensibel, still, «hatte einen unsichtbaren Zaun um sich gebaut». Sie blieb distanziert, zu ihm, zu seiner Frau, und selbst Freunde würden später sagen, dass Jennie wenig von sich preisgab. In der Schule war sie Aussenseiterin.

«Mag sein, dass sie auch unter mir, dem Pfarrer und Politiker Leuenberger, litt.» Manche Kameraden hätten sie wohl des­wegen gehänselt. Jennie fand seinen Pfarrberuf exotisch und konnte mit der Kirche und dem Glauben wenig anfangen. Umso mehr freute er sich, im Weihnachtsgottesdienst seine Tochter in den hinteren Kirchenbänken zu entdecken. Sie liebte die vielen Kerzen, den Tannenbaum mit den roten Äpfeln.

Heinz Leuenberger

Ein Gedicht anstelle des Lebenslaufs

Mit der Pubertät begannen die Wutausbrüche und die Rebellion. Manchmal verschwand Jennie tageweise. Die Eltern wussten ihr nicht zu helfen, und auch die Psychiater waren ratlos. «Sie hatte viele Unsicherheiten, viele Fragen.» Woher sie kam, wer ihre leibliche Mutter war. Mit achtzehn Jahren bat Jennie ihren Vater, in ihrem Namen einen Brief an die Behörden aufzusetzen.

Als er das Schreiben auf die Post bringen wollte, hielt sie ihn zurück. «Wohl verliess sie der Mut, siegte in ihr die Angst vor der Konfrontation mit der unbekannten Frau.» Sie machte eine Lehre als Polygrafin, hatte Mühe, eine Stelle zu finden, fand aber einen Freund, hatte zwei Katzen und eine Wohnung in der Nähe von Bern, wo sie auf dem Balkon Tomaten zog. Nach einem Camping-Wochenende im Tessin blieb ihr Herz stehen.

Heinz Leuenberger sucht auf seinem Telefon Bilder von Jennie. Auf einer Schwarzweissaufnahme trägt sie eine Mütze aus Plüsch und blickt seitlich in die Kamera. Eine hübsche Frau Anfang zwanzig mit denselben scheuen Augen wie auf dem Kinderfoto.

Nach Jennies Tod sassen Heinz Leuenberger, seine Frau und Jennies Freund hier in dem Wohnzimmer und diskutierten, wie ihr Abschied aussehen sollte. Allen war klar, dass es keine kirchliche Trauerfeier geben würde. «Das hätte nicht zu ihr gepasst.» Jennie liebte das Wasser und das Schwimmen. Ihre Asche streuten sie in die Aare; anstelle eines Lebenslaufs las Heinz Leuenberger ein Gedicht, das er für sie geschrieben hatte.

«Das Leben genossen, das Leben erlitten.
Immer wieder gesorgt, viele Tränen geweint.
Und dazwischen auch das Glück gespürt.
Den Weg trotz und mit allen Hindernissen gerngehabt.»

Es war ein Wagnis, die Kinder zu sich zu nehmen. Dass Heinz Leuenberger es einging, dass er auch diese Aufgabe schaffen wollte, hat mit seiner eigenen Kindheit zu tun – und der Theologie, die jene in ihm formte.

Heinz Leuenberger wuchs als Sohn eines Metzgers und einer Verkäuferin in Thun auf. Der Pfarrberuf war ihm nicht in die Wiege gelegt. Dafür aber ein ausgesprochener Sinn für Gerechtigkeit und der Drang, viel vom Leben zu erwarten – und viel von sich selbst zu verlangen. Sein Vater stammte aus ärmlichen Verhältnissen, wurde früh Halbwaise; eine höhere Bildung war ihm trotz guten Schulnoten nicht möglich.

Als er die Mutter heiratete, verwehrte sein Schwiegervater dem einfachen Arbeiter Zutritt zu seinem Haus. «Die Erfahrung, aufgrund seiner Herkunft nicht genug zu sein, hat meinen Vater zum Kämpfer gemacht», sagt Heinz Leuenberger. Jener trat der SP bei, wurde Gewerkschafter, kämpfte für die AHV und die 48-Stunden-Woche. Mit 29 wurde er schliesslich in den Stadtrat gewählt – und verschaffte sich Respekt. Auch beim Schwiegervater. Das prägte sich dem jungen Heinz ein: dass auch das scheinbar Unmögliche machbar ist.

Er war ein sensibler Junge und ein begabter Schüler, schaffte es ins Gymnasium, belegte Griechisch, Hebräisch und Latein. «Schon in der vierten Klasse wusste ich, dass ich Pfarrer werden will», sagt er. Ein Wunsch, der nicht auf der Hand lag. Als Sozia­list hatte der Vater nicht viel mit der Kirche am Hut. Doch dem Sohn zuliebe besuchte er ab und zu den Sonntagsgottesdienst in der Stadtkirche; er wusste, wie gern der kleine Heinz den damaligen Pfarrer über Gleichheit und Gerechtigkeit predigen hörte.

Mit 19 begann Heinz Leuenberger sein Theologiestudium in Bern, mit 21 wechselte er an die Universität Bonn und begegnete dort dem Theologen, der seinem zu allem bereiten Selbst entsprach: Jürgen Moltmann. Als Austauschstudent sass er mit tausend anderen Kommilitonen im Auditorium maximum und hörte den grossen Nachkriegstheologen über den Vorschein des Reiches Gottes auf Erden sprechen. «Er brauchte kein Skript, er verkörperte die Theologie», sprach über die Hoffnung, die ein leeres Wort bleibt, wenn man sie nicht mit jeder Faser lebt. Es war das Jahr 1966, die Studenten wollten die Revolution, wollten alles Patriarchale und Rechthaberische der Kirche stürzen. Ihr Ziel: eine Kirche für alle, eine Gesellschaft für alle.

Heinz Leuenberger war angetreten, genau dies zu tun. «Für mich taugt eine Theologie, die nicht von der Hoffnung getragen ist, die Welt besser zu machen, zu nichts», sagt Heinz Leuenberger auch heute noch.

Spritztouren im VW-Porsche

Er kehrte in die Schweiz zurück, schloss sein Studium ab, wurde mit nur 24 Jahren Pfarrer. Im Grimselgebiet übernahm er die Gemeinden Innertkirchen und Guttannen und kämpfte in den entlegenen Dörfern fernab der 68er Revolution dafür, dass Frauen und Männer nicht mehr getrennt in den Kirchenbänken sitzen mussten. Gleichzeitig wurde Leuenberger Seelsorger in der psychiatrischen Klinik Meiringen.

Albans Bild, ein Geschenk an seine Eltern.

Dass er Autos liebte und mit den Konfirmanden Spritz­touren in seinem VW-Porsche machte, sahen die Bergler dem Jungpfarrer nach. Ein Zuviel kannte Leuenberger nicht. Marianne, seine Frau, schon. Er hatte die junge Lehrerin beim Volleyball kennengelernt. Sie verliebten sich, heirateten bald, Marianne zog ins Pfarrhaus. Kurz darauf verliess sie es wieder. Denn der begeisterte, liebenswürdige Heinz entpuppte sich auch als der Ruhelose, der einen Feierabend kaum kannte: «Sie sagte zu mir: Du bist nie zuhause.» Acht Jahre später heiratete Marianne Heinz ein zweites Mal. Die Liebe zum Mann mit den vielen Ideen hatte gesiegt.

Gott ist eine Chiffre

Sie war es auch, die ihn unterstützte, als Heinz Leuenberger das Pfarramt in Thun übernahm. Nicht alle in der Gemeinde mochten den Theologen mit dem unermüdlichen Willen, das Reich Gottes ins Gemeindeleben zu bringen. Er wurde in einer Kampfwahl gewählt. Später versuchten manche, ihn zu brechen. Man gab ihm doppelt so viele Konfirmandenklassen wie dem Vorgänger. Heinz Leuenberger stand es durch – und verdiente sich so Respekt. Kurz darauf wurde er ins Stadtparlament gewählt, mit Mitte 40 schliesslich in die Thuner Regierung. Auch hier eckte er öfters an: Die Bürgerlichen beklagten sich über den Politiker, der die Randständigen auf dem zentralen Mühleplatz viel zu lange gewähren liess.

Der Chefredaktor des «Thuner Tagblatts» monierte, dass die Rolle des Polizeidirektors mit der des «Gutmenschenpfarrers» unvereinbar sei. Und als Leuenberger flächendeckend Parkgebühren in der Stadt einführte, schrieb ihm selbst der eigene Kirchenchor einen Protestbrief: «Wo sollen wir nun unser Auto hinstellen, wenn wir für die Proben in die Kirche kommen?» Heinz Leuenberger blieb bei seiner Politik. Er wurde viermal wiedergewählt.

Im Grunde sei vieles, was er tue, Teil seiner Theologie. «Für mich ist Gott eine Chiffre für Wärme, Liebe und Geborgenheit, das, was mehr ist als alles.» Aber vielleicht ist da auch noch etwas anderes, was Heinz Leuenberger antreibt: ein tiefes Bedürfnis, auch das Unmögliche zu schaffen. Etwa, seine Kinder zu retten.

Er habe nie aufgegeben, an Beziehungen zu glauben, sagt er. Auch als es mit seinem Sohn immer schwieriger wurde. Mit 16 machte Alban eine Lehre als Topfpflanzengärtner, schaffte den Abschluss nicht, mit 20 zog er Richtung Zürich. Es folgten die Langstrasse, Heroin, Kokain, Amphetamine, Alkohol. Diebstähle, Einbrüche, Drogenhandel, Gefängnis, Pfarrer Siebers Sune-Egge, Psychiatrie, Spital.

Heinz Leuenberger

Als Alban dann mit der kaputten Leber im Sterben lag, rief er Heinz Leuenberger achtmal am Tag an. «Vati, du warst doch Polizeidirektor! Sag den Ärzten, sie sollen mir eine neue Leber geben.» Da habe er seinem Sohn sagen müssen: «Alban, das kann ich doch nicht.»

Heinz Leuenberger sucht in seinem Telefon nach einem Foto von Alban. Er hat es auf dessen Wunsch während eines Psychiatrieaufenthaltes gemacht. Das Bild zeigt seinen Sohn mit nach hinten gegeltem Haar und mit einer dunklen Sonnenbrille. Ein von der Strasse gezeichneter, aber gutaussehender Mann. Auch in seinen schlimmsten Zeiten habe sein Sohn nie seinen Schalk verloren.

Heinz Leuenberger erzählt von einem Treffen mit ihm in der Strafanstalt Pöschwies, wo dieser fast drei Jahre wegen Heroinhandels sass. Beim Besuch sagte Alban zu ihm: «Vati, du mühst dich als Pfarrer und Politiker ab für deine Kohle, ich habe auf der Strasse locker das Vielfache verdient.» Der Junkie-Dealer und der Pfarrer und Polizeidirektor, die sich doch trafen im Humor – und in ihrer jeweiligen Art, zu brennen, ein Genug nicht zu kennen.

Die guten Tage und die schlechten Tage

Als Alban dann mit der kaputten Leber im Sterben lag, rief er den Vater achtmal am Tag an. «Vati, du warst doch Polizeidirektor! Sag den Ärzten, sie sollen mir eine neue Leber geben.» Da habe er seinem Sohn sagen müssen: «Alban, das kann ich doch nicht.» Oft habe Alban ihn, den Polizeidirektor, überschätzt. Habe geglaubt, der Vater könne alles. Leuenberger schweigt. Dann sagt er: «Ob mich die Politik und die Arbeit im Pfarramt manchmal nicht zu sehr vom Vatersein abhielten? Gab es einen entscheidenden Punkt, wo ich mehr hätte für Alban und Jennie da sein müssen?»

Heinz Leuenberger kennt die Tage, an denen seine Kräfte wie ein Kartenhaus zusammenfallen. An diesen Tagen hadert er mit sich. Und mit Gott, mit seinem Versprechen, dass Liebe alles trägt. Dann klagt er sich und Gott zusammen an: «Wo warst du, als die Kinder dich brauchten?» An Hoffnung zu glauben und von Gnade zu predigen fällt ihm dann schwer. Dennoch ertappt er sich gerade in solchen Momenten dabei, wie er sich an den Aufgaben festklammert, die ihm bleiben, an solchen, die er lösen kann: Predigten halten, als Kirchgemeinderatspräsident Sitzungen leiten, anderen Menschen zuhören, Konzepte entwickeln.

An anderen Tagen aber wacht er auf, und da ist Ruhe. In solchen Momenten nimmt er sein Handy hervor und betrachtet die Bilder seiner Kinder. Dann gelingt es ihm, dankbar zu sein für die kurzen Leben, die möglich waren. Und zu sehen, dass er das Entscheidende tat: seine Kinder zu lieben, welchen Weg sie auch immer gingen. An solchen Tagen begreift er, dass niemand alles kann und niemand alles muss, siegt in ihm die Gewissheit, dass Alban kein verlorener Sohn war und Jennie keine verlorene Tochter. Dann kann er einfach traurig sein und seine Kinder vermissen.

Auch Albans Abschiedsfeier fand ausserhalb der Kirche statt. Nur seine Frau und er waren zugegen, als sie die Urne ihres Sohnes im Gemeinschaftsgrab auf dem Thuner Stadtfriedhof beisetzten. Wieder las Heinz Leuenberger ein Gedicht.

«Im Sune-Egge und im Gefängnis Realta berührende Bilder
in Grün-Blau-Gelb gemalt, dem Leben Farbe gegeben.
Mit Schlitzohrigkeit Autoritäten das Leben schwergemacht.
Mutter und Vater gern gehabt.

Ein Leben voller Farben und ewig – in allem und trotz allem.»

Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.
Der Fotografin Annick Ramp lebt in Zürich.