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Autorin: Lotta Suter
Mittwoch, 20. April 2022

Die Umrisse einer schwangeren Frau. Der Embryo in ihrem Bauch eine Marionette, an deren Drähten mehrere Puppenspieler gleichzeitig ziehen: ein Doktor, ein Pfarrer, ein Jurist, ein Polizist, ein Politiker, ein Ehemann. Diese Illustration zum Thema Schwangerschaftsabbruch habe ich als junge Redaktorin vor einem halben Jahrhundert in unsere Studentenzeitung gesetzt. «Kinder oder keine, entscheiden wir alleine» skandierten wir Feministinnen damals und kamen uns dabei sehr radikal vor. Eigentlich bekräftigten wir damit bloss eine jahrtausendealte Einsicht: Frauen aller Zeiten und aller Kulturen haben ihre Fruchtbarkeit zu steuern versucht und selber entschieden, ob es ihre Gesundheit und ihre soziale Situation erlaubt, ein (weiteres) Kind zur Welt zu bringen. Die Geschichte der Menschheit beweist: Abtreibungen kann man nicht verhindern, bloss kriminalisieren und gefährlicher machen.

Heute stelle ich, mittlerweile mehrfache Grossmutter, fest: Der Stil der Zeichnung von der Schwangeren mit der Embryopuppe im Bauch ist so veraltet wie der Hippie-Look der 1970er Jahre. Doch die Aussage bleibt aktuell: Die reproduktive Selbstbestimmung der Frau ist immer noch oder schon wieder bedroht. Denn es fehlt nicht an alten und neuen Drahtziehern, die das Leben von anderen Menschen selbstherrlich ihrem eigenen Willen unterwerfen wollen.

In der Schweiz zum Beispiel hat die grosse Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor zwanzig Jahren beschlossen, die schwierige und sehr persönliche Entscheidung für oder gegen ein Kind durch die Fristenlösung klar zu regeln. Das Ja zur entsprechenden Vorlage war sehr deutlich, 70 Prozent stimmten dieser im Juni 2002 zu. Das Recht auf straffreien Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen führte in der Folge nicht zu einer Zunahme von Abtreibungen, sondern zu einem Einpendeln auf international beneidenswert tiefem Niveau – etwa sieben Abtreibungen kommen auf eintausend Frauen im gebärfähigen Alter.

Der Grossteil der Bevölkerung kann dies akzeptieren, denn das Leben ist nie perfekt. Eine kleine, aber lautstarke konservativ-christliche Minderheit will sich aber mit der gegenwärtigen Situation nicht abfinden. Eine Gruppe von SVP-Nationalrätinnen lancierte gleich zwei Volksinitiativen gegen die geltende Fristenregelung, mit der Absicht, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche weiter zu senken. Der eine Vorstoss will eine obligatorische Bedenkfrist für ungewollt Schwangere einführen. Die andere Vorlage fordert ein Verbot der Spätabtreibungen. Diese sogenannte Lebensfähige-Babys-retten-Initiative ist ein publikumswirksames Schlagwort für ein kaum existierendes Problem.

Das Ende der reproduktiven Selbstbestimmung ist in Reichweite gerückt. Frauen sollen wieder bevormundet werden.

Bloss fünf Prozent aller Schwangerschaften in der Schweiz werden heute nach der zwölften Woche abgebrochen, noch viel weniger sind es nach der 22. Woche, wenn ein Fötus allenfalls mit intensivmedizinischer Unterstützung am Leben erhalten werden kann. Für beide Initiativen werden bis zum Sommer 2023 Unterschriften gesammelt.

In meiner Wahlheimat USA ist die «Ja zum Leben»-Bewegung, die hier «Pro Life» heisst, bereits einen Schritt weiter. Im Gegensatz zur Schweiz sind die fundamentalistischen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner hierzulande politisch sehr gut vernetzt. Sogar der Supreme Court, das oberste Gericht des Landes, ist mittlerweile eindeutig rechtskonservativ. Genau dieses Gremium wird im nächsten Sommer entscheiden, ob «Roe vs. Wade», ein Bundesgerichtsurteil von 1973, das US-amerikanischen Frauen das Recht auf straffreien Schwangerschaftsabbruch garantiert, bestehen bleibt oder nicht.

Die Entscheidung über Abbruch oder Fortsetzung einer Schwangerschaft gehöre in die von der Verfassung geschützte Privatsphäre der schwangeren Frau, beschied das oberste Gericht damals im Alleingang. Heute kann dieselbe Instanz dieses Urteil im Alleingang umstossen. In den USA gibt es keinen nationalen Parlamentsentscheid und keine Volksabstimmung zum Thema Abtreibung. Erfolglos wurden auf Bundesebene immer wieder politische Vorstösse zur Sicherung der Reproduktionsfreiheit unternommen. Der letzte entsprechende Versuch scheiterte Ende Februar im US-Senat. Es sei angesichts des Krieges in der Ukraine frivol, über das Recht auf Abtreibung zu diskutieren, argumentierten die republikanischen Senatoren. Als ob Frauenrechte ein Schönwetterthema wären, über das man bloss dann spricht, wenn man nichts Gescheiteres zu tun hat.

Fällt «Roe vs. Wade», können die fünfzig Bundesstaaten der USA in Zukunft in Eigenregie entscheiden, wie sie den Schwangerschaftsabbruch regeln bzw. beschränken oder möglichst ganz verbieten wollen. Seit Jahrzehnten hat die rechtskonservative Pro-Life-Bewegung der USA auf diesen Moment nicht bloss gewartet: Sie hat ihn sorgfältig geplant und zielstrebig herbeigeführt. Nicht zuletzt indem sie dem Präsidentschaftskandidaten Donald Trump ihre Stimme gaben, weil er ihnen im Gegenzug versprach, das oberste Gericht mit Pro-Life-Richterinnen und Richtern zu besetzen.

Nun ist das Ende der reproduktiven Selbstbestimmung in Reichweite gerückt. Die ungewollt schwangeren Frauen sollen wieder bevormundet werden: von Doktoren, Pfarrern, Juristen, Polizisten, Politikern und dem Ehemann.

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Im Nordosten der USA, im Bundesstaat New Hampshire zum Beispiel, wird bereits eine Gesetzesvorlage diskutiert, die es jedem beliebigen Mann erlauben würde, die Abtreibung einer Frau zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Er müsste bloss behaupten, er sei der Erzeuger des Embryos, und schon gäbe es ein temporäres Abtreibungsverbot, bis die Vaterschaft mittels DNA-Analyse geklärt ist.

Solche Verzögerungen sind für die ungewollt Schwangeren besonders dramatisch, weil gleichzeitig die zulässigen Abtreibungsfristen immer kürzer werden. Ein zweiter parlamentarischer Vorstoss will die Schutzzonen aufheben, die in New Hampshire wie in vielen anderen US-Bundesstaaten um die Abtreibungskliniken herum errichtet worden sind. Diese «buffer zones» sind nötig, weil radikale «Ja zum Leben»-Leute abtreibungswillige Frauen als Mörderinnen beschimpfen und immer wieder auch tätlich angreifen.

Texas und mindestens ein Dutzend weitere Bundesstaaten, vorab im Mittleren Westen, streben eine «Heartbeat»- Regelung an. Abtreibungen sollen illegal sein, sobald bei der Ultraschalluntersuchung ein «Herzschlag» zu hören ist (also nach etwa sechs Wochen). Niemand im Pro-Life-Lager erwähnt, dass dieser «Herzschlag» von der untersuchenden Maschine selbst produziert wird. Die Maschine macht das, was die Mediziner «kardiale Aktivität» nennen, für menschliche Ohren erst hörbar. Ein Herz, so wie wir uns das vorstellen, hat der bloss vier Millimeter grosse sechswöchige Embryo noch gar nicht ausgebildet. Doch das angeblich «wissenschaftliche» Herzschlag-Argument erfüllt einen politischen Zweck: Der winzige und noch monatelang nicht lebensfähige Embryo im Bauch wird zur eigenständigen Person gemacht, um seine Rechte gegen die der Frau, die ihn beherbergt, auszuspielen.

Florence Rice, geboren 1919, wuchs als Pflegekind in New York City auf. Sie sah ihre Mutter bloss selten. Als sie in den 1930er Jahren als junge ledige Frau schwanger wurde, beschloss sie, das Kind zu behalten. Einige Jahre später wurde die alleinerziehende berufstätige Mutter nochmals schwanger. Sie wollte nicht so werden wie ihre eigene Mutter, die nicht selbst für ihre Kinder sorgen konnte und sie deshalb weggeben musste. Sie entschloss sich zu einer Abtreibung. Das war ein illegaler und unsauberer Eingriff, der zu einer lebensgefährlichen Infektion führte. Als die US-Feministinnen Ende der 1960er Jahre anfingen, über das Thema Schwangerschaftsabbruch zu reden, sprach Florence Rice als eine der ersten über ihre Erfahrung. Ihre Geschichte zeigte unter anderem: Reiche Frauen hatten schon immer Zugang zu sicheren Abtreibungen; ärmere Frauen riskierten ihr Leben dafür.*

Der Bundesstaat Missouri verfügt bei einer Bevölkerung von über sechs Millionen bloss über eine einzige Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Nun wollen missourische Gesetzgeber den Schwangeren auch noch verbieten, die Abtreibung in einem anderen Bundesstaat vorzunehmen. Ebenfalls zur Diskussion steht ein Gesetz, das ausdrücklich den Abbruch von Eileiterschwangerschaften untersagt. Etwa eine von fünfzig Schwangerschaften in den USA ist ektopisch. Das heisst, der Embryo entwickelt sich ausserhalb der Gebärmutter und ist nicht lebensfähig.

Werden ektopische Embryos nicht rechtzeitig entfernt, kann das für die Frau sehr gefährlich sein. Etwa zehn Prozent aller Todesfälle von Schwangeren in den USA sind auf eine zu spät entdeckte Eileiter- oder Bauchhöhlenschwangerschaft zurückzuführen. Offenbar sind gewisse fundamentalistische Politiker in Missouri, allesamt medizinische Laien, bereit, für ihre «Ja zum Leben»-Ideologie reale Frauenleben zu opfern.

In Michigan schliesslich will ein Mann Gouverneur werden, der Abtreibungen nicht einmal im Fall von Vergewaltigung oder Inzest zulassen will. «Wir müssen immer die fetale DNA schützen und ihr eine Stimme geben», sagt Garrett Soldano, ein gemäss Wahlbroschüre «stolzer Katholik». Und was ist mit den vergewaltigten und ungewollt schwangeren Frauen? Der republikanische Kandidat für das höchste Amt im Bundesstaat ist überzeugt: «Gott hat sie in diese Situation gestellt.»

Die Abtreibungsgegnerinnen und -gegner in den USA präsentieren sich selbst oft und gerne als Gotteskrieger. Ist es tatsächlich die tiefverwurzelte Religiosität vieler Amerikanerinnen und Amerikaner, die die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch in den USA so viel heftiger, dogmatischer und frauenfeindlicher macht als in den meisten europäischen Ländern, auch in der vergleichsweise säkularen Schweiz? Bestimmt Religion die Reproduktionsentscheide der US-amerikanischen Frauen?

Ja und nein.

Nein, denn trotz der vielbeschworenen Religiosität ist die Einstellung der US-Bevölkerung zum Schwangerschaftsabbruch seit dem «Roe vs. Wade»-Entscheid von 1973 erstaunlich tolerant und vorurteilsfrei geblieben. Eine aktuelle Umfrage des unabhängigen US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zeigt, dass diese verständnisvolle Einstellung auch von denjenigen achtzig Prozent der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner geteilt wird, die sich selbst als religiös bezeichnen. Weisse Protestanten (mit Ausnahme der Evangelikalen), schwarze Protestanten, Katholiken und jüdische Gemeinschaften sind alle mehrheitlich dafür, dass der Schwangerschaftsabbruch legal bleibt. Die wenigsten möchten Abtreibung ganz verbieten. Der Bildungsgrad beeinflusst die Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch im übrigen stärker als die Religionszugehörigkeit.

Mehr noch als die Strafe Gottes fürchten viele Frauen das strenge Urteil ihrer Familie, ihrer Kirchgemeinde und ihres sozialen Umfeldes.

Leute mit geringer formaler Bildung sind wie bei anderen sozialen Themen auch in dieser Frage konservativer als die restliche Bevölkerung. Frauen verteidigen das Recht auf Abtreibung entschiedener als Männer. Junge US-Amerikanerinnen und -Amerikaner befürworten die reproduktive Selbstbestimmung häufiger als die über fünfzigjährigen.

Nein lautet die Antwort auch deshalb, weil die Religiosität nicht nur bei der theoretischen Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch, sondern auch bei den praktischen Reproduktionsentscheiden eine untergeordnete Rolle spielt. In den USA verhüten Frauen aller Konfessionen mit sämtlichen verfügbaren Methoden. Nur ein Prozent verlässt sich auf die sogenannte natürliche Familienplanung. Die meisten Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, sind Mitglied einer Glaubensgemeinschaft. Selbst evangelikale Frauen, deren Religion sich ganz mit der Pro-Life-Bewegung identifiziert, treiben selber ab, wenn auch etwas weniger häufig als etwa konfessionslose Schwangere.

Insgesamt entscheidet sich in den vergleichsweise religiösen USA eine von vier Frauen im Laufe ihres Lebens für einen Schwangerschaftsabbruch. Das ist eine deutlich höhere Quote als in der «ungläubigen» Schweiz. Dabei fällt mir persönlich auf, dass ich – im Gegensatz zur Schweiz – in meinem mittlerweile grossen amerikanischen Bekanntenkreis noch keiner einzigen Frau begegnet bin, die offen über ihre Abtreibung sprach.

So wenig die Religiosität der USA die Zahl und die Zusammensetzung der abtreibenden Frauen verändert, so sehr beeinflusst sie, wie der Abbruch von den Frauen erlebt wird. Denn das Thema Abtreibung wird hierzulande meist moralisch-religiös und nur selten politisch diskutiert. Dabei ist der Schwangerschaftsabbruch durchaus ein gesellschaftliches Problem, das unter anderem mit Armut, häuslicher Gewalt und Frauendiskriminierung verkettet ist.

Einige fortschrittliche US-Bundesstaaten sehen das auch so. Kalifornien etwa versucht im Vorfeld des Bundesgerichtsentscheides das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung zu stützen und auch Schwangerschaftsabbrüche für Frauen aus anderen Bundesstaaten anzubieten. Mein Heimatstaat Vermont im nordöstlichen Zipfel der USA ist dabei, ein «Recht auf persönliche reproduktive Autonomie» als Zusatz in die Verfassung aufzunehmen. Doch solche gesellschaftspolitischen Vorstösse sind im heutigen Politklima eher die Ausnahme als die Regel. In den meisten Debatten geht es um die Moral der abtreibungswilligen Frauen. Und Moralhüterin erster Ordnung ist die organisierte Religion.

Gloria Steinem, geboren 1934, kam 1969 über das Thema Abtreibung zur Frauenbewegung. Erst viele Jahre später konnte die heute weltbekannte Feministin auch über den Abbruch reden, den sie selber mit 22 Jahren hatte. Sie sagt von dieser Entscheidung, es sei das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie etwas getan habe, statt bloss mit sich tun zu lassen. Sie gründete in der Folge mehrere «Pro Choice»-Organisationen und denkt, Reproduktionsfreiheit sei die wichtigste Errungenschaft ihrer Generation von Feministinnen.*

Die massgebenden christlichen Religionsgemeinschaften der USA stehen dem Eingriff ablehnend gegenüber. Und diese Ächtung prägt den Rahmen, in dem Amerikanerinnen, selbst nicht religiöse Amerikanerinnen, ihre Abtreibung erfahren und deuten. Dabei gilt, je strenggläubiger eine Frau ist, desto schärfer ihr moralisches Dilemma, desto stärker ihre Selbstzweifel und Scham, desto grösser ihre Angst, von Gott und ihren Mitmenschen verdammt zu werden. Solche Frauen empfinden den Abbruch als Schandfleck in ihrem Leben, den sie verbergen oder wieder gutmachen oder wegerklären müssen.

Diese Stigmatisierung der Abtreibung hat viele Facetten, deren Ursprung unschwer in der (christlichen) Religion auszumachen ist: Der Schwangerschaftsabbruch verletzt traditionelle Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit und der weiblichen Sexualität. Die Religion wertet dies als Übertretung eines nicht bloss gesellschaftlichen, sondern göttlichen Gebots. Viele Frauen in den USA fürchten oder erwarten deshalb, für ihren Schwangerschaftsabbruch, auch wenn er ganz legal durchgeführt wurde, später gezüchtigt zu werden.

«Es ist etwas, das dich irgendwie verfolgt. Ich frage mich, wenn ich die Abtreibung jetzt durchziehe, wird Gott mich später bestrafen?» Das sagt eine Latina im Gespräch mit drei Wissenschaftlerinnen, die Dutzende von ungewollt schwangeren Frauen zum Thema Religion, Moral und Schwangerschaftsabbruch befragten und ihre Ergebnisse 2018 in einer gesundheitspolitischen Fachzeitschrift publizierten.

Auch eine befragte Mormonin ist besorgt um ihr Seelenheil: «Mein Verlobter und ich wollten unsere Kinder jede Woche in die Kirche mitnehmen, aber ich glaube, dass ich das jetzt nicht mehr tun kann, ohne mich schuldig zu fühlen. Ich frage mich auch, was passieren wird, wenn ich einst sterbe.» Eine konfessionslose Frau bekennt: «Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich bete nicht. Ich folge keiner Lehre – trotzdem glaube ich nicht, dass Abtreibung richtig ist.» Eine Katholikin fügt hinzu: «Diese Dinge stecken in deinem Kopf fest, ob du sie glaubst oder nicht. Diese kleine innere Stimme meldet sich immer wieder und sagt: ‹Du tötest dein Kind.›»

Barbara Ehrenreich, geboren 1941, brach im Laufe ihres Lebens zwei ungewollte Schwangerschaften ab. Sie hat heute zwei Kinder und mehrere Grosskinder. Die bekannte Journalistin und Buchautorin fand es wichtig, ihre Abtreibungen offenzulegen, denn Ehrlichkeit fange bei der eigenen Person an. 2004 schrieb Barbara Ehrenreich in der «New York Times»: «Abtreibung ist legal — bloss spricht frau nicht darüber und steht nicht dazu. (...) Höchste Zeit, den Daumen aus dem Mund zu nehmen, liebe Mitschwestern. Wir müssen uns für unsere Rechte einsetzen. Die Freiheiten, die wir bloss nutzen, aber nicht stärken, können uns auch wieder weggenommen werden.»*

Mehr noch als die Strafe Gottes fürchten viele der befragten Frauen den strafenden Blick ihrer Mitmenschen und das strenge Urteil ihrer Familie, ihrer Kirchgemeinde und ihres sozialen Umfeldes. Oft schildern sie, wie sie ihre Abtreibung vor der strengkatholischen Familie oder der konservativen Dorfgemeinschaft verheimlicht haben. Eine alleinstehende Katholikin mit Kind, die ihrer Mutter die Abtreibung gebeichtet hat, sagt: «Jetzt hasst sie mich. Sie hat mich rausgeworfen. Sie sagt, ich sei eine schlechte Mutter. So eine wie ich könne ihren Sohn nicht lieben. Sie sagt, Gott hätte mir nie ein Kind schenken sollen. Meine Familie kann sich nicht in meine Lage versetzen oder verstehen, warum ich nicht schwanger sein will.»

Viele der interviewten Frauen stellen die religiösen Institutionen in Frage, wenn auch nicht unbedingt die Religion selbst. «In meiner Kirche ist der Abbruch nicht gerngesehen. Doch das ist die Kirchendoktrin. In der Kirche haben alle neben diesen offiziellen Kirchenregeln auch noch ihr eigenes Regelwerk. Abtreibung verstösst nicht gegen meine persönliche Moral», sagt eine schwarze Protestantin. Eine katholische Latina beruft sich direkt auf Gott: «Gott ist der Einzige, der mich richten kann. Niemand sonst. Natürlich können mich alle bekritteln, auch meine Eltern. Doch das macht mir nichts aus. Nur Gottes Urteil zählt für mich.»

Auch eine nicht konfessionsgebundene Christin vertraut ganz auf das Gottesurteil: «In der Kirche sagen sie, Gott will dich genau so und nicht anders haben. Doch ich bin überzeugt, dass Gott weiss, dass wir Fehler machen. Ich glaube nicht, dass Gott von uns erwartet, dass wir perfekt sind.»

Holly Fritz, geboren in den 1970er Jahren, wurde als Highschool-Studentin in Buffalo, New York, schwanger. Sie dachte, nun müsse sie ihren Freund heiraten und ein Leben führen, das dem ihrer Mutter gleicht. Auch ihre Mutter war schon in der Highschool schwanger geworden. Sie hatte daraufhin geheiratet und ihre Tochter zur Welt gebracht. Doch als Holly Fritz ihre Mutter um Rat fragte, riet ihr diese zu ihrer Überraschung zu einer Abtreibung statt zu einer Muss-Ehe. Holly entschied sich für den Schwangerschaftsabbruch. Sie ging weiter zur Schule, wurde Mittelschullehrerin, heiratete und hatte später ein Kind.*

Einen ganz anderen, unversöhnlichen Gott rufen diejenigen rechtskonservativen Politikerinnen und Politiker an, die den Schwangerschaftsabbruch in den USA möglichst ganz verbieten wollen. Diesen selbsternannten Gotteskriegern geht es, wage ich zu behaupten, letztlich nicht um göttliche Moral, sondern um weltliche Macht. Ihre Religion marschiert im Gleichschritt mit ihrer Politik. Und ihre politische Basis ist die Religionsgemeinschaft der Evangelikalen. Als evangelikal bezeichnen sich in den USA neben konservativen protestantischen Christen weisser Hautfarbe zuweilen auch katholische und sogar jüdische Fundamentalisten.

Hingegen meiden selbst konservative schwarze Christinnen und Christen das Etikett, das so untrennbar mit der Geschichte des Rassismus in den USA verknüpft ist. Insgesamt machen die Evangelikalen etwa einen Drittel der US-Bevölkerung aus. Dabei ist der Begriff «evangelikal» in den USA heute religiös diffuser, dafür politisch eindeutiger definiert denn je.

Jenny Egan, geboren in den 1980er Jahren, wuchs in einer Mormonenfamilie im ländlichen Oregon auf. Als sechzehnjährige Schülerin wurde sie schwanger, nach nicht einvernehmlichem Sex mit ihrem Freund. Sie hatte eine Abtreibung, erzählte aber zuhause nichts davon. Die Eltern erfuhren trotzdem von dem Eingriff, weil eine Pro-Life-Gruppe die junge Frau denunzierte. Jennys Mutter war entsetzt und befahl ihrer Tochter, das Elternhaus zu verlassen.*

Evangelikale wählen republikanische Politiker. Und republikanische Politiker argumentieren evangelikal-religiös. Donald Trumps Vizepräsident Mike Pence etwa beschrieb die Zweiparteienlandschaft der USA als biblisches Armageddon, einen Kampf auf Leben und Tod: «Während die Demokraten für Abtreibungen in fortgeschrittener Schwangerschaft, Kindsmord und eine Kultur des Todes stehen, verspreche ich euch, dass dieser Präsident [Donald Trump], diese Partei und diese Bewegung für die Ungeborenen einstehen werden. Wir werden stets das unveräusserliche Recht auf Leben verteidigen.»

So scheinheilig sprach der Vertreter einer Partei, die im politischen Alltag nicht bereit ist, das geborene Leben, das heisst die Mütter und ihre Kinder, die Alten, Kranken und Armen, die Arbeits- und Asylsuchenden vor Ausbeutung zu schützen und zu unterstützen – alles gesellschaftliche Anliegen, die ebenfalls als christliche Pflicht gedeutet werden könnten.

Sebastiana Correa, geboren Ende der 1980er Jahre, lebte als Austauschstudentin in Connecticut, als sie ungewollt schwanger wurde. Ihre katholische Mutter war eine glühende Pro-Life-Aktivistin, die in Brasilien ein Waisenhaus für Kinder von unverheirateten Müttern führte. Sebastiana Correa fürchtete den Konflikt mit ihrer Mutter. Trotzdem war der erste Gedanke, als sie herausfand, dass sie schwanger war: Gott sei Dank bin ich in den USA, wo ich eine legale Abtreibung machen lassen kann.*

Die Geschichte der USA – ja die ganze Menschheitsgeschichte – beweist: Schwangerschaftsabbrüche werden sich auch durch die rigorosesten Anti-Abtreibungsgesetze und religiösen Gebote nicht verhindern lassen. Frauen aller Religionen und aller politischer Überzeugungen treiben in einer Notsituation ab.

Vermutlich wissen das zumindest einige der Pro-Life-Scharfmacher. Doch es ist für sie politisch opportun, sich als Verteidiger von «unschuldigem Leben» zu verkaufen. Die «Partei des Lebens» sieht Abtreibungsverbote als erstklassiges Mobilisierungsvehikel. Um die heutige Situation in den USA zu illustrieren, müsste man die eingangs erwähnte Zeichnung von der Frau mit dem Embryo im Bauch überarbeiten. Denn nicht nur der Embryo hängt an den Fäden der Strippenzieher. Auch die ungewollt schwangere Frau selber ist bloss eine nützliche Marionette im übergeordneten Spiel um patriarchale Vorherrschaft und politische Macht.

* Die eingeschobenen Portraits von bekannten und weniger bekannten amerikanischen Frauen, die abgetrieben haben, sind Teil eines grösseren Projekts von Tara Todras-Whitehill. Die Aufnahmen wurden 2005 gemacht; ab da sammelte sie solche Kurzlebensläufe zum tabuisierten Thema Schwangerschaftsabbruch. Tara Todras-Whitehill sagt über ihr Vorhaben: «Erst wenn du dich in einen anderen Menschen hineinversetzen kannst, wird eine Änderung überhaupt möglich.»

Titelbild: Shawn Thew/Keystone/EPA