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Freitag, 06. Juli 2018

Ich bin nicht fromm, doch treibt mich ein unerklärliches Verlangen in alte Gotteshäuser. Ein Gefühl von Ergriffenheit stellt sich ein, sobald ich durch die Seitenschiffe einer katholischen Kirche schlendere und die mit feinen Rissen überzogenen Figuren und Malereien in den Nischen betrachte. Ich studiere die traurigen Gesichter und gemarterten Körper von Heiligen und Märtyrern, deren Namen und Geschichten mir nicht mehr einfallen oder die ich niemals kannte, Christusfiguren am Kreuz, die in Versunkenheit für immer leiden. Müsste ich mir selber eine Diagnose stellen, würde ich auf Fehlsucht tippen. Ich suche nach dem, was ich nicht erfassen kann.

An eine Freske erinnere ich mich besonders, auch wenn ich nicht mehr zu sagen vermag, in welcher Kathedrale oder Kapelle, in welcher Stadt, an welchem Ort ich sie betrachtete. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das fleckige Licht des gewölbten Raums gewöhnt hatten. Die Malerei war im Grunde nichts Besonderes. Um sie in Gänze zu sehen, musste ich meinen Kopf in den Nacken legen. Sie zeigte eine junge Frau im langen Gewand. Die Hand auf dem Herzen, schien die Gestalt im Begriff, niederzuknien. Was mich in den Bann zog, war ihr bleiches, von einem hellen Schein umgebenes Gesicht. Ihr Blick richtete sich auf etwas, das mir als Betrachterin verborgen blieb. Darin lag ein seltsamer Glanz. Ein Widerschein dessen, was sie stumm machte und zu Boden sinken liess.

Das religiöse Pathos, das diese Szene umwabert, ist mir damals wie heute fremd. Und doch verspürte ich ein Kribbeln auf meiner Haut. Als erahnte ich im Betrachten der Augen der Frau eine Spur der Ergriffenheit, die frühere Besucherinnen empfunden haben müssen. Es war, als hätte ich für einen Augenblick die Tür in eine Welt aufgestossen, deren Stimmungen und Emotionen ich nicht mehr zu deuten vermag.

Heute hat sich der Himmel geleert, Religion ist zum nostalgischen Refugium geworden. Unsere Empfindungen sind andere. Unsere Erfahrungen, Gedanken, Ängste und Hoffnungen sind andere. Wir haben unsere Befürchtungen und Träume aus einem religiösen Universum mehr und mehr in eine diesseitige Welt verschoben. Auch mir selbst erscheinen die Momente, in denen ich so etwas wie Transzendenz erfahre, zeitlich und räumlich entrückt. Als wäre sie dabei, zu verschwinden.

Sind wir im Begriff, den Bezug zu ihr zu verlieren? Von all den Dingen, die wir mit der Säkularisierung hinter uns gelassen haben, sind es die nicht mehr empfundenen Empfindungen, deren Verschwinden mich im Dämmerlicht alter Kirchen mit einer Sentimentalität erfüllt, die mich im nachhinein, wenn ich wieder nach draussen trete, peinlich berührt.

Ohne Mühe entlarve ich die simple Psychologie meiner Rührseligkeit, von der ich mich in diesen Momenten treiben lasse. Wie einfach es ist, meine heutigen Sehnsüchte auf mit Patina überzogene Statuen zu lenken. Die Vergangenheit ist passiv, meiner Empfindung ausgeliefert; der Lustgarten, in dem ich meine gepflegte Melancholie spazieren führe, wird mir unweigerlich bewusst. Da bin nur ich, der Staub – und meine Phantasie, dass da einmal Menschen waren, die geglaubt haben, die wirklich tief versunken waren, die nie zweifelten.

Denn im Grunde sind die aus der Zeit gefallenen Momente meiner Ergriffenheit immer angewiesen auf den Glauben dieser anderen, den Glauben an den Glauben der anderen. Sie heften sich auf diese versteinerten Zeugen einer Vergangenheit, die nie so war. Ohne diese Imagination blieben die Räume kühl, und damit bliebe auch ich unberührt.

Aber vielleicht war Religion schon immer vermittelt über die anderen. Dann ist die Zeugenschaft der Trick des Glaubens. Darum die vielen Heiligen und Märtyrer, die mit weit geöffneten Augen und aufgerissenen Körpern auf etwas verweisen, was nicht gesehen werden kann. Darüber dachte ich nach, als ich, knapp erwachsen, nach langen Jahren der Abwesenheit wieder einmal im Haus meiner Grossmutter übernachtete. Nichts hatte sich an der Einrichtung verändert.

Als ich zu Bett ging, fiel mein Blick auf die gerahmten Portraits von Jesus mit dem zur Schau gestellten blutenden Herzen und seiner Mutter Maria mit ihren grossen Tränen an der gegenüberliegenden Wand. Ich kann nicht sagen, wie oft mir das mit Inbrunst leidende Paar in meiner Kindheit den Schlaf schwermachte. Immer empfand ich dabei eine Mischung aus Faszination und Horror. Die beiden schienen durch mich hindurchzublicken. Sie waren für immer entrückt. Und liessen mich dabei im Schein der Nachttischlampe allein. Vielleicht war es gerade das offensichtlich Plakative, das dazu führte, dass ich dahintergelangen wollte, unter der Oberfläche mehr vermutete. Da musste mehr sein als dieses Bild, diese Symbole. Ich wollte, dass die Farbe nicht nur eine Abwesenheit verdeckte. War alles nur Wunsch und Projektion?

1987 The Peter Hujar Archive LLC; Courtesy Pace / MacGill Gallery, New York and Fraenkel Gallery, San Francisco

Die entrückte Maria Magdalena und der orgasmische Mann entziehen sich. Was sie bewegt, bleibt ein Geheimnis. Maria Magdalena, CA. 1613, VON Artemisia Gentileschi

Und doch gibt es Unmittelbarkeit. Ich war in dem Sommer 14 Jahre alt, als ich diese Präsenz spürte. Wir waren als Familie in einem Mietauto unterwegs auf Englands Landstrassen. Ich hatte während der langen, überhitzten Fahrt auf dem Hintersitz gedöst; mein Magen war flau, als wir die englische Provinzstadt Gloucester am späteren Nachmittag erreichten. Vielleicht war es meine adoleszente Trägheit, die mir die eigene Unzulänglichkeit noch bewusster machte, als wir die Kathedrale betraten.

Die pure Schönheit traf mich schmerzhaft. Da war das Zwielicht, und da war dieser nach oben sich vervielfältigende Raum, der von Stimmen wie vom Geflatter kleiner Vögel flirrte und meinen Körper elektrisierte. Ich habe bis heute keine Ahnung, was die Knabenstimmen sangen. Ich empfand Scheu, und eine Trauer überfiel mich. Da war das Verlangen nach diesen Stimmen, die mir so nah kamen und die ich doch nicht erreichen konnte. In all der Präsenz blieb eine Lücke.

Der Philosoph und Talmudlehrer Emmanuel Lévinas war ein Denker der Nicht-Identität und der Fremdheit. Sein Werk kreiste um die Unverfügbarkeit dessen, was er oft auch das Unendliche nannte. Anders als viele Philosophen seiner Zeit sah er nicht in der grundsätzlichen Gleichheit, sondern in der radikalen Andersheit die Bedingung von Nähe. Auch Transzendenz stellte sich für ihn mit der Erfahrung einer Trennung ein. Und genau darin sah er auch die Möglichkeit von Berührung. Um diesen komplexen Gedanken zu veranschaulichen, schrieb er oft vom menschlichen Antlitz. Es war für ihn eben nicht der Garant für Ebenbürtigkeit, sondern Chiffre dieser prinzipiellen Uneinholbarkeit. Er schildert den Moment der Fremdheit des Gegenübertretens: Da sind die Augen des anderen, da ist die Nase, da ist der Mund, diese Öffnungen, die innen und aussen verbinden. Und doch bildet das menschliche Gesicht eine Grenze, seine Oberfläche macht es unmöglich, jemals hinter den anderen zu gelangen.

Lévinas dachte aus dem säkularen Horizont seiner Zeit heraus, doch haften seinem Denken die Spuren jüdischer Mystik an. Transzendenz und Liebe fielen zusammen. Auch diese zutiefst menschliche Erfahrung war für ihn letztlich religiös. Vielleicht kamen mir darum seine Gedanken zum Antlitz in den Sinn, als ich neulich auf die Fotografien von Peter Hujar stiess. Der New Yorker Fotograf porträtierte in seinen Schwarzweissbildern Menschen, die abseits der normalen Gesellschaft lebten. Seine Welt war die Lower East Side, zu seinen Freunden zählten Andy Warhol, Robert Mapplethorpe und Nan Goldin. Ende der 1980er Jahre verstarb Hujar an Aids. Viele seiner Portraits zeigen Bekannte. Manche waren selber von Krankheit gezeichnet.

Seine Fotografien sind Nahaufnahmen, und doch lassen sie den Abgebildeten Würde und Raum, denn Hujar arbeitete mit einer bemerkenswerten Zurückhaltung. Weggefährten beschreiben, dass er seine Modelle beim Posieren nie ermunterte. Ihm sei es darum gegangen, sie jenseits von Selbstinszenierung in ihrer Verletzlichkeit und Unsicherheit abzulichten.

Ein Bild, das mich besonders berührte, trägt den Titel orgasmic man und ist auf dem Cover dieser Ausgabe zu sehen. Wie der Name des Bildes nahelegt, zeigt es das Gesicht eines Mannes beim Orgasmus, was nicht ohne weiteres erkennbar ist. Der abgelichtete Moment entzieht sich der eindeutigen Lesbarkeit. Es bleibt beim Betrachten unentschieden, ob es Lust oder Schmerz ist, die das fast kindlich anmutende, zur Seite geneigte Gesicht im Moment der Ablichtung ergriffen hat. Unmöglich zu sagen, ob das Absicht war, doch erinnert das Motiv an Darstellungen des leidenden Antlitzes von Christus. An dem Bild ist nichts Pornografisches, nichts, das anstössig wäre. Das Modell ist ganz nach innen gekehrt. Es ist allein in seiner Extase. Der Mann muss dem Fotografen zu hundert Prozent vertraut haben, dass er sich so gehen lassen konnte.

Die Natürlichkeit des Augenblicks, den Hujar festgehalten hat, erzeugt eine Nähe, und gleichzeitig stellte sich, als ich das Bild länger betrachtete, ein Gefühl dieser radikalen Grenze ein. Das Bild traf mich, weil ich darin eine eigene Erfahrung wiederfand. Auch im absolut intimsten Moment mit einem anderen Menschen bleibt eine Lücke. Sosehr Liebe vom Wunsch nach Verschmelzung angetrieben sein mag, nie ist der andere erreichbar. Es ist die Kunst, der Versuchung zu widerstehen, sich den anderen einverleiben zu wollen. Hujars Bild zeigt keinen Geschlechtsakt. Es zeigt das Gesicht eines Einzelnen.

Man kann das Foto unterschiedlich deuten. Es ist das Portrait eines schönen Mannes. Es zeigt Lust, deren Einsamkeit und Nähe zum Schmerz. Es handelt aber auch von Liebe. Und von Transzendenz. Davon, das Gesicht eines geliebten Menschen zu betrachten und auszuhalten, nie am selben Ort zu sein, auszuhalten, dass die Sehnsucht nie endet, dass der oder die andere anders bleibt. Dass es nur Annäherung gibt.

Das religiöse Vokabular ist uns heute abhanden gekommen. Wir haben vergessen, wie man die alten Statuen und Bilder liest. Aber vielleicht sind sie gar nicht so fremd, oder sie waren es schon immer, auch für die Betrachterinnen vor uns. Denn vielleicht handelten auch sie von Anfang an von dieser Lücke. Oder wir erkennen erst heute darin ein verhaltenes Echo dieser eigenen Erfahrung, dass in jeder Begegnung, so intim sie sein mag, ein Rest Fremdheit bleibt.

Wenn Transzendenz mit der Erfahrung einer Grenze zu tun hat, dann steht der orgasmische Mann, dann stehen alle Geliebten nicht am Ende, sondern am Anfang davon.

Wenn Transzendenz genau damit zu tun hat, dann steht der orgasmische Mann, dann stehen alle Geliebten nicht am Ende, sondern am Anfang von Transzendenz. Die weit geöffneten Augen der Frau in dieser Kirche, deren Namen und Ort ich nicht mehr zu erinnern vermag, zeugen dann von dieser Grenze. Dann gäbe es viele Spuren der Uneinholbarkeit. So gesehen, haben wir nie aufgehört, religiös zu sein, auch wenn wir es selbst nicht so nennen würden.

Wir müssen Transzendenz nicht an verschwundenen Orten aufspüren und vergessenen Empfindungen nachtrauern. Sie ist da. Die Fehlsucht ist Teil davon.