Kirchen gehören zum Urlaubsprogramm von Hunderttausenden. Touristen stehen geduldig an, um sich wie Konfirmanden in Zweierreihen durch die Dome und Kathedralen Europas zu schieben. Sie ziehen artig Polyestertücher über nackte Schultern, senken ihre Stimmen und treiben ihre Sprösslinge von Winkelaltar zu Winkelaltar. Über Kopfhörer hören sie die Geschichten von Heiligen und Schurken, die ihnen aus Fenstern, von Decken oder aus dem Deckenhimmel zuwinken.
Sie recken die Köpfe, um das Jüngste Gericht zu bestaunen, und lassen sich via Audioguide klaglos architekturgeschichtliches Fachvokabular um die Ohren hauen. In der ersten Bank kniet eine Frau, sie bewegt lautlos die Lippen und betet, als wäre sie mit Gott allein. Ihr Gesicht erzählt eine Leidensgeschichte. «Was macht die Dame da?» fragt ein kleines Mädchen. Was sie tut, wirkt wie eine Attraktion, zu der man nicht hinsehen darf, ein leibhaftiges Tabu, das Betretenheit auslöst.
Was ist es nur, das Reisende in die grossen, kleinen, schönen oder mittelprächtigen Kirchen treibt, in denen Mönche vom Band singen und die Souvenirshops grösser als die Beichtstühle sind? Ist die Vergangenheit grosser und kleiner Orte wichtiger als der Alltag der Menschen, die jetzt dort leben? Geht es um eine Aufwertung profaner Klub-Urlaube und Pauschalreisen durch etwas kulturell Wertvolles?
Ruhe kann es nicht sein, denn es ist nur in den Randstunden des Tages still. Der Geruch von Weihrauch und Kerzen mischt sich mit aufdringlichem Parfum. In allen Sprachen der Welt wird bewundert, gezeigt, gemurmelt. In den hinteren Bänken räkeln sich Teenager, sie stecken die Köpfe zusammen und blicken andächtig auf ihre eigenen Heiligenbildchen auf dem Smartphone. «Psssst.» «Aaaaah.» Die Glossolalie des Tourismus.
Wer aus dem gleissenden Licht südeuropäischer Plätze ins Dunkle kommt, tritt in eine fremde Welt ein. Vielleicht ist es auch das diffuse Versprechen, das ebenso beruhigt wie erschreckt, ein leichter Schauer, der nicht nur vom abrupten Szenenwechsel kommt. Ein paar Minuten, in denen das Gerede zum Stillstand kommt. Einfach mal schweigen, einige Momente für sich allein, trotz Gruppenbutton auf dem Hemd, einfach die Augen schliessen, auch das Kameraauge.
Hier ist das erlaubt und kommt ohne Rechtfertigung aus. Die Urlaubsheiterkeit, der Bildungswille oder der Spass an einer kleinen Ablenkung darf der Melancholie weichen, der Traurigkeit, dem Dank. Inmitten eines vergangenen Glaubensmanifestes lassen sich auch Menschen berühren, die selten oder nie zuhause in Kirchen gehen. Das zeigen die Eintragungen in Gästebüchern, die immer häufiger in Kirchen ausliegen. Die Zahl der Einträge zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, das Hiergewesensein zu dokumentieren, eine Art Hinterlassenschaft, oft verbunden mit eiligen Worten, die den Besuch zusammenfassen – oder um mehr bitten. Um ein Gebet, zu dem man sich selbst nicht in der Lage fühlt, eine Nachricht an die Liebsten, die diese niemals lesen werden.
Hier ist alles präsent, was mit in die Ferien geschleppt wird: der Tod des Vaters und die Haarrisse in der Beziehung, das Glück über ein Enkelkind und der unerhörte Kinderwunsch, der drohende Bankrott der Firma und die Hoffnung auf einen Studienplatz. Auf eigene Weise werden diese Gästebücher zu Fragmenten fremder Leben, manchmal frech, manchmal pflichtschuldig, oft bewegend, dazu in vielen Sprachen dieser Welt, die keine Rückschlüsse auf das eine oder andere geben.
Einkehr in der Anonymität
Eine Kerze, ein Moment des Schweigens, der fast schon ein Gebet werden kann – Kirchenräume sind und bleiben Orte, in denen das Existenzielle Platz findet, die Suche nach Antworten, nach Gottesnähe, nach Erlösung, nach einem Dach über der Seele. Das ist auf überraschende Weise trotz den religionsdiagnostisch belegten Veränderungen gleich geblieben. So erleben es auch auch die Geistlichen, die an den touristischen Hotspots im eigenen Land und überall in Europa arbeiten.
Seelsorge fragt nur ab, wer Zeit hat, die eigene Seele und ihre Not auch zur Kenntnis zu nehmen. Gottesdienste, unter freiem Himmel oder in der Kirche am Meer, die mal eine Scheune war, sind manchmal so gut besucht wie im Heimatort nur die Christvesper. Religiöse Übungen, existenzielle Fragen brauchen Zeit, Selbstbefragung braucht einen Raum. Ausserdem hilft die Anonymität des Urlaubsortes so manchem über die Schwelle in ein Gespräch.
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