Vor drei Jahren setzte der Hashtag MeToo einen feministischen Marker in der Zeitgeschichte: Weltweit prangerten Frauen sexuelle Übergriffe an und stellten generell das vorherrschende, von Männern dominierte System in Frage. Als Feministin und Kirchenpublizistin beschäftigen Sie sich seit Jahren mit der Kirche und Frauen. Hat der neue Feminismus auch die Kirche erfasst?
Ich würde Ihnen da gerne eine aufbauendere Antwort geben, aber leider spüre ich in dieser Hinsicht keine Aufbruchstimmung. Nicht wenige Frauen haben der Kirche den Rücken gekehrt. Das erstaunt mich allerdings nicht.
Warum?
Die Kirche, wie wir sie kennen, ist angezählt. Viele Frauen haben wenig Lust, sich um diesen Patienten zu kümmern.
Woran krankt er?
An Realitätsverlust. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie vor fünfzig Jahren, auch dank der Frauenbewegung. Das patriarchale Gesellschaftsmodell, das den Zugang zur Macht an den Besitz eines Penis gekoppelt hatte, hat ausgedient. Das ist ein sehr tief greifender Wandel, den viele in der Kirche bis heute nicht verstanden haben. Sie erkennen nicht, wie wichtig das Thema ist.
An was machen Sie das fest?
In den 80er und 90er Jahren hatten viele Frauen Lust, sich zu engagieren und die Kirche umzukrempeln. Es war die Zeit der feministischen Theologie, in der Frauen patriarchale Interpretationen der christlichen Tradition radikal in Frage stellten, um neue Liturgien rangen und die Bibel mit einem anderen Blick zu lesen begannen. Es braucht aber mehr als eine Frauengeneration, um ein konsolidiertes Männersystem umzupflügen.
Warum ist von diesem Aufbruch heute nicht mehr viel übrig?
Die meisten Projekte, die das verankern sollten, sind schon bald wieder weggespart worden: Frauenzeitschriften, feministische Institute oder Arbeitsstellen. In den Synoden war man der Meinung, das braucht man nicht mehr, denn wir sind doch gleichberechtigt. Jetzt gibt es seit zehn Jahren in Europa einen neuen feministischen Aufbruch, in der Kirche aber nicht. Dort werden im Gegenteil die konservativen Kräfte wieder stärker, mit dem Resultat, dass viele Frauen erst recht das Interesse verlieren. Das sehen Sie ja auch in der Schweiz: Hier wurde ein Mann anstelle einer durchaus kompetenten Frau an die Spitze der Reformierten gewählt, auch unter Mithilfe von vielen Frauen, wie man zugeben muss.
Aber warum sollen Männer an der Spitze immer ein schlechtes Zeichen sein?
Sind sie gar nicht. Ein dezidiert feministischer Mann wäre sogar ein gutes Signal. Aber einer, der sich in Bezug auf Geschlechterfragen desinteressiert zeigt, sendet das Signal aus, dass die Institution keinen Wandel will. Dieser Stillstand ist für viele Frauen unattraktiv.

Antje Schrupp
Ist das tatsächlich so einfach?
Die Kirchen haben sich lange darauf verlassen, dass Frauen sie ohnehin unterstützen. Das reicht heute aber nicht mehr. Andere Institutionen haben feministische Forderungen viel aktiver aufgegriffen. In Deutschland gelingt es Parteien wie den Grünen, der SPD und der Linkspartei durchaus, Frauen für sich zu gewinnen, auch jüngere. Was ich damit sagen will: Manche Institutionen schaffen die postpatriarchale Öffnung besser, andere schlechter. Die Kirche zählt leider eher zu den letzteren.
Sie orten eine Realitätsferne der Kirche. Auf welche Herausforderungen müsste sie denn Antworten bieten?
Auf all die Fragen, welche die Menschen heute beschäftigen. Neue Familienformen beispielsweise. Wer sich um Kinder und Alte kümmert, und zu welchem Preis, wenn alle Erwachsenen erwerbstätig sind. Ich nehme bei vielen Themen einen theologischen Notstand wahr. Die Position der Kirchen zur Abtreibung war aus feministischer Sicht schon immer ein Problem. Aber auch Punkto Sterbehilfe, Sonntagsschutz oder Reproduktionstechnologien können die Kirchen ihre Standpunkte kaum noch vermitteln. Nicht einmal die Diskussionen zu Geflüchteten oder zum Klimaschutz prägen sie. Ihre progressiven Flügel kommen gerade noch so mit, aber die Konservativen kleben am Gestrigen und treten kräftig auf die Bremse.
Aber stimmt das wirklich? Unlängst hat sich die Evangelisch-reformierte Kirche der Schweiz ihrem deutschen Pendant angeschlossen und beteiligt sich nun an einem Flüchtlingsschiff in der Seenotrettung.
Tatsächlich, eine sehr erfreuliche Aktion. Ich möchte auch keinesfalls das Engagement vieler Menschen an der Basis oder die progressiven Kräfte kleinreden. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau etwa, zu der ich gehöre, setzt sich entschieden für die Anliegen von Homosexuellen oder Trans-Menschen ein. Und in der katholischen Kirche erleben wir gerade eine neue feministische Welle. Aber im Grossen und Ganzen bleibe ich bei meiner Prognose: Die Amtskirche, wie sie uns vertraut ist, kommt an ein Ende.
Sie gehen mit der Kirche hart ins Gericht. Trotzdem sind Sie noch immer Mitglied. Warum?
Weil die Kirche für mich keine Gegnerin ist. Wenn ich austrete, ändert das nichts zum Besseren. Die Kirche ist ja auch nicht das Hauptproblem.
Wie meinen Sie das?
Es muss sich doch überall etwas ändern: in Parlamenten, Universitäten, der Justiz, in Gewerkschaften, Medien, der Wirtschaft und so weiter. Da ist die Kirche weder die schlimmste noch die dringlichste Baustelle.
Ein ziemlich schwaches Argument für die Kirche und irgendwie auch traurig.
Lassen Sie mich präzisieren: Ich unterscheide zwischen der Institution Kirche in ihrer konkreten Form und dem Christentum als Gemeinschaft der Gläubigen. Als frommer Mensch möchte ich innerhalb der christlichen Gemeinschaft aktiv sein und dort etwas bewirken. Das kann ich doch besser, wenn ich im Umfeld der Kirche bleibe.
Diese Antwort überrascht.
Was überrascht Sie – dass ich fromm bin? Aber selbstverständlich. Das Christentum hat ja eine wichtige Botschaft: Die Welt ist erlöst. Wir sind den weltlichen Gesetzmässigkeiten nicht hilflos ausgeliefert, sondern es gibt einen anderen Massstab, an dem wir uns orientieren können, das Reich Gottes! Dieses Vertrauen hat etwas Subversives, es kehrt Verhältnisse um, das mag ich, und das verbindet mich mit vielen kirchlich sozialisierten Leuten. Wie Paulus schon sagte: Unser Glaube ist den Heiden eine Torheit, den Juden, also den Eigenen, ein Ärgernis.
Sie haben die Kirche einmal als häretisch bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Meiner Ansicht nach gibt es diese grundlegende Häresie, die darin besteht, dass die Männer sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt haben. Die Kirche hat ja nicht nur behauptet, man müsse ein Mann sein, um die Sakramente zu verwalten, sie hat auch ein absurd vermännlichtes Bild von Gott in der Welt verbreitet. Machen Sie eine Bildersuche mit Google: Sie werden überall auf Darstellungen eines alten Mannes mit Bart treffen. Diese strukturell angelegte Verwechslung des Göttlichen mit dem Männlichen halte ich für häretisch. Es steht ja ausdrücklich in der Bibel, bei Hosea: Gott bin ich und kein Mann.
Nach Ihrer Lesart ist also die Theologie, wie sie die Kirche betreibt, ein Vergehen?
Naja, es gibt ja nicht nur eine Theologie. Aber wenn die Kirche Gott definieren und festlegen will: ja, dann finde ich das sehr problematisch. Die Vorstellung, irgendein Mensch oder eine von Menschen gemachte Institution könne Gottes Willen kennen und dürfe darum anderen Vorschriften machen, ist meines Erachtens eine gotteslästerliche Anmassung. Leider ist aber genau das in fast allen Religionen der Fall. Das Problem betrifft ja nicht nur das Christentum.
Sie sind Feministin und haben Theologie studiert. Was war in Ihrem Leben eigentlich zuerst: die Theologie oder der Feminismus?
Ganz eindeutig die Theologie. Ich wuchs in einem Dorf in Hessen auf. Meine Eltern waren nicht besonders religiös, und so habe ich mich quasi selber in die Sonntagsschule eingeschult. Das war für mich als Einzelkind die einzige Chance, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Auf die Sonntagsschule folgte mein Engagement in der kirchlichen Jugendarbeit und später dann das Studium der Theologie in Frankfurt.
Eine klassische kirchliche Laufbahn also.
Ja, und ich verdanke meiner kirchlichen Sozialisation viel. Ohne meinen Wunsch, Pfarrerin zu werden, hätte ich vielleicht nie eine Uni von innen gesehen.
Sie schlossen das Studium der Theologie aber nie ab. Warum?
An der Uni weitete sich mein Horizont, und ich entdeckte, dass es mehr gibt als die örtliche Gemeinde. Auch bereitete mir die Vorstellung Mühe, eines Tages als Pfarrerin im Namen einer Institution auf der Kanzel stehen zu sollen. Dazu bin ich viel zu sehr Freigeist. Irgendwann wechselte ich zur Politologie.
«Feministisch bin ich eine Spätzünderin. Ich verstand ehrlich gesagt nie, was das mit mir zu tun haben sollte – ich dachte, das ist was für arme Frauen oder solche, die sonstwie benachteiligt sind.» Antje Schrupp
Und fanden zum Feminismus. Wann begann eigentlich Ihr Unbehagen am Patriarchat?
Feministisch bin ich eine Spätzünderin. Zwar kam ich bereits im Theologiestudium in Berührung mit der Frauenbewegung. Aber ich verstand ehrlich gesagt nie, was das mit mir zu tun haben sollte. Für mich bedeutete Feminismus zunächst einfach nur Gleichstellung – aber ich fühlte mich nicht diskriminiert. Ich konnte studieren und für mich selber sorgen. Feminismus, so dachte ich, sei etwas für arme Frauen, die kein Geld haben oder sonst irgendwie benachteiligt sind. Mitte der 90er Jahre lernte ich dann aber den Differenzfeminismus kennen. Das war ein regelrechtes Bekehrungserlebnis. Ab dann begriff ich, dass Feminismus auch mich etwas angeht, dass es um weibliche Freiheit geht, nicht bloss um Gleichberechtigung.
Der Differenzfeminismus ist ein von italienischen Philosophinnen entwickeltes Denken, das alles Vorhandene radikal in Frage stellt.
Es stellt vor allem in Frage, dass das Männliche die Norm und der Massstab des Menschlichen ist. Mir wurde klar, dass sich das mit Gleichstellung nicht ändern lässt, im Gegenteil: Ein Resultat des Gleichstellungsdenkens kann ja sein, dass die Frau einfach den Mann kopiert …
… und so die Rolle des gesteigerten Mannes einnimmt.
Dafür gibt es Anschauungsmaterial zuhauf. Nehmen Sie den neuen Star-Wars-Film. Da ist die Hauptfigur, Rey, eine Frau. Wie toll, denken viele. Dumm nur, dass sie nichts anderes tut, als die heroische Kämpferin im All zu geben. Der Film feiert Krieg, Gewalt und Stärke, nur eben mit weiblicher Hauptperson. An der Ordnung der Welt ändert sich dadurch gar nichts.
Wenn es nicht der alte Mann mit Bart ist: Wer oder was ist für Sie Gott?
Diese Frage erübrigt sich. Es geht eben gerade nicht darum, eine Vorstellung von Gott zu haben! Wer Gott ist und was sie will, können wir nicht erkennen. Gott ist transzendent und somit genau das, wofür Worte und Bilder fehlen. Eine unverfügbare Leerstelle, auf die wir uns beziehen können, das, was über uns Gewalt hat, obwohl wir es nicht kontrollieren und einhegen können. Demgegenüber ist Demut, Offenheit, Neugier und Vertrauen angesagt.
Aber lässt sich aus etwas derart Undefinierbarem überhaupt ein Glauben entwickeln?
Oh ja, das geht sehr gut. Viel besser sogar als mit Dogmen oder Bekenntnissen. Denn es geht um eine Haltung zu diesem Unverfügbaren – und zu anderen Menschen. Eines meiner Vorbilder ist Simone Weil. Sie war Anarchistin und kämpfte in den 1930er Jahren im Spanischen Bürgerkrieg. Als ihr klar wurde, dass die Faschisten siegen würden, wandte sie sich der katholischen Mystik zu.
Was fasziniert Sie am Leben einer Frau, die zeitlebens an ihrer Existenz litt und mit 34 Jahren an Unterernährung starb?
Dass sie sich Gott und den Menschen mit einer unglaublichen Demut angenähert hat. Sie war überzeugt, dass in der Beziehung zwischen ihr und Gott das grösste Hindernis ihr menschliches Ego ist. Das ist ja generell die Erkenntnis der Mystik: Das Ich muss weniger werden, damit Platz für Gott ist. Simone Weil deutete dies nicht nur individualistisch. Sie kam dadurch zu einem Verständnis von Politik, das die konkrete Realität ernst nimmt und jegliche Ideologie hinter sich lässt. Was sie über Gesellschaft und Politik geschrieben hat, ist bis heute aktuell, zum Beispiel in Bezug auf die Grenzen von Parteipolitik. Natürlich bin ich weit von ihrer geradezu visionären Existenz entfernt. Aber sie ist für mich eine Inspiration.
Wie leben Sie Demut im Alltag?
Nun, das ist ehrlich gesagt nicht meine Stärke. Gerade deshalb übe ich es. Zum Beispiel so: In Frankfurt, wo ich lebe, gehen die meisten Menschen bei Rot über die Strasse. Ich bleibe vor der Ampel stehen und warte, bis es Grün wird.
Ist das nicht furchtbar sinnlos, wenn kein Auto kommt?
Genau darum geht es ja. Zu üben, dass es nicht darauf ankommt, ob ich es sinnvoll finde. Ein anderes Beispiel: Wenn ich in einem Gottesdienst bin und die Predigt mir nicht zusagt, ist mein Urteil rasch gefällt: Was für ein Quatsch. Ertappe ich mich bei diesem Gedanken, rufe ich mir selbst ein «Stop» zu und versuche, meine ich-bezogene Bewertung beiseitezuschieben und stattdessen ohne Vorbehalte zuzuhören.
Das kommt einer Hingabe an die Andersheit nahe.
So verstehe ich meinen Glauben, als Offenheit für das Andere. Deswegen kann ich jeder Theologie nichts abgewinnen, die verstehen oder gar definieren will, was Gott ist. Genauso wichtig finde ich, dass die Bibel nicht ausinterpretiert wird. Sie bleibt fremd und ist nicht ohne weiteres verständlich. Ich will, dass ihre Texte eine Pièce de résistance für mich bleiben.
Was Sie sagen, erinnert an Meister Eckhart oder das Denken des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas. Was ist daran speziell weiblich?
Es ist nicht spezifisch weiblich. Differenzdenken ist nicht an ein Geschlecht gekoppelt. Natürlich haben sich auch Männer in allen religiösen Traditionen Gott zugewandt. Am Ende waren es aber Frauen, von denen ich eine solche Spiritualität gelernt habe.
Sie beklagen den Einfluss patriarchaler Denkmuster auf die Theologie und den Glauben. Gibt es überhaupt eine weibliche Religiosität, die frei ist von patriarchaler Prägung?
Das ist eine Frage, die viele Feministinnen beschäftigt hat. Die französische Psychoanalytikerin Luce Irigaray schrieb einst, dass alle grossen monotheistischen Religionen mit dem Muttermord begannen. Doch meiner Meinung nach war die männliche Herrschaft niemals allumfassend. Gerade lese ich ein Buch über das früheste Christentum. Darin ist die Rede von vielen Christentümern, im Plural. Das Christentum ist keine einheitliche Tradition, es gab schon von Beginn an alternative Versionen. Oder denken Sie an die wunderbare Spiritualität einer Margarete Porete oder einer Teresa von Ávila. Sie beide stellten die Liebe und die Gottesbeziehung in den Vordergrund, nicht die Kirchenlehre.
Es fällt auf, dass die Frauen, auf die Sie sich beziehen, aus der jüdischen oder einer vorprotestantischen Tradition stammen. Würden Sie sich überhaupt noch als evangelisch bezeichnen?
Konfession spielt für mich kaum eine Rolle, wenn ich mit anderen Frauen nach einer guten Art zu leben und glauben suche. Es ist nicht einmal wichtig, ob sie atheistisch, christlich, jüdisch oder muslimisch sind. Die Frage, die mich mit anderen Frauen vereint, ist: Wie erreichen wir weibliche Freiheit und Offenheit für das Andere? Wie leben wir ein gutes Leben?
Das traditionelle Christentum hat einen Hang zu Leid und Gewalt. Der höchste evangelische Feiertag ist bis heute Karfreitag.
Dahinter steht die Sühnetheologie, wonach der Tod von Jesus nicht einfach eine Hinrichtung war, sondern ein Opfer für die Sünden der Menschen, ohne das es keine Erlösung geben konnte. Viele feministische Theologinnen haben das kritisiert.
Woher kommt diese Blutlust eigentlich?
Es waren die politischen Umstände des Mittelalters, die zu dieser Überhöhung von Schmerz und Tod führten. Im ersten christlichen Jahrtausend wurde Jesus meistens als strahlender Weltenherrscher dargestellt. Aber im 10. Jahrhundert gab es plötzlich Kruzifixdarstellungen mit dem sterbenden, nackten Christuskörper. Dieser Umschwung war wahrscheinlich eine Reaktion auf die Zwangschristianisierung der Sachsen im 8. Jahrhundert durch Karl den Grossen. Gewalt war damals an der Tagesordnung, und Leiden wurde theologisch geadelt. An der Schwelle zum 12. Jahrhundert formulierte Anselm von Canterbury dann die Sühnetheologie.
Hat Sühne als Konzept heute nicht ausgedient?
Die Vorstellung, Gott habe von Christus ein Sühneopfer verlangt, wird im theologischen Mainstream heute tatsächlich fast unisono zurückgewiesen. Das bedeutet aber leider nicht, dass auch die Idee vom Sühnetod aus der Welt ist. Sie hat sich längst von ihrer christlichen Herkunft gelöst.
Inwiefern?
Noch immer gibt es das Bild der duldsamen Frau, die selbstlos ihre Wünsche hinter dem Wohl anderer zurückstellt. Und es gibt die Figur des männlichen Erlösers, der heldenhaft gegen das Böse kämpft und die Welt rettet, indem er sich selbst opfert. All diese Bruce-Willis- oder Clint-Eastwood-Figuren sind letztlich Varianten der christlichen Messias-Erzählung, die sich verselbständigt hat.
«Ich kenne keine andere Religion, die damit beginnt, dass ein Mensch Ja dazu sagt, dass Gott auf die Welt kommt. Nur im Christentum braucht es das Ja einer Frau.» Antje Schrupp
Was bringt es, das zu durchschauen?
Es macht die Kritik überhaupt erst möglich! Das Fatale ist doch, dass unsere säkulare Gesellschaft diese Narrative gar nicht mehr als spezifisch christliche erkennt, sondern sie quasi für naturgegeben hält. Damit werden sie aber nur noch wirkmächtiger. Es ist von Vorteil, als Feministin bibelfest zu sein und die Geschichte des Christentums und seiner Deutungen zu kennen. Denn sie prägt bis heute unsere Wahrnehmung der Welt.
Können Sie der Idee, dass Jesus auch den Tod nicht scheute, gar nichts abgewinnen?
Doch, durchaus, ich bewundere seine Standhaftigkeit und Konsequenz. Aber ich würde den Kreuzestod nicht überhöhen und ins Zentrum meines Glaubens stellen. Die Welt ist nicht deshalb erlöst, weil Jesus hingerichtet wurde. Diese Blutgeschichte mit dem übermenschlichen Opfer, das ein Messias erbringt, verdeckt ganz viele alltagsrelevante und politische Fragen, die ich mir als Christin stellen kann oder sogar muss. Martyrium heisst nicht, dass ich bereit bin, mich von Löwen in der Arena zerfetzen zu lassen. Relevanter ist, dass ich mich frage, wie ich in der Nachfolge von Jesus leben kann. Welche Konflikte bin ich bereit einzugehen? Wie viel von meiner Bequemlichkeit gebe ich auf? Wobei es Erlösung nicht für Einzelne geben kann, sondern nur in der Gemeinde, in der Gemeinschaft. Mir gefällt die Vorstellung, dass wir in der Nachfolge von Jesus die Möglichkeit haben, wieder ein Paradies auf Erden zu schaffen.
Der Angelpunkt des Christentums scheint bis heute der Tod von Jesus. Jesus kam aber zuerst einmal auf die Welt — durch eine Frau. Maria ist die grosse anwesende Abwesende.
Maria stellt das Christentum wie vielleicht keine andere Figur vor eine Herausforderung.
«Jesus, also letztlich Gott, wuchs in einem Uterus heran und kam durch einen blutigen Vorgang auf die Welt? Ein Skandalon für das Patriarchat!» Antje Schrupp
Warum dies?
Weil Maria die Menschlichkeit und das Geborensein von Christus vergegenwärtigt. Dass der Erlöser aus Fleisch und Blut ist und von einer Frau geboren wurde, ist ein Gedanke, der aus patriarchaler Perspektive schwerfällt. Jesus, also letztlich Gott, wuchs in einem Uterus heran und kam in einem blutigen, durch und durch fleischlichen Vorgang auf die Welt? Ein Skandalon für die Kirchenväter. Neulich las ich einen frühchristlichen apokryphen Text, da gibt es eine Stelle, wo Maria an sich runterschaut und staunt: Da ist ein Baby aus ihr rausdiffundiert, ohne dass sie etwas davon mitbekam! Das zeigt, wie schwierig es für die frühen christlichen Gemeinden war, den Gedanken von der leiblichen Geburt Gottes zu verarbeiten.
Man will sich das ja auch nicht bildlich vorstellen, dass Gott Maria begattet.
Und trotzdem wird die Geschichte so erzählt, dass es eine Frau brauchte, um das Heilsgeschehen in Gang zu bringen. Das ist doch schon erstaunlich – es hätte ja auch überliefert werden können, dass Jesus auf einer Wolke zur Erde schwebte. Oder einem Mann aus dem Kopf sprang. So ist es aber nicht. Im Gegenteil: Das Evangelium berichtet, dass Maria ausdrücklich darin einwilligt, Jesus zu empfangen und zur Welt zu bringen.
Gott sucht das Einverständnis von Maria?
Ja. Welcher allmächtige, superpatriarchale Gott würde das tun? Wenn Maria – wie es lange Zeit in der christlichen Tradition hiess – bloss eine ergebene Dienerin wäre, warum muss dann ausdrücklich überliefert werden, dass sie Ja gesagt hat? Doch wohl, weil es wichtig ist: Gott lässt Maria die Wahl. Sie hätte Nein sagen können. Sie hätte, wie alle Frauen, auch abtreiben können. Die Geburt des Erlösers hat nur stattgefunden, weil Maria dazu bereit war.
Dann steht Maria am Anfang des Christentums?
Und das ist grandios. Ich kenne jedenfalls keine andere Religion, die damit beginnt, dass ein Mensch Ja dazu sagt, dass Gott auf die Welt kommt. Bei den anderen theistischen Religionen ist Gott eher der grosse Zampano im Himmel, der über alles wacht und Regeln aufstellt. Nur im Christentum braucht es das Ja eines Menschen, einer Frau. Das macht das Christentum so interessant. Nicht nur für Feministinnen, sondern für alle. Das Schicksal ist in unserer Hand, wir können uns zu Gott in Beziehung setzen oder nicht. Weder ist alles vorbestimmt, noch ist alles Zufall. Packen wir es also an.
Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.
Joël Hunn arbeitet als Fotograf in Zürich.
Antje Schrupp: «Schwangerwerdenkönnen. Essay über Körper, Geschlecht und Politik». Ulrike-Helmer-Verlag, Sulzbach am Taunus 2019; 192 Seiten; 20 Franken.
Antje Schrupp wurde 1964 in Weilburg in Hessen geboren. Sie studierte Politologie, Philosophie und evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über politische Ideen von Frauen in der Ersten Internationalen. In den 1990er Jahren begann sie ihre publizistische Tätigkeit. Seit 2000 ist sie Redaktorin bei der Zeitung «Evangelisches Frankfurt und Offenbach», daneben schreibt sie regelmässig für die «Zeit» und die «FAZ» und betreibt den Blog «Aus Liebe zur Freiheit». Die «Süddeutsche Zeitung» zählte sie 2016 zu den fünf deutschen Feministinnen, die man kennen sollte. Zu ihren Themen gehören die Ungleichverteilung von Care-Arbeit, Fragen zur menschlichen Reproduktion sowie der interreligiöse Dialog. Ihr neuestes Buch handelt vom «Schwangerwerdenkönnen».