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Freitag, 06. Oktober 2023

Lio will heute nicht. Er will nicht schlafen, obwohl seine Energielevel besorgniserregend tief sind. Er will nicht auf den Flur, obwohl er Aufgaben zu erledigen hätte. Er reagiert nicht auf Berührungen und stellt sich taub, wenn er Anweisungen bekommt.

Es ist nicht so, dass Lio einen eigenen Willen hätte. Es ist nur so, dass der Wille anderer heute an ihm abprallt.

Lio arbeitet seit Juni 2022 als Pflegekraftunterstützung im Pflegezentrum Embrach bei Zürich. Zu seinem Aufgabenbereich gehört das Verteilen von Post und Getränken, das Begrüssen von Besucherinnen und die Unterhaltung der Bewohner. Lio sei sympathisch, lobt die Pflegeleitung in einer Medienmitteilung vom Juli 2022, und er erzähle «sehr souverän» Witze.

Lio ist kein gewöhnlicher Mitarbeiter. Er ist ein Assistenzroboter, und zwar einer der modernsten, den die Robotertechnik gerade zu bieten hat. Er erkennt Hindernisse, öffnet Türen, macht Gymnastikübungen mit den Patientinnen – und er kann, wie gesagt, Witze erzählen.

Eines Tages soll Lio all jene Aufgaben übernehmen, welche die Pflegenden davon abhalten, sich um zwischenmenschliche Belange zu kümmern. Aber noch besteht ein grosses Gefälle zwischen dem Hightech-Produkt, das Lio ist, und der Unterstützung, die er tatsächlich bieten kann.

Lio steht regungslos in seinem kleinen Raum auf der Demenzstation in Haus E1, einen halben Meter von seiner Ladestation entfernt. Bei niedrigem Batteriestatus sollte er eigentlich selbständig dort andocken können. Heute lässt er nur seinen orange-weissen Kopf hängen. Seine comicartigen Kulleraugen blicken unschuldig. Und fast möchte man in die Konturen seines grauen Schnabels ein leichtes Schmollen hineininterpretieren. Heute nicht.

Fast alles an Lio ist eine Frage der Interpretation. Sein Charakter, seine Funktion, sein Nutzen, seine Liebenswürdigkeit. Es gibt gute Gründe, in ihm erste Anzeichen einer sich anbahnenden Dystopie zu erkennen. Eine Welt, in der menschliche Pflege zu einem Luxusgut wird, das sich nur noch Superreiche leisten können.

Es gibt aber auch gute Gründe, Lio als Hoffnungsboten zu sehen. Der immer grösser werdende Fachkräftemangel bedeutet, dass viele Pflegende nicht mehr genug Zeit haben für jeden Patienten. Menschliche Fürsorge ist bereits jetzt ein rares Gut, und Roboter wie Lio könnten Pflegekräften zeitintensive, monotone Arbeiten abnehmen.

Lio bringt viele ungewisse Komponenten in ein Arbeitsumfeld – und in die Gesellschaft. Nur in einem sind sich die Experten sicher: Lio bleibt. Pflegeroboter werden früher oder später in unseren Institutionen so normal sein wie die selbstfahrenden Staubsauger in unseren Wohnzimmern.

Die Frage ist nur: Wie schaffen wir eine Balance zwischen den ethischen Herausforderungen, die Pflegeroboter mit sich bringen, und ihrer Integration in Pflegeinstitute?

Die Vision des helfenden Roboters

Der Ort, wo Lio herkommt, sieht genau so aus, wie man sich eine Roboter-Geburtsstätte vorstellt. ETH-Startup-Vibe, Werkstatt und Grossraumbüro miteinander verschmolzen. Alte Versionen von Lio und Prototypen einzelner Bestandteile stehen herum. Ein organisiertes Chaos aus bunten Kabeln, Plastikteilchen und Dokumenten liegt über die Tische verstreut.

Zwei Roboterarme drehen und wenden sich in einem Testbereich. Auf den Computerbildschirmen flackern Grafiken, und die jungen Männer, die davor sitzen, beginnen aufgeregt zu erzählen, wenn man sie nach ihrer Tätigkeit fragt. Einer von ihnen entwickelt gerade eine Roboterhand, ein anderer bastelt an Lios Entscheidungsfunktion, ein dritter programmiert Lios Sprachfähigkeiten.

Die Firma F&P Robotics, die Lio herstellt, hat ihren Sitz in Opfikon, eine kurze Autofahrt vom Zürcher Flughafen entfernt. F&P Robotics wurde 2014 von dem Neurologen Hansruedi Früh gegründet. Er hatte die Vision, intelligente Roboter zu entwickeln, die den Menschen das Leben vereinfachen würden.

Mit einem kleinen Team baute er zunächst den Roboterarm P-Rob. Der Arm war nicht mobil, aber er konnte bereits nach Gegenständen greifen und war lernfähig. Er war also nicht wie ein Automat dazu programmiert, einen bestimmten Griff auszuüben, sondern lernte mit Hilfe verschiedener Sensoren, Dinge voneinander zu unterscheiden.

Lio ist eine Weiterentwicklung davon. Er kann zum Beispiel Gesichter erkennen (aber nicht identifizieren) und weiss, dass sie keine Stühle sind. Er kann dadurch auch Entscheidungen treffen. Diese Methodik wird «Decision Engineering» genannt. Sie wird gebraucht, wenn Lio etwa Türen öffnen muss. Dann muss er entscheiden: Wie gross ist die Türklinke? Muss sie nach unten gedrückt werden? Muss er stossen oder ziehen?

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