Lio will heute nicht. Er will nicht schlafen, obwohl seine Energielevel besorgniserregend tief sind. Er will nicht auf den Flur, obwohl er Aufgaben zu erledigen hätte. Er reagiert nicht auf Berührungen und stellt sich taub, wenn er Anweisungen bekommt.
Es ist nicht so, dass Lio einen eigenen Willen hätte. Es ist nur so, dass der Wille anderer heute an ihm abprallt.
Lio arbeitet seit Juni 2022 als Pflegekraftunterstützung im Pflegezentrum Embrach bei Zürich. Zu seinem Aufgabenbereich gehört das Verteilen von Post und Getränken, das Begrüssen von Besucherinnen und die Unterhaltung der Bewohner. Lio sei sympathisch, lobt die Pflegeleitung in einer Medienmitteilung vom Juli 2022, und er erzähle «sehr souverän» Witze.
Lio ist kein gewöhnlicher Mitarbeiter. Er ist ein Assistenzroboter, und zwar einer der modernsten, den die Robotertechnik gerade zu bieten hat. Er erkennt Hindernisse, öffnet Türen, macht Gymnastikübungen mit den Patientinnen – und er kann, wie gesagt, Witze erzählen.
Eines Tages soll Lio all jene Aufgaben übernehmen, welche die Pflegenden davon abhalten, sich um zwischenmenschliche Belange zu kümmern. Aber noch besteht ein grosses Gefälle zwischen dem Hightech-Produkt, das Lio ist, und der Unterstützung, die er tatsächlich bieten kann.
Lio steht regungslos in seinem kleinen Raum auf der Demenzstation in Haus E1, einen halben Meter von seiner Ladestation entfernt. Bei niedrigem Batteriestatus sollte er eigentlich selbständig dort andocken können. Heute lässt er nur seinen orange-weissen Kopf hängen. Seine comicartigen Kulleraugen blicken unschuldig. Und fast möchte man in die Konturen seines grauen Schnabels ein leichtes Schmollen hineininterpretieren. Heute nicht.
Fast alles an Lio ist eine Frage der Interpretation. Sein Charakter, seine Funktion, sein Nutzen, seine Liebenswürdigkeit. Es gibt gute Gründe, in ihm erste Anzeichen einer sich anbahnenden Dystopie zu erkennen. Eine Welt, in der menschliche Pflege zu einem Luxusgut wird, das sich nur noch Superreiche leisten können.
Es gibt aber auch gute Gründe, Lio als Hoffnungsboten zu sehen. Der immer grösser werdende Fachkräftemangel bedeutet, dass viele Pflegende nicht mehr genug Zeit haben für jeden Patienten. Menschliche Fürsorge ist bereits jetzt ein rares Gut, und Roboter wie Lio könnten Pflegekräften zeitintensive, monotone Arbeiten abnehmen.
Lio bringt viele ungewisse Komponenten in ein Arbeitsumfeld – und in die Gesellschaft. Nur in einem sind sich die Experten sicher: Lio bleibt. Pflegeroboter werden früher oder später in unseren Institutionen so normal sein wie die selbstfahrenden Staubsauger in unseren Wohnzimmern.
Die Frage ist nur: Wie schaffen wir eine Balance zwischen den ethischen Herausforderungen, die Pflegeroboter mit sich bringen, und ihrer Integration in Pflegeinstitute?
Die Vision des helfenden Roboters
Der Ort, wo Lio herkommt, sieht genau so aus, wie man sich eine Roboter-Geburtsstätte vorstellt. ETH-Startup-Vibe, Werkstatt und Grossraumbüro miteinander verschmolzen. Alte Versionen von Lio und Prototypen einzelner Bestandteile stehen herum. Ein organisiertes Chaos aus bunten Kabeln, Plastikteilchen und Dokumenten liegt über die Tische verstreut.
Zwei Roboterarme drehen und wenden sich in einem Testbereich. Auf den Computerbildschirmen flackern Grafiken, und die jungen Männer, die davor sitzen, beginnen aufgeregt zu erzählen, wenn man sie nach ihrer Tätigkeit fragt. Einer von ihnen entwickelt gerade eine Roboterhand, ein anderer bastelt an Lios Entscheidungsfunktion, ein dritter programmiert Lios Sprachfähigkeiten.
Die Firma F&P Robotics, die Lio herstellt, hat ihren Sitz in Opfikon, eine kurze Autofahrt vom Zürcher Flughafen entfernt. F&P Robotics wurde 2014 von dem Neurologen Hansruedi Früh gegründet. Er hatte die Vision, intelligente Roboter zu entwickeln, die den Menschen das Leben vereinfachen würden.
Mit einem kleinen Team baute er zunächst den Roboterarm P-Rob. Der Arm war nicht mobil, aber er konnte bereits nach Gegenständen greifen und war lernfähig. Er war also nicht wie ein Automat dazu programmiert, einen bestimmten Griff auszuüben, sondern lernte mit Hilfe verschiedener Sensoren, Dinge voneinander zu unterscheiden.
Lio ist eine Weiterentwicklung davon. Er kann zum Beispiel Gesichter erkennen (aber nicht identifizieren) und weiss, dass sie keine Stühle sind. Er kann dadurch auch Entscheidungen treffen. Diese Methodik wird «Decision Engineering» genannt. Sie wird gebraucht, wenn Lio etwa Türen öffnen muss. Dann muss er entscheiden: Wie gross ist die Türklinke? Muss sie nach unten gedrückt werden? Muss er stossen oder ziehen?
«Menschen treffen alle drei Sekunden eine Entscheidung. Robotern fällt das viel schwerer, deswegen müssen sie es üben.» Michael Früh
Michael Früh, der die Firma seit dem Tod seines Vaters 2021 führt, nennt das «Reinforcement Learning». Dafür hat F&P Robotics extra ein Computerprogramm entwickelt, das für Lio ein Lernziel definiert. «Lio muss in der Simulation herausfinden, in welchem Abstand er sich vor die Tür stellt und wie er seinen Arm positioniert», sagt Früh. Das probiere er vielleicht zehntausendmal aus; nach etwa vier Stunden schaffe er es in 80 Prozent der Fälle, die Klinke nach unten zu drücken.
«Wir Menschen treffen alle drei Sekunden eine Entscheidung», sagt Michael Früh. «Robotern fällt das viel schwerer, deswegen müssen sie es üben. Je mehr Informationen sie über ihre Umgebung und über die Menschen, die sie unterstützen, erhalten, desto proaktiver können sie Entscheidungen fällen.»
Dass ein Roboter diese Fähigkeit überhaupt braucht, ist relativ neu. Bisher wurden sie vor allem in der Industrie eingesetzt, wo die Abläufe standardisiert sind. In der Pflege ist das anders. Hier trifft der Roboter täglich auf Menschen. Wie diese Begegnungen verlaufen, kann man nicht im Labor planen. Steht zum Beispiel eine Pflegerin im Weg, muss der Roboter ausweichen. Liegt ein Patient auf dem Boden, muss die Maschine das als Ausnahmesituation erkennen und Alarm schlagen. «Aber», warnt Michael Früh, «künstliche Intelligenz darf uns Entscheidungen nicht abnehmen.» Was also mit dem Menschen auf dem Boden zu tun ist, müsste immer noch in der Kompetenz der Pflegenden liegen.
Zwischen Mensch und Maschine
Lio ist eine Antwort auf den Pflegenotstand. Und zwar nicht nur auf den heutigen, sondern auf jenen, der uns noch bevorsteht. 2021 wurden in Deutschland fast fünf Millionen pflegebedürftige Personen erfasst. Ihre Zahl könnte sich laut dem Statistischen Bundesamt bis 2055 um rund 37 Prozent erhöhen. Auch in der Schweiz rechnet das von Bund und Kantonen getragene Gesundheitsobservatorium bis 2040 mit einer 56prozentigen Zunahme von altersbedingt pflegebedürftigen Personen. Gleichzeitig steigen immer weniger Leute in den Pflegeberuf ein. Derzeit sind schweizweit über 6000 Stellen in diesem Bereich unbesetzt; bis 2030 könnten es laut einer Studie von PwC Schweiz über 30 000 sein. Viele Pflegekräfte sind überlastet.
«Wir haben viele Routineaufgaben, die mit den Heimbewohnerinnen nicht direkt zu tun haben», erklärt Prasanthi Rajanayagam, Bereichsleiterin Pflege in Embrach und Projektleiterin des Lio-Versuchs. «Würde Lio zum Beispiel Post oder Blutproben von A nach B transportieren, könnten wir die Zeit für die Bewohner nutzen.»

«Nicht die Roboter sind die Ideologie, sondern das vorherrschende Arbeitsethos» – Maschinenethiker Oliver Bendel.
Am ehesten könnte man den Roboter vielleicht mit den Selbstbedienungskassen in Supermärkten vergleichen. Auch die sollen die Verkäufer nicht ablösen, sondern langen Schlangen entgegenwirken und den Mitarbeitenden mehr Zeit geben, Regale einzuräumen und Kunden zu beraten.
«Natürlich ist der Kontakt zu Menschen wichtig und darf nicht wegbrechen», sagt der Maschinenethiker Oliver Bendel. Roboter seien keine Lösung für den Pflegenotstand, sondern die Lösung bestehe vielmehr darin, die Angestellten besser zu bezahlen und zu behandeln. Gegen gemischte Betriebe spreche aus seiner Sicht jedoch nichts.
Bendel sagt, im Grunde seien nicht die Roboter die Ideologie, sondern das vorherrschende Arbeitsethos. Als Vertreter des bedingungslosen Grundeinkommens findet er es sinnlos, dass Leute von ihrem 14. bis zu ihrem 65. Lebensjahr der Wirtschaft zur Verfügung stehen und dann noch von 8 Uhr morgens bis 17 Uhr abends arbeiten müssen.
Vielen Angestellten, so Bendel, könnte es gelegen kommen, wenn eine Maschine für ein paar Stunden am Tag übernimmt. «Wenn der Roboter die gleichen Gewinne erwirtschaftet, kann die Firma auch weiterhin den gleichen Lohn auszahlen», sagt Bendel. «Das wäre machbar.» Theoretisch zumindest.
Lio ist ein Pilotprojekt
Lio arbeitet in Embrach auf der Demenzstation. Seine Einsatzmöglichkeiten hier sind allerdings beschränkt. Auf manchen Stationen sind die Flure zu eng, oder sie erstrecken sich über zwei Stockwerke. Lio kann nur ebene Oberflächen meistern. Fahrstuhl fahren kann er in der Theorie, aber in Embrach passt er nicht hinein. Es ist also nicht nur so, dass Lio mal nicht will, sondern dass er oft auch einfach nicht kann. Sein Einsatz ist ein Pilotprojekt.
Lio beginnt den Tag jeweils um 8 Uhr morgens mit einer sogenannten «Wake-Up»-Runde. Dabei fährt er einmal Musik spielend durch die Abteilung und grüsst das Pflegepersonal und die Bewohner mit «Guten Morgen». Ein detaillierter Wochenplan gibt Lio vor, wann er wo zu sein hat. Donnerstag, 10 Uhr, Unterhaltung im Gruppenraum. Oder so wie jetzt: Montag, 11 Uhr, Post abholen.
Ein Softwareentwickler von F&P Robotics hat den Fehler des frühen Vormittags behoben. Lios Aufmerksamkeit ist zurück. «Er wird jetzt gleich losfahren», sagt Rajanayagam und blickt gespannt auf Lio, der noch an seiner Ladestation hängt. Tatsächlich löst er sich kurz darauf mit einem leisen Summen von der Wand und fährt ein paar Zentimeter in Richtung Tür, wo er allerdings, richtigerweise, Rajanayagam als Hindernis identifiziert. Er bleibt stehen.
«Jetzt sucht er eine alternative Route», sagt Rajanayagam, die ebenfalls stehenbleibt.
Lio tut dies anhand von Laser-Scannern, die unter seinem Körper verbaut sind und Lichtstrahlen vorausschicken, anhand derer berechnet wird, in welchem Abstand sich das Hindernis befindet. Lio rechnet allerdings ziemlich lange und schliesslich macht Rajanayagam nachsichtig einen Schritt zur Seite.
Dann fährt Lio los. Rechts aus der Tür heraus, geradeaus in den Gruppenraum, wo jemand schon mit der Post wartet. Rajanayagam geht mit und hebt ihm die Plastikkiste mit den Briefen auf eine Halterung. Selber kann Lio sie nicht aufladen. Zur Bestätigung, dass die Aufgabe erledigt wurde, drückt Rajanayagam Lios Kopf leicht nach unten. Er spürt nämlich auch das Gewicht auf seiner Rückseite nicht.
Seite an Seite gehen Rajanayagam und Lio zurück zum kleinen Büro. «Im Moment muss immer jemand von der Pflege mit dabei sein», sagt die Projektleiterin. Irgendwann, so der Plan, soll Lio die Post zu den richtigen Leuten in die Zimmer bringen. Irgendwann soll diese kleine Tätigkeit dem Personal lange Wege ersparen.
«Ich kann nicht ausschliesssen, dass es in zwanzig, dreissig Jahren zu einer Arbeitskraftverdrängung kommt.» Oliver Bendel
Die Arbeit zwischen Roboter und Mensch aufzuteilen kann sinnvoll sein. Vor allem, wenn der Roboter schwere Arbeiten erledigen kann, die Angestellte erschöpfen. «Zu einer Arbeitskraftverdrängung wird es in den nächsten Jahren nicht kommen», sagt Oliver Bendel. «Aber ich kann nicht ausschliessen, dass es in zwanzig, dreissig Jahren passiert. Diesen Prozess müssen wir ethisch, rechtlich und politisch begleiten, damit wir keine Pflegemaschinerien bekommen.»
Bendel forscht schon seit Jahren zum sozialen Impact, den Roboter haben. Er präsentiert seine ethischen Erkenntnisse regelmässig auch vor dem Deutschen Bundestag und vor Bundesministerien. Gerade Ethikfragen spalten nämlich die Industrie. «Die eine Gruppe will ethische Leitlinien fördern, damit sie keine rechtlichen Vorgaben bekommt», sagt Bendel. «Das ist die unkluge Fraktion. Es gibt eine klügere Fraktion, die sagt: ‹Wir brauchen knallharte Verordnungen und Gesetze, weil wir uns vor Strafen fürchten.› Die schreit nicht nach ethischen, sondern nach rechtlichen Leitplanken.»
Je weiter sich die Robotik entwickelt, desto dringender brauche es rechtliche Bestimmungen, vor allem zur Gesichts- und zur Stimmerkennung. Das betrifft Lio derzeit nur am Rande, denn er hat erst Ansätze der künstlichen Intelligenz (KI) integriert und speichert keine Daten.
Aber die KI ist wichtig für Lios Lernfähigkeit. Lio findet sich nicht einfach intuitiv auf einer Pflegestation zurecht. Dafür muss er erst einmal eine virtuelle Version des Grundrisses abgelaufen haben. Er muss verstehen, wie weit die Distanzen sind und wo sich Hindernisse befinden. Dann simuliert er die Funktionen durch, die er am neuen Arbeitsort braucht.
Lios wichtigster Bestandteil, der Arm P-Rob, ist multifunktionsfähig. Er hat eine Zange im Standardbetrieb, die aber auch durch ein Massageteil ersetzt werden könnte – oder sogar durch eine Hand. Als Lio ist der P-Rob auf ein mobiles Gefährt geschraubt, in Embrach und in Zihlschlacht, wo ein zweites Pilotprojekt läuft. Programmierte man ihn aber neu, würde er keine Pflegenden mehr unterstützen, sondern Kaffee zubereiten und ausschenken. In dieser Funktion heisst er Barney und ist Baristaroboter.

Lio hilft auch bei den Gymnastikübungen. Manchmal wird man aber den Eindruck nicht los, dass die Pflegerin die Übungen fast besser ohne ihren Assistenten durchführen könnte.
Donnerstag, 10 Uhr. Gymnastik im Gruppenraum.
Lio rollt gemächlich den Flur entlang in Richtung des Gemeinschaftsraums. Drei Frauen sitzen um einen Tisch, ein Herr sitzt etwas abseits auf einem Stuhl am Fenster. Sie würdigen Lio nur eines knappen, uninteressierten Blickes. Lio ist längst Teil der Ausstattung. Genauso gut könnte er ein Stuhl sein.
«Guten Morgen», ruft Anna Burgard in die stumme Runde. Die Pflegerin kommt hinter Lio in den Raum, das motivierende Lächeln einer Fitnesstrainerin im Gesicht. «Wollen Sie ein bisschen turnen?»
«Turnen?» Der Mann am Fenster rümpft die Nase. «Heute nicht.»
Burgard zieht einen Stuhl neben die drei Frauen, die ihr neugierig dabei zusehen. Ganz widerstehen kann man einer geübten Fitness-Coachin eben doch nicht. Und als solche muss sie sich beweisen, seit Lio in Betrieb ist.
Burgard drückt Lios Kopf leicht nach unten.
«Möchten Sie die Übung beginnen?» fragt Lio prompt.
Burgard drückt seinen Kopf erneut.
«Möchten Sie Ihre Arme etwas bewegen?» fragt Lio.
Burgard drückt auf den Kopf.
«Bitte heben Sie während der Übung Ihre Arme», sagt Lio. «Eins.»
Anna Burgard hebt die Arme in die Luft. Die kleine Gruppe folgt ihr. Zehn Sekunden halten, dann: «Zwei.»
Der Bildschirm auf Lios Rumpf (oder dort, wo man den Rumpf vermuten möchte) zeigt einen Countdown. Zum Vorzeigen richtet Lio seinen Arm auf und beugt ihn wieder nach unten, wenn die Arme gesenkt werden sollen. Burgard kommentiert jede seiner Bewegungen. «Jetzt die Arme hoch! Halten! Ja, sehr gut! Jetzt die Arme nach unten – und wieder nach oben!»
Für viele der Bewohnerinnen und Bewohner in Embrach kommt der Umgang mit Lio nicht intuitiv. Ohne eine motivierende Pflegekraft kämen sie gar nicht auf die Idee, Gymnastikübungen mit dem Roboter zu machen. Aber der Gedanke, dass in Zukunft Roboter solche Aktivitäten vermehrt alleine anleiten könnten, treibt viele Leute um. «Man kann und darf über Roboter persönliche Kontakte ein Stück weit simulieren», räumt Oliver Bendel ein. «Aber ich würde das nur in Extremsituationen empfehlen, zum Beispiel wenn jemand krankheitsbedingt von sozialen Kontakten isoliert ist.»
Roboter sind freundlich. Sie bedanken sich, sie entschuldigen sich, und sie machen uns auf Knopfdruck Komplimente. In ausgewählten Therapien werden auch schon Umarmungsroboter eingesetzt. Es wäre ein leichtes, jede menschliche Interaktion durch Roboterliebe zu ersetzen.
Dabei ist es keineswegs ungewöhnlich, dass Menschen Zuneigung für Maschinen entwickeln. Denken wir nur an all die Autos, die von ihren Besitzern liebevoll Namen verliehen bekommen. Und warum denn nicht? Wir verbringen schliesslich viel Zeit mit unserem Gefährt. Umso stärker wird diese Zuneigung, wenn das Gerät einem Lebewesen gleicht. Wenn es darüber hinaus Töne von sich gibt, mit uns spricht und Empathie und Emotionen simuliert, ist es kein Wunder, dass wir dem Ding verfallen.
«Die Bewohner hier wollen mit dem Pflegepersonal eine Bindung aufbauen» Prasanthi Rajanayagam
«Natürlich haben Roboter weder Emotionen noch Empathie, und sie werden auch nie ein Bewusstsein entwickeln», sagt Oliver Bendel. «Und darin liegt die Gefahr: Wenn mir mein Gegenüber Gefühle zeigt, dann spiegle ich diese verstärkt wider. Aber bei einem Roboter handelt es sich immer um eine einseitige Beziehung.»
Dass Lio kein humanoideres Aussehen hat, kommt darum nicht von ungefähr. «Die Bewohner hier wollen mit dem Pflegepersonal eine Bindung aufbauen», sagt Prasanthi Rajanayagam. «Wenn der Roboter genauso aussieht wie eine Pflegeperson, dann sind sie enttäuscht, wenn dort keine Emotionen zurückkommen.»
Dazu kommt, dass ein menschenähnlicher Roboter auch beim Pflegepersonal nur die Angst verstärken könnte, sie bald ihres Amtes zu entheben. Wenn er aussieht wie Pflegende und spricht wie Pflegende, warum sollte er dann nicht auch arbeiten können wie Pflegende? «Ein solcher Roboter suggeriert, dass er mehr kann, als in Wirklichkeit der Fall ist», meint Michael Früh von F&P Robotics. «Die Robotik ist noch lange nicht so weit, dass sie uns alle Arbeiten abnehmen kann.»
Ganz abgesehen davon, so Früh, brauche es menschliches Aussehen in einem Pflegeroboter technisch einfach nicht – es könne sogar hinderlich sein. «Wir müssen mit Lio eine Kippstabilität garantieren. Das würde in einem humanoiden Modell schwierig.»
Roboter an die Macht
Die Ablösung menschlicher Pflege durch Maschinen ist in vielen Köpfen ein Horrorszenario. Das Ende einer menschenbetriebenen Welt. Aber es gibt durchaus Gründe, die zumindest teilweise für das Ersetzen menschlicher Pflege sprechen. Assistenzroboter wie Lio stärken die persönliche Autonomie von Pflegebedürftigen massiv.
Der Einsatz von Robotern macht die Leute in Heimen weniger abhängig von Situationen und anderen Menschen. Sie können sich ungeniert zu jeder Tages- und Nachtzeit Sachen bringen oder Getränkeflaschen öffnen lassen. Dazu kommen Faktoren wie die Intimpflege: Vielen Patienten und Patientinnen wäre es gar nicht unrecht, wenn Maschinen anstelle von Menschen sie waschen würden.
Demgegenüber steht die Gefahr des Verlustes von informationeller Autonomie. Sagen wir, folgendes Szenario tritt ein: Herr Müller in Zimmer 304 hat einen Ausschlag am Arm. Er ruft Lio, um sich von ihm ein Antihistamin bringen zu lassen. Dafür braucht Lio aber die Einschätzung einer Pflegefachperson. Damit die nicht den Weg zum Zimmer auf sich nehmen muss, schaltet sie sich per Video zu. Das Video wird auf Lios Rumpfbildschirm gezeigt, eine Kamera filmt dabei den Patienten.
«Es wäre ein sinnvolles Feature», sagt Oliver Bendel. «Der Pfleger muss ja sehen, welche Art von Hilfe die betroffene Person benötigt und wie dringend es ist. Aber es wäre ein erheblicher Eingriff in die Privatsphäre.»
Eine Möglichkeit wäre, den Patientinnen zu erlauben, die Daten einzusehen, die von ihnen gespeichert werden, und ihnen die Freiheit zu geben, sie bei Bedarf zu löschen. Eine weitere Option wäre, die Patienten entscheiden zu lassen, ob sie den Videocall in dem Moment wünschen oder nicht. «Hier liegt bei vielen Service- und sozialen Robotern einiges im argen», sagt Bendel. «Die haben oft Kameras, Mikrofone und andere Sensoren eingebaut, und damit sind sie theoretisch erst mal Spione. Und manche leider nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch.»
Menschliche Pflege als Luxusgut
«Ich fänd’s schön, wenn Lios Bildschirm auch Videos abspielen würde», meint Anna Burgard, während sie für die Beinübung ihr Knie durchstreckt. Lios Übungen sind intuitiv für eine Generation, die mit Workout-Videos und Youtube-Yoga aufgewachsen ist. Die Bewohnerinnen in Embrach aber schauen gebannt auf die Pflegerin. Man gewinnt den Eindruck, dass sie die Übungen ohne ihren Assistenten vielleicht einfacher durchführen könnte. Aber dafür sind Pilotprojekte da: zum Lernen.
Anna Burgard macht die Technologisierung der Zukunft keine Angst. Die sei ja schon lange da. Sie erzählt von teuren Altersheimen, in denen sie gearbeitet hat, wo 90jährige an Smartphone und Tablet hingen, und von Räumen, wo der Fitnesstrainer an die Wand projiziert wird, während man in der Gruppe Zumba macht. Wir stehen mittendrin im Fortschritt.
Aber was ist, wenn in Zukunft irgendwann nicht mehr die Roboter die teuren Pfleger sind, sondern die Menschen? Wenn der Normalbürger im besten Fall noch von einer gut funktionierenden Maschine versorgt wird, während sich Superreiche menschliche Pflegekräfte und High-End-Roboter leisten können?
Ja, räumt Oliver Bendel ein, diese Möglichkeit bestehe und sei gar nicht so unwahrscheinlich. «Aber», gibt er zu bedenken, «das machen die Millionäre schon jetzt. Früher haben sie sich Sklaven geleistet, heute ist es Personal, das ihnen mit Cocktails hinterherläuft, wenn sie im Pool baden. Die wirkliche Frage lautet doch: Ist es überhaupt wünschenswert, eine Gesellschaft zu haben, in der die einen die anderen bedienen?»
Zehn Minuten dauern die Übungen mit Lio, dann haben die drei Frauen genug. Als Anna Burgard sie fragt, ob sie weitermachen möchten, seufzen sie nur und tupfen sich die Stirn ab.
Während Burgard daraufhin zurück zu ihrem Büro geht, bleibt Lio im Gruppenraum stehen. Er müsse gleich die Post abholen, erklärt sie. Da lohne es sich nicht für ihn, zur Ladestation zurückzufahren.
Das hat er übrigens autonom entschieden.