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Illustration: Pascal Beck
Freitag, 30. September 2016

Unlängst tauchte in einer Bar meines Quartiers ein neues Bier auf. Calvinus Blanche, gebraut nach echter Genfer Tradition. Calvin, das Gesicht eines Modebiers? Etwas bizarr fand ich das schon, und auch der Reformator selbst schien wenig erfreut. Das gelbstichige, freudlose Konterfei auf dem Etikett zumindest blickte vehement an mir vorbei, als ich dann doch einen Schluck aus der Flasche probierte. Bitter schmeckte es wider Erwarten nicht. Am Geschmack des Biers konnte Calvins miese Stimmung also nicht liegen. Vielleicht mochte er mir beim Trinken einfach nicht zusehen. Denn Hand aufs Herz: Am Tresen der Bar hätten wir uns nicht viel zu sagen. Ein übler Antisemit soll er gewesen sein. Und glaubt man Max Weber, so trieb seine doppelte Prädestination Generationen von Gläubigen in verzweifelte Betriebsamkeit. Kumpel wären wir keine.

Aber vielleicht grämt Calvin ja gerade dies, dass er so ungeliebt und unverstanden durchs kulturelle Gedächtnis spukt, während Kollege Luther derzeit gerade zu «everybody’s darling» avanciert. Seit 2008 in Deutschland die Lutherdekade ausgerufen wurde, wird uns Luther in allen Formen, Farben und Aggregatzuständen schmackhaft gemacht: Luther, die niedliche Playmobilfigur; Luther, der Ansteckbutton; Luther, die Vollmilchschokolade; Luther, die Kaffeebohnenröstung. Gleich zwei deutsche Landeskirchen bringen Espressomischungen auf den Markt: «stark, würzig, erdig», so wäre Luther, wäre er ein Espresso, liess ein Württemberger Barista verlauten. Egal, so die Devise, dass Kaffee zur Zeit des Reformators in deutschen Landen noch weitgehend unbekannt war. Hauptsache, Luther schmeckt und bietet Unterhaltung.

Am buntesten treiben es die Wittenberger mit der Kommodifizierung ihres berühmtesten Kindes. Luthers Geburtsstadt hat sich in einen Europapark für Kulturtouristen verwandelt – und Luther in sein Maskottchen: Historische Re-enactments mit dem Reformator und seinem «forschen und selbstbewussten Weib Käthe» gibt es ab 220 Euro. Man kann aber auch mit Luther spazieren, mit Luther dinieren und mit Luther – oh nein, bitte nicht – in den Puff. Oder fast. Die Führung «Erotisches aus der Nacht» verspricht für nur 45 Euro ein pikantes Stelldichein mit einer Magd von Lucas Cranach, dem Porträtisten des Reformers. Als Highlight lockt das «heimliche Beobachten» dessen, was der Maler in seinem Atelierstüblein so auf die Leinwand bannt. Man ahnt, ein Stilleben ist es nicht. Und für die Kinder und jene Altherren, deren Kräfte diesem nächtlichen Ausflug nicht mehr standhalten, gibt es eine Tour zu den Schauplätzen von Luthers Wirken mit der Bimmelbahn. Für nur 8.50 Euro.

Stubenrein, beisst nicht, macht Spass

Bei gewissen Hunderassen, etwa dem Golden Retriever, spricht man von einem ausgeprägten «will to please». Damit gemeint ist die Charaktereigenschaft, um jeden Preis zu gefallen und sich dementsprechend anzupassen. Die deutsche Bundesregierung lässt jährlich Millionenbeträge springen, um dem Branding von Luther unter die Arme zu greifen und aus der Reformation einen kulturellen Exportschlager zu machen. Aber auch Bundesländer, Kirche, Kulturämter und die Europäische Union greifen tief in die Tasche: 50 Millionen Euro erhält das kirchliche Organisationsbüro in Wittenberg allein, um Luther für den «Megatrend Kultur» flottzumachen. Da ist grösstmögliche Gefälligkeit gefragt. Aus dem Kirchenmann soll so etwas wie ein gutmütiger Kumpel werden. Stubenrein, beisst nicht, macht Spass. Ein Botschafter für Deutschland als Tourismusziel solle Luther sein, so das Statement der Bundesregierung – und ein Testimonial für Deutschlands «religiöse Toleranz» und «Weltoffenheit». Dass grosse Teile der Bundesrepublik gerade dabei sind, sich auf ganz andere Werte als Frieden und offene Türen für alle zurückzubesinnen, passt da irgendwie nicht ganz ins Bild.

Es braucht aber auch nicht allzu viel Geschichtswissen, um zu ahnen, dass einiges an historiografischem Weichzeichner im Spiel ist, um aus Luther und Co. interkulturelle Mediatoren avant la lettre zu machen: Luther hatte es weder mit den Juden noch mit den Türken, er hielt Behinderte für Teufelskinder, er war dafür, Hexen den Garaus zu machen, und er hatte, höflich ausgedrückt, ein Flair für weltliche Obrigkeiten.

Zugegeben, ich habe mich beim Exkurs in die Wittenberger Touristikabteilung in der Schmuddelecke der Kulturindustrie herumgetrieben. Neben dem Marketing-Unfug gelangten durchaus lesbare und historisch angemessene Biografien, Bildbände und Dokumentationen zu den verschiedenen Kirchenmännern auf den Markt. Und auch kritische Stimmen haben sich zum Jubiläum hin erhoben. So weist der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann auf die dunkleren Seiten Luthers hin: Sein Judenhass wirkte bis weit in die Moderne und bot dem deutschen Antisemitismus theologische Nahrung. «Eine Leitfigur ist Luther mit Sicherheit nicht», gab Kaufmann gegenüber Deutschlandfunk zu bedenken. Vorbehalte gegen die staatlich gesponserte Luthermania äusserte auch die Linkspartei: Diese sieht Luthers politisch ungleich radikaleren Gegenspieler, den Bauernführer Thomas Müntzer, arg im Nachteil. Das Comeback des Revoluzzers lässt allerdings auf sich warten – zum zweiten Mal in der Geschichte hat Realo Luther die Nase vorn.

Von der Spassbremse zur sexy Marke

Während der Wittenberger Reformator zum nächsten deutschen Superstar avanciert, sitzt auch Zwingli noch in der Rehab. Das durchaus businessaffine Zürich zumindest hat ihn noch nicht recht für sich entdeckt, obwohl Kirche, Kanton und Touristiker fürs Jubiläum hier ebenfalls zusammenspannen. Tim Guldimann, der als Schweizer Botschafter in Deutschland das Makeover von Luther hautnah mitverfolgte, spricht im Tages-Anzeiger deshalb von einer «verpassten touristischen Chance». Allerdings braucht es auch einiges an kreativer Energie, um aus der sprichwörtlichen Spassbremse Zwingli eine sexy Marke zu kreieren.

Doch aufgepasst: Vielleicht gelingt dem Leutpriester der Einzug in die Populärkultur dann doch noch, denn pünktlich zum Jubiläum wird er zum Leinwandhelden in einem aufwendigen Historienfilm. Das von Kirche, Stadt und Kanton gesponserte Zwingli-Biopic verspricht Action, Sex and Crime: «Zwingli lebte in turbulenten Zeiten», so Drehbuchautorin Simone Schmid gegenüber bref. Die Schlacht bei Kappel dürfte spritzig ausfallen, und auch das eine oder andere leichte Mädchen dürfte der Reformator im Film vernaschen. Zwingli, so Schmid, sei eben alles andere als zwinglianisch: «Lebte er heute, so wäre er eine Mischung aus Christoph Blocher und Pfarrer Sieber.»

Was für ein Imagewandel, möchte man meinen. Doch an den Haaren herbeigezogen ist das Makeover nicht, denn bei der Drehbucharbeit liess sich die Jungautorin vom Zwingli-Experten Peter Opitz beraten. Die Mission des Zürcher Kirchenhistorikers: den Reformator von seinem spröden Image zu befrei[1]en. Der Leutpriester sei kein Machtpolitiker gewesen, sondern ein Berater; kein Kind von Traurigkeit, sondern ein Mann mit Humor, Sinn fürs Musische, Sprachgewalt und einem ausgeprägten Sinn fürs Soziale. Ein Mann des Volkes eben, durch und durch. Auf einem medial begleiteten Stadtrundgang wollte Opitz den Toggenburger Bauernsohn darum unlängst vom Sockel des Zwinglidenkmals stossen: Zu unnahbar erscheine er dort oben; «die Statue erzählt mehr über das Entstehungsjahr 1885 und den damaligen Heldenkult als über Zwingli in seiner Zeit», so Opitz gegenüber ref.ch.

Wohl wahr. Doch was für das Zwinglidenkmal gilt, das gilt ebenso für den Reformatorenhype: Geschichte ist auch heute noch Fiktion für die Gegenwart. Wehe also den Toten, denen ein Jubiläumsmarketing neues Leben einhaucht. Denn wenn Touristiker, Kirchen und Politik die Geschichte als Requisitenkammer plündern, kommt leider das dabei heraus: ein Luther zum Anknabbern, ein Zwingli zum Gernhaben und eine Reformation zum Miterleben.

Dann doch lieber Calvin

Ja, ich weiss, es ist aussichtslos, sich gegen die kommerzielle Banalisierung der Geschichte zu sträuben. Das Image ist eben die Botschaft, egal wie gross Fiktion und Fakten auseinanderklaffen. Und vielleicht bleibt einer Kirche, die 500 Jahre nach ihrer Entstehung um ihre gesellschaftliche Relevanz bangt, gar nichts anderes übrig, als uns ihre Gründer schmackhaft zu machen und ihre Reformation mit dem Gütesiegel «Kulturerbe» anzupreisen. Aus Luther wird da eine Euromaus und aus Zwingli der Toni Brunner. Mir allerdings ist der Griesgram Calvin lieber. Freunde werden müssen wir deswegen ja trotzdem nicht.

Susanne Leuenberger ist Redakteurin bei bref.