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Freitag, 16. Februar 2018

Rana Alsoufi, Amir Dziri, Sie beide lehren nun seit einem Semester in der Schweiz. Mit welchem Wort würden Sie Ihre bisherigen Erfahrungen beschreiben?

Alsoufi Geduld. Das ist das erste, was ich an der Universität Luzern gehört habe: Ich müsse geduldig sein.

Mit wem müssen Sie Geduld haben?

Alsoufi Mit mir selbst! Wir sind daran, ein Zentrum für komparative Theologie aufzubauen. Mein Job ist es, die islamische Theologie einzubringen. Ein solches Projekt gibt es noch nicht in der Schweiz. Meine Kollegen sagen mir: Sei geduldig. Lass dir Zeit. Vieles muss ich noch lernen.

Was zum Beispiel?

Alsoufi Es ist das erste Mal, dass ich an einer theologischen Fakultät arbeite und islamische Theologie unterrichte. Vorher habe ich mich stärker mit islamischem Recht beschäftigt. Alle Kurse, die ich unterrichte, gebe ich in dieser Form zum ersten Mal.

Was ist Ihr Stichwort für Ihre erste Zeit, Herr Dziri?

Dziri Offenheit, würde ich sagen. Viel schauen, viel lernen, viele Gespräche führen, einfach mal die eigenen Vorstellungen zurückstellen und offen sein für das, was mir entgegenkommt. Am Anfang war ich zum Beispiel sehr überrascht von der Höflichkeit der Schweizer. Die Menschen an der Uni Freiburg haben mich sehr freundlich empfangen.

Sie beide haben zuvor in Deutschland gelebt und gearbeitet. Gibt es Unterschiede, wie die Schweiz mit dem Islam und den Muslimen umgeht?

Alsoufi Mein Eindruck ist, dass die Muslime hier weniger Thema sind als in Deutschland.

Dziri Das würde ich nicht so sehen. Der Islam ist in der Öffentlichkeit durchaus ein Thema. Aber der Unterschied ist, dass die Muslime in Deutschland besser organisiert sind. Das macht sie präsenter – man begegnet sich dadurch öfter partnerschaftlich. Hier in der Schweiz ist es mehr so, dass man zwar über den Islam und die Muslime redet, aber die schwierigen Themen nicht gemeinsam diskutiert.

Sind Sie persönlich Vorurteilen begegnet?

Alsoufi Nein, ich hatte einen sehr guten Einstieg. Die ersten vier Wochen in Luzern habe ich in einem Kloster mit Nonnen zusammengewohnt. Wir sprachen jeden Abend beim Essen über den Islam, über Jesus und Mohammed. Die Schwestern hatten nicht viel Vorwissen, waren aber sehr neugierig und stellten viele Fragen. So wollten sie zum Beispiel wissen, was es mit der Burka der Touristinnen auf sich hat.

«Schauen Sie: Ich kenne gläubige Muslime, die sind sehr liberal und leiten ihre emanzipativen Werte aus ihrem Glauben ab. Und ich kenne Muslime, die sind säkular eingestellt und trotzdem Sexisten.» Amir Dziri

Für die Schweiz ist es ein Novum, dass Sie beide als Muslime Professuren für islamische Theologie und islamische Studien einnehmen. Warum ist das erst jetzt der Fall?

Alsoufi In Deutschland und Grossbritannien gibt es seit einigen Jahren islamische Theologie und Lehrgänge für Islam an der Uni. Es ist dort seit längerem so, dass Muslime sich akademisch mit dem Islam auseinandersetzen. Hier ist das tatsächlich eher neu.

Dziri Es gibt einen wachsenden Bedarf, sich mit Fragen des Islams auseinanderzusetzen, was auch ein Zeichen für den Prozess der Beheimatung ist. Lange waren Muslime kaum sichtbar. Das beginnt sich nun zu ändern, vor allem in städtischen Zentren wie Bern oder Zürich. Es gehört zur Integration, dass Muslime ihre Religion als Akademiker reflektieren, lehren und studieren können – und dies in einem Schweizer Kontext.

Theologie ist heute ein Nischenfach. Warum braucht es nun auch noch die islamische Perspektive?

Alsoufi Es ist wichtig, dass die islamische Theologie in einen Dialog mit dem Judentum und dem Christentum tritt. Es geht auch darum, die gemeinsame Geschichte der abrahamitischen Religionen zu erforschen. Eine komparative Theologie, wie wir sie in Luzern aufbauen, hat aber nicht nur einen akademischen Zweck. Es geht auch um die Integration der Muslime.

Wie das?

Alsoufi Zum einen geht es um die Anerkennung: Wenn man Islam an einer Schweizer Universität studieren kann, ist das ein starkes Signal. Zum anderen wissen die Muslime selbst, auch die praktizierenden, nicht viel über die islamische Theologie und ihre Entstehung. Die Praxis steht im Vordergrund. Erfreulicherweise beginnt sich das nun langsam zu ändern. Institute wie die in Luzern oder Freiburg können diese Entwicklung fördern.

Was hilft es Muslimen, wenn sie mehr über islamische Theologie wissen?

Alsoufi Es erweitert ihren Horizont. Es gibt schliesslich nicht die eine dogmatische Theologie im Islam. Ein Beispiel dazu: Im Koran ist die Rede davon, dass Gott auf einem Thron sitzt und Hände hat. Die Gelehrten diskutieren darüber, ob das buchstäblich zu verstehen ist oder in einem übertragenen Sinn. Im Laufe der Zeit haben sich unterschiedliche Perspektiven darauf entwickelt. Dafür möchte ich das Bewusstsein schärfen.

Amir Dziri

Konkret: Kann man mit islamischer Theologie wirklich Integration betreiben? Heute wünschen sich viele, dass die Muslime weniger religiös wären. Der Islam steht für Patriarchat, Terror und Fundamentalismus.

Dziri Ich glaube, genau diese Vorstellung ist ein Missverständnis, wenn es um Religion und Integration geht. Alle sprechen über den Islam, alle sprechen über Muslime. Aber es geht dabei selten um religiöse Fragen, um Glaubensfragen, sondern um soziale und politische Kategorien – und es wird viel mit Stereotypen operiert.

«In Tunesien erben Töchter seit Kurzem gleich viel wie Söhne. Viele Frauen in anderen muslimischen Ländern sagten: Wow, wenn die Tunesierinnen das schaffen, dann können wir das vielleicht auch.»
Rana Alsoufi

Was ist falsch an Stereotypen? Immerhin helfen sie, die Welt zu verstehen.

Dziri Das stimmt schon. Aber Stereotype sollen sich der Wirklichkeit annähern und nicht umgekehrt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eine Bekannte von mir ist Iranerin, sie hat schwarze Haare und dunkle Haut. Wenn sie in einer Bäckerei ein Sandwich kaufen will, sagt die Verkäuferin zu ihr, dass da aber Schinken drin sei. Und meine Freundin meint: «Ja, ich weiss. Ich liebe Schinken.» Das ist natürlich ein eher harmloser Fall. Aber es zeigt, wie sehr die Wahrnehmung des Islams und der Muslime festgefahren ist. Meine Bekannte ist automatisch die Muslimin, die kein Schweinefleisch isst – ob sie das will oder nicht. Und so wird auch der Islam als Religion automatisch mit gewissen Vorstellungen wie Patriarchat, Radikalität oder Terror verbunden.

Dennoch — manche dieser Vorstellungen sind nicht ganz falsch.

Dziri Das streite ich nicht ab. Es gibt im Islam problematische Vorstellungen und fragwürdige Einstellungen unter Muslimen. Aber meine Wahrnehmung ist die, dass beispielsweise Genderfragen innerhalb der muslimischen Communities intensiv diskutiert werden. Die Muslime sind keine einheitliche Masse, weder hier in Europa noch in der muslimischen Welt. Schauen Sie: Ich kenne gläubige Muslime, die sind sehr liberal und leiten ihre emanzipativen Werte aus ihrem Glauben ab. Ich kenne aber auch gläubige Muslime, die sind Chauvinisten und leiten das aus ihrem Glauben ab. Und ich kenne Muslime, die sind säkular eingestellt und trotzdem Sexisten.

Alsoufi Hier im Westen gibt es die Vorstellung, dass alle Muslime sehr patriarchal seien. Im Vergleich zu westlichen Gesellschaften mag das in der Tendenz stimmen, aber es gibt grosse Unterschiede innerhalb der muslimischen Communities. Die Geschlechterordnungen in Indonesien sind anders als in Saudiarabien. Das hat mit der politischen Realität zu tun, mit kulturellen Fragen – und mit der Bildung.

Sehen Sie denn Fortschritte, was die Gleichstellung von Mann und Frau in muslimischen Gesellschaften betrifft?

Alsoufi Zum Teil. Ein Vorbild in Sachen Gleichberechtigung ist Tunesien, wo kürzlich das Erbrecht geändert wurde. Töchter erben dort nun gleich viel wie Söhne. Bis vor einem Jahr war das unvorstellbar. Da erbten Töchter nur die Hälfte dessen, was den Söhnen zustand. Das hatte mit der traditionellen Unterhaltspflicht der Männer gegenüber den Frauen zu tun. Viele Frauen in anderen muslimischen Ländern haben daraufhin gesagt: Wow, wenn die Tunesierinnen das schaffen, dann können wir das vielleicht auch.

Die 35jährige Jordanierin studierte in Irbid islamisches Recht und erhielt danach ein Stipendium, um in Aberdeen und Edinburgh ihr Studium weiterzuverfolgen. Hier kam sie mit der historisch-kritischen Methode der Religions- und Islamwissenschaft in Berührung. Sie bezeichnet es als «kulturellen Schock»: «Als islamische Juristin habe ich das Licht einer Taschenlampe auf eine bestimmte Stelle im Koran gerichtet und gelernt, auf welche Art und Weise sie zu interpretieren ist. Als ich nach Europa kam, wurde im Raum Licht gemacht. Erst hier lernte ich den gesamten Kontext kennen.»

Ab 2015 forschte und lehrte Alsoufi an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit Herbst 2017 ist sie als Assistenzprofessorin für Islamische Theologie in Luzern tätig. Mit ihren Kollegen baut sie dort das schweizweit erste Zentrum für komparative Theologie auf.

Zurück in die Schweiz. Was diagnostizieren Sie, wenn es um den Islamdiskurs geht?

Dziri Es gibt in der Religionswissenschaft den Ausdruck der «religious illiteracy». Wir haben als Individuen und als Gesellschaft die Kompetenz verloren, religiöse Phänomene zu deuten und richtig einzuordnen. Das führt zu verkürzten Vorannahmen. Wir können nicht unterscheiden, was politisch ist, was sozial, was kulturell und was ein Ausdruck des Religiösen – und natürlich: Muslime machen es einem oft nicht gerade einfach, das zu erkennen.

Hat Religion nicht ohnehin immer mit Politik, Kultur und Gesellschaft zu tun?

Dziri Ja, das schon. Aber genau darum müssen wir ein besseres Sensorium für genuin religiöse Themen entwickeln. Es geht darum, die eigenen Positionen selbstkritisch zu überdenken. Das gilt für die muslimischen Gemeinschaften, aber eben auch für die breite Öffentlichkeit. Wir leben in einer religiös pluralen Gesellschaft, da braucht es vor allem Vermittlung.

Das sehen nicht alle so. Es gibt politische Kräfte, die an Dialog auf Augenhöhe nicht interessiert sind beziehungsweise den Islam nicht als Teil der Schweizer Gesellschaft akzeptieren wollen.

Dziri Das ist tatsächlich der Fall. Momentan sehe ich die Gefahr, dass man die Glaubensfreiheit der Muslime einschränkt, statt sich auf einen Dialog einzulassen.

Der 33jährige ist der erste Professor für Islamische Studien der Schweiz. Er wurde in Tunis geboren und wuchs in Deutschland auf. Von 2011 bis 2017 forschte und lehrte Dziri am Zentrum für islamische Theologie der Universität Münster. Seit September 2017 leitet er gemeinsam mit Hansjörg Schmid das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg, das 2015 auf Anregung des Bundesrats als schweizweites Kompetenzzentrum gegründet wurde.

Bereits im Vorfeld der Eröffnung sorgte das SZIG für Kontroversen. Vertreter der lokalen SVP wollten das Zentrum verhindern und warfen ihm wiederholt vor, eine «Radikalenschleuder» zu sein. Tatsächlich jedoch lancierte das SZIG mehrere Projekte im Bereich von Forschung und Weiterbildung, die darauf zielen, Radikalisierungsprozesse unter jungen Muslimen zu verhindern — darunter die Projekte «Muslimische Organisationen als gesellschaftliche Akteure» (seit 2016) und «PositivIslam» (seit 2017).

Woran machen Sie das fest?

Dziri Vor allem im Hinblick auf die religiöse Praxis oder die religiöse Kleidung. Dort gibt es Tendenzen, jene stärker zu reglementieren. Auch das Minarettverbot ist ein Beispiel dafür. Hier droht langfristig die Gefahr, den Menschen unterschiedliche Grund- und Freiheitsrechte zuzugestehen.

Auch muslimische Islamkritiker argumentieren, dass der Islam sich zuerst aufklären muss, um in unsere Gesellschaft zu passen.

Dziri Viele sehen das so. Ich kann dieser Position auch einiges abgewinnen. Diese Kritik an der islamischen Zivilisation – also dass sie sich aufklären und säkularisieren muss, um in der Moderne anzukommen – gibt es allerdings seit gut 150 Jahren. Das ist insofern nichts Neues. Kritiker wie Bassam Tibi oder Hamed Abdel-Samad stellen Missstände in der syrischen beziehungsweise ägyptischen Gesellschaft fest und machen den Islam dafür verantwortlich. Als ob die orientalische Welt in einem Wurmloch gefangen wäre.

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Ist diese Kritik denn so falsch?

Dziri Sie ist mir zu simpel und zu konfrontativ. Und ich habe Zweifel an ihrer sachlichen Korrektheit. Es ist ja nicht so, dass die islamische Welt nie säkular gewesen wäre. Nehmen Sie die antireligiöse, sozialistische Baath-Partei in Syrien oder die laizistische Türkei unter Atatürk. Ich glaube nicht, dass die Probleme der orientalischen Welt nur mit der Religion zu tun haben. Denken Sie sich den progressivsten Islam, der überhaupt vorstellbar ist – glauben Sie, die Probleme dieser Gesellschaften würden mit einem Mal verschwinden?

Ist dem Islam überhaupt noch zu helfen? Der deutsch-iranische Publizist Navid Kermani sieht im modernen politisierten Islam einen geistigen und spirituellen Bruch mit der früher reichen islamischen Tradition.

Dziri Da hat er einen Punkt. Der Islam war früher sehr vielfältig. Heute wird alles durch die ideologische Brille betrachtet – man ist entweder voll für oder voll gegen den Islam. Fundamentalistische und politisierte Strömungen haben grosse Teile der Tradition zerstört.

Was ist die Lösung, um aus diesem Kampf der Kulturen rauszufinden?

Dziri Ich habe keine pfannenfertige Lösung parat. Es gibt nichts anderes als Reflexion über die eigene Geschichte und die Gegenwart, das Gespräch und gesellschaftliche Kommunikation. Auch Muslime sind in erster Linie Menschen derselben Welt, die sich um die Probleme des Planeten kümmern sollten. Es bringt nichts, in der eigenen Scholle zu verharren. Es braucht neue Arten, wie wir über gemeinsame gesellschaftliche Ziele diskutieren. Als Bürger einer Gesellschaft, als Bewohner dieser einen Erde.

Rana Alsoufi

Wie könnte das konkret aussehen?

Dziri Ein gutes Beispiel ist die #metoo-Debatte. Da wurden global, unabhängig von Religion und Ethnie, Sexismus und Machtmissbrauch angeklagt. Auch viele liberale Muslime und muslimische Feministinnen beteiligten sich daran. So können neue Allianzen entstehen.

Alsoufi Auch in der Theologie gibt es Aufbrüche. Der verstorbene algerische Philosoph und islamische Gelehrte Mohammad Arkoun entwickelte als einer der ersten eine kritisch-vernünftige Perspektive auf den Islam.

Wie sieht diese aus?

Alsoufi Arkoun suchte nach einer modernen Auslegung des Korans. Dazu benutzte er zeitgemässe Methoden der Textanalyse. Er fragte sich: Wie sollen Muslime heute den Koran lesen? Wie lässt sich ein historisch-kritisches Verständnis der Geschichte und Entstehung des Islams mit dem Glauben vereinbaren? Er wollte den Islam anschlussfähig machen an die Gegenwart. Diese Fragen beschäftigen heute viele muslimische Intellektuelle im Westen.

«Wenn mir jemand sagt, das sei so, weil es im Koran stehe, dann antworte ich: ‹Zeig mir das.› Meiner Familie wird das manchmal fast zu viel.»
Rana Alsoufi

Und in der islamischen Welt?

Alsoufi Das ist schwierig zu sagen. Noch gibt es nicht viel Austausch zwischen den traditionellen Institutionen in der islamischen Welt und dem Westen. Dazu kommt: Die Muslime in Jakarta oder Amman haben auch ganz andere politische und gesellschaftliche Herausforderungen als hier in Zürich oder Luzern. Sie kämpfen mit Diktatur und Traditionalisten. Ich merke das, wenn ich selber nach Hause zurückkehre.

Inwiefern?

Alsoufi Ich habe ganz andere Einstellungen zu theologischen Fragen, als ich sie hatte, bevor ich Jordanien verliess. Wenn ich mit Bekannten über Religion oder die Gesellschaft diskutiere und jemand mir sagt, das sei so, weil es im Koran stehe, dann antworte ich: «Zeig mir das.» Oftmals steht das Gesagte gar nicht dort oder dann erkläre ich, dass man das auch anders interpretieren kann. Meine Familie sagt dann: Du hinterfragst alles. Manchmal ist es ihnen fast zu viel.

Sie haben als Islamexperten über den Islam gesprochen. Zum Schluss: Wie haben Sie es eigentlich persönlich mit der Religion?

Alsoufi Mein Verständnis von Religion hat sich verändert. Wenn mich heute muslimische Freunde oder Verwandte fragen, warum ich kein Kopftuch trage oder nicht praktiziere, dann antworte ich nicht: «Eines Tages mache ich das vielleicht.» Ich sage einfach: «Ich stehe zu meiner Überzeugung.»

Haben Sie den Schleier getragen, als Sie in Jordanien lebten?

Alsoufi Nein. Aber ich schäme mich heute nicht mehr dafür und lasse mich nicht mehr in Frage stellen. Ich bin gläubig, ich bin Muslimin, aber ich habe meine eigene persönliche Beziehung zu Gott.

Was ist das Wichtigste am Glauben?

Alsoufi Mein Glauben ist eine Frage meiner Erfahrung. Ich bin zwar in eine muslimische Familie hineingeboren und habe meine Religion nicht gewählt. Doch auch wenn ich als Muslimin aufgewachsen bin, soll mein Glauben meine Wahl sein. Mein Glaube muss erfüllend sein. Wenn er das nicht ist, verliere ich ihn.

Dziri Ich mag an der Religion, dass sie bleibende Fragen stellt. Es sind diese ganz grossen Fragen, die Fragen nach dem Sinn, die einen überkommen, egal, ob man an einen Gott glaubt oder nicht.

«Viele Menschen haben ein Misstrauen gegen das Kollektive. Man fürchtet das Vereinnahmende und das Konforme. Das ist vielleicht ein Denkfehler der individualistischen Moderne.»
Amir Dziri

Und ich beschäftige mich gerne mit der Frage, welche Aufgabe persönliche Religiosität hat und welche Aufgabe sie für die Gemeinschaft hat.

Das ist ein sehr analytischer Ansatz.

Dziri So gehe ich eben an die Dinge ran, das hört auch bei der Religiosität nicht auf. Aber doch dies: Ich bin wie Rana eher Individualist. Es gibt Menschen, die brauchen die Gemeinschaft, die Zugehörigkeit. Ich gehöre nicht unbedingt dazu.

Sie haben beide ein sehr privates Verständnis von Religion — schon fast ein reformiertes. Doch ist nicht die «umma», die Gemeinschaft, ein wichtiges Element des Islams?

Dziri Ich spreche hier als Soziologe: Der Glaube wird immer individueller. Auch für viele Muslime. Viele Menschen haben ein Misstrauen gegen das Kollektive. Man fürchtet das Vereinnahmende und das Konforme. Das ist vielleicht ein Denkfehler der individualistischen Moderne. Denn Gemeinschaft könnte auch Lernen von Diversität und Solidarität bedeuten, und einen Ausweg aus der Isolation. Ich habe den Eindruck, dass heutzutage unsere sozialen Kompetenzen sehr gering worden sind.

Sollten wir wieder mehr in der Gemeinschaft glauben?

Dziri Es gibt keinen Königsweg zwischen Gemeinschaft und Individualität. Jedes Leben ist ein Prozess. In dem Moment, wo ich aufhöre, mich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, entsteht Verkrustung. Dann ist man tot. Das kann einer Gemeinschaft passieren, das kann aber auch einem Individuum geschehen. Offenbleiben ist die grosse Aufgabe, und das hört nicht auf bei Ethnien, Religionen oder Kulturen.