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Freitag, 16. August 2019

Herr Ghandour, in Ihrem Buch schreiben Sie unverblümt von homosexuellem Sex, pornografischer Literatur und Freudenhaus-Besuchen. All dies soll unter Muslimen lange Zeit gang und gäbe gewesen sein. Wollen Sie damit einfach provozieren?

Nein, das wäre mir zu billig. Mit meinem Buch will ich zeigen, dass die Muslime gegenüber der Erotik und dem Körper lange Zeit einen sehr offenen Umgang pflegten. Scham und Verurteilung kannten sie nicht. Der Prophet sagte sogar einmal: Wer Sex hat, der feiert Gottesdienst.

Allah hat also kein Problem mit Sex?

Überhaupt nicht! Als gläubiger Muslim sage ich jedem, der es hören will: Ich liebe Allah, und ich liebe den Sex. Allah hat uns als Menschen mit Lust geschaffen. Sie ist ein Geschenk von Gott.

Sex und Lust ist nicht gerade das erste, was einem beim Stichwort Islam einfällt.

Die Prüderie und die rigiden Ansichten zu Sex, die viele Muslime heutzutage an den Tag legen, sind eine ziemlich neue Erscheinung. Diese kam mit der Moderne, als man die Tradition durch neue Ideologien ersetzte. Die jahrhundertealten muslimischen Kulturen, zu denen auch die Erotik gehörte, gingen dabei verloren.

Warum macht man als Religionsforscher das Liebesleben der Muslime zum Thema?

Das war keine Wahl, sondern Zufall. Normalerweise forsche ich zu Mystik und Normenlehre. Während meiner Arbeit stiess ich aber immer wieder auf erotische Literatur aus der muslimisch geprägten Welt und war begeistert von ihrer Vielfalt. Darüber wollte ich einen Aufsatz schreiben, daraus wurde eine kleine Abhandlung – und mittlerweile habe ich nun ein ganzes Buch darüber geschrieben. Aber wenn ich es mir so überlege, dann wurde mein Interesse am Thema schon viel früher geweckt. Genauer: in Casablanca. Dort wuchs ich auf.

Erzählen Sie.

Ich war 14 oder 15 und stöberte in der Bücherwand meines Vaters – er ist Rechtsanwalt und verfügt über eine grosse Bibliothek. So stiess ich auf die Schrift eines Rechtsgelehrten aus dem 16. Jahrhundert. Auf dem Buchrücken las ich: Die Rückkehr des Greises zur Potenz seines Jugendalters. Das weckte meine Neugier – und prompt fand ich darin pornografische Geschichten und Anleitungen für besseren Sex.

Und, was war Ihre Reaktion?

So, wie Heranwachsende halt reagieren: Ich konnte nicht davon ablassen, es mir anzuschauen. Gleichzeitig war ich nervös und verwirrt.

Haben Sie Ihren Vater darauf angesprochen?

Wo denken Sie hin! Wer will in dem Alter schon mit dem eigenen Vater über Sex reden? Rückblickend weiss ich, dass ich problemlos mit ihm hätte darüber sprechen können. Mein Vater kommt aus der linken Studentenbewegung und ist ein aufgeschlossener Mensch.

Sie stiessen bei der Recherche für Ihr Buch auf eine Fülle erotischer Literatur. Was fanden Sie da genau?

Da waren Anleitungen zur Luststeigerung darunter, ebenso homoerotische Gedichte, Traktate und Ratgeber für verschiedene Sexpraktiken und Stellungen beim Akt. Weiter stiess ich auf Handbücher für Leute, welche die Absicht hatten, einen Sexsklaven oder eine Sexsklavin zu kaufen. Ab dem 10. Jahrhundert gab es beispielsweise in Bagdad mehrere Märkte, auf denen junge Frauen und Männer feilgeboten wurden. Der Autor wägt im Buch sorgfältig die Vorzüge und Nachteile des Angebots ab.

«Sex wurde als nichts Beschämendes begriffen – darum musste er auch nicht so kontrolliert werden. Dies ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie ­anders die vormodernen Muslime lebten und liebten.»

Wie muss man sich so einen Markt vorstellen?

Dort verkauften spezialisierte Händler Menschen, die in der Regel keine Muslime waren. Es gab Frauen aus Afrika und solche aus Turkstämmen, die damals noch nicht zum Islam übergetreten waren. Man konnte aber auch slawische Frauen erwerben, die vorab von Wikingern auf ihren Beutezügen geraubt worden waren. Die waren wegen ihrer hellen Haut, den blonden Haaren und den blauen Augen äusserst beliebt. Das galt ebenso für die Sexsklaven, wobei dort auch eine grosse Nachfrage nach Männern ohne Bartwuchs oder Eunuchen herrschte.

Frauen kauften Männer?

Es waren eher Männer, die Männer kauften. In diesem ganzen Schrecken stiess ich aber auch auf Überraschendes. So las ich davon, dass es Sexsklavinnen gab, die hoch geschätzt wurden und in den Genuss von literarischer, theologischer und musikalischer Bildung kamen, vergleichbar mit Kurtisanen oder Geishas.

Wer Ihr Buch liest, muss zum Schluss kommen, dass die Muslime von gestern alle ein Leben ohne Reue und Verzicht führten. Ist das glaubhaft?

Natürlich nicht so absolut. Immerhin blicken wir auf mehr als 1400 Jahre Geschichte in unterschiedlichsten Räumen zurück. Es gab auch Gemeinschaften mit strengeren Sitten, etwa auf dem Land und unter den Beduinen. Ich habe vor allem städtische Kulturen untersucht. In diesen urbanen Milieus herrschte für damalige Verhältnisse Offenheit, was Erotik und Sex anbelangt. Die Muslime in Bagdad, Kairo oder Istanbul pflegten eine Liebeskunst, ähnlich wie wir sie von den späten Römern oder aus Indien und Japan kennen.

Schritten da die Religionsgelehrten nicht ein?

Es hat mich erstaunt, wie wenig die Gelehrten eingriffen. Selbst bei Praktiken, die das muslimische Recht als verpönt einstuft oder gar verbietet – so etwa beim Analverkehr unter Männern oder bei der Prostitution –, scheint eine erstaunliche Toleranz geherrscht zu haben. Übertretungen wurden selten geahndet. Man findet fast keine angewandten Körperstrafen zu sexuellen Vergehen.

Haben Sie eine Erklärung für diese Milde?

Zum einen war die Macht der Gelehrten beschränkt. Die Kultur, die ich beschreibe, war in gehobenen Kreisen zu finden. Besuchte die Oberschicht Freudenhäuser oder Hamams, um sich mit Frauen oder jungen Männern zu vergnügen, dann waren den Gelehrten die Hände gebunden. Der weitaus wichtigere Grund ist aber, dass der Sex einfach nicht so argwöhnisch betrachtet wurde wie in der christlich-abendländischen Kultur. Die Muslime haben traditionell einen sehr positiven Bezug zur Lust. Sex an sich wurde als nichts Beschämendes begriffen – und darum musste man ihn auch nicht so kontrollieren. Dies ist meines Erachtens der Schlüssel, um zu verstehen, wie ­anders die vormodernen Muslime lebten und liebten.

Das Christentum tut sich bis heute schwer mit der Sexualität. Seine Theologie trennt Geist und Materie — und wertet alles Körperliche und Irdische ab.

Das haben die frühen Christen von den antiken Philosophen übernommen, allen voran von Platon. Für die christlichen Theologen ist der Geist der elementare Kern des Menschen, er strebt zum Göttlichen und trägt das ewige Leben in sich. Das Fleisch hingegen ist endlich und das Einfallstor der Sünde. Seit dem Kirchenvater Augustinus ist für Christen die sinnliche Begierde verdächtig. Ehelosigkeit und Askese sind das Ideal.

«Bei den Muslimen dagegen dient Sex nicht nur der Zeugung von Kindern, er soll um der Lust willen genossen werden.»

Wenn da nur nicht das Problem mit der Fortpflanzung wäre.

Stimmt. Der Sex wurde zum reinen Mittel der Fortpflanzung degradiert und durfte natürlich nur in der Ehe vollzogen werden. Mit dem Ehebund versucht die Kirche bis heute die Lust in Schach zu halten – bekanntlich mit mässigem Erfolg. Bei den Muslimen dagegen dient Sex nicht nur der Zeugung von Kindern, er soll um der Lust willen genossen werden. Auch die Verhütung stellt kein Problem dar.

Woher kommt die Sinnesfreude der Muslime?

Hier spielt sicher das Umfeld der frühen Muslime eine Rolle. Zum muslimischen Reich, das rasch wuchs, gehörten bald blühende Städte mit einer Hochkultur. Die muslimischen Eroberer fanden im 8. Jahrhundert in Damaskus oder Mesopotamien eine urbane Kultur vor, die stark hellenistisch geprägt war.

Dann sind die Muslime die wahren Erben der hellenistischen Kultur, und nicht die Christen?

Was den Umgang mit der Lust angeht, trifft das sicherlich zu. Der christliche Westen hat den Hellenismus im Grunde für sich gekidnappt. Dabei könnten genauso gut auch die Muslime die alten Griechen für sich reklamieren. Für das Christentum waren die Philosophen wichtig, weniger aber das kulturelle Leben. Natürlich gab es auch in Rom, später in Andalusien und im sonstigen Mittelmeerraum Einflüsse. Doch der griechische Kulturraum lag im sogenannten Orient. Diese sehr diesseitige Kultur haben die Muslime früh übernommen.

Findet sich dieses Lustbetonte auch im Koran?

Der Koran verurteilt an keiner Stelle die Lust der Menschen. Das Umfeld des Propheten scheint keineswegs prüde gewesen zu sein. Für uns Muslime ist Mohammed wie alle anderen Propheten ein Vorbild. Fast alle von ihnen hatten ein Sexleben, sie waren verheiratet oder hatten Konkubinen und lebten mit Frauen zusammen. Deshalb sagten sich die Theologen: Wenn das so ist, dann kann der Sex doch nichts Verwerfliches sein.

War Sex auch Thema für den Propheten Mohammed?

Durchaus. Vielfach erteilte er Ratschläge, die das Liebesleben der Menschen erleichtern sollten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Gefährte bat ihn um Rat, was die richtige Stellung beim Geschlechtsverkehr angeht, denn er war verunsichert, ob alle Positionen empfehlenswert waren. Dazu muss man wissen, dass es zu seiner Zeit in Medina unter der vorwiegend jüdischen Bevölkerung üblich war, nur die Löffelchenstellung zu praktizieren. Man befürchtete, dass ein allfällig gezeugtes Kind missgebildet zur Welt kommen würde, wenn man eine andere Sexstellung einnahm.

Und was empfahl er ihm?

Der Prophet beruhigte ihn, dass jede Position möglich sei und er so mit seiner Frau schlafen könne, wie es den beiden gefalle. An anderer Stelle fordert er die Männer auf, mit ihren Frauen nur zu verkehren, wenn diese Lust dabei empfänden. Er riet ihnen, die Frauen zu liebkosen und mit ihnen zu reden. Sex ohne Freude war ihm zuwider. So gesehen warb er für das Vorspiel und Dirty Talk. Das mag für uns heute alles normal sein, aber im 7. Jahrhundert war das nicht selbstverständlich.

Mohammed als Advokat der weiblichen Lust und Wegbereiter der weiblichen Emanzipation? Sie verklären ihn.

Nein. Da verstehen Sie mich falsch. Von Emanzipation in dem Sinne, wie wir heute darüber sprechen, kann natürlich keine Rede sein. Mein Punkt ist eher: Der Prophet und die muslimischen Traditionen anerkennen die Lust der Frau. Das bedeutet nicht, dass sie gesellschaftlich dem Mann ebenbürtig war. Der Prophet lebte nun mal in einer Zeit und in einer Umgebung, in der die Frauen fast immer von den Männern abhängig waren. Frauen und Kinder wurden vom Mann versorgt.

Ali Ghandour wurde 1983 im marokkanischen Casablanca geboren, wo er aufwuchs. Für sein Studium kam er mit 18 Jahren nach Deutschland. Von 2004 bis 2009 studierte er an der Universität Leipzig Arabistik und Politikwissenschaft. 2017 schloss er sein Doktorat im Fach Islamische Theologie mit einer Arbeit über den Mystiker Ibn al-‘Arabi an der Universität Münster ab. Parallel dazu setzte sich Ghandour mit dem systematischen Buddhismus auseinander. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie in Münster.

Ghandours Forschungsinteressen sind breit. Neben der erotischen Kultur der vormodernen Muslime beschäftigt ihn der Sufismus, die muslimische Normenlehre sowie die Philosophie. Daneben ist er als Publizist und ZEIT-Kolumnist tätig und betreibt den Blog AGB. Darin versucht er, muslimische Tradition und moderne Popkultur zu verbinden. So bringt er Bart Simpson, Star Wars oder Pokemon Go mit Mystik und theologischer Seinslehre zusammen. Ali Ghandour lebt in Hamburg. su

Findet sich dieses Lustbetonte auch im Koran?

Der Koran verurteilt an keiner Stelle die Lust der Menschen. Das Umfeld des Propheten scheint keineswegs prüde gewesen zu sein. Für uns Muslime ist Mohammed wie alle anderen Propheten ein Vorbild. Fast alle von ihnen hatten ein Sexleben, sie waren verheiratet oder hatten Konkubinen und lebten mit Frauen zusammen. Deshalb sagten sich die Theologen: Wenn das so ist, dann kann der Sex doch nichts Verwerfliches sein.

War Sex auch Thema für den Propheten Mohammed?

Durchaus. Vielfach erteilte er Ratschläge, die das Liebesleben der Menschen erleichtern sollten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Gefährte bat ihn um Rat, was die richtige Stellung beim Geschlechtsverkehr angeht, denn er war verunsichert, ob alle Positionen empfehlenswert waren. Dazu muss man wissen, dass es zu seiner Zeit in Medina unter der vorwiegend jüdischen Bevölkerung üblich war, nur die Löffelchenstellung zu praktizieren. Man befürchtete, dass ein allfällig gezeugtes Kind missgebildet zur Welt kommen würde, wenn man eine andere Sexstellung einnahm.

Und was empfahl er ihm?

Der Prophet beruhigte ihn, dass jede Position möglich sei und er so mit seiner Frau schlafen könne, wie es den beiden gefalle. An anderer Stelle fordert er die Männer auf, mit ihren Frauen nur zu verkehren, wenn diese Lust dabei empfänden. Er riet ihnen, die Frauen zu liebkosen und mit ihnen zu reden. Sex ohne Freude war ihm zuwider. So gesehen warb er für das Vorspiel und Dirty Talk. Das mag für uns heute alles normal sein, aber im 7. Jahrhundert war das nicht selbstverständlich.

Mohammed als Advokat der weiblichen Lust und Wegbereiter der weiblichen Emanzipation? Sie verklären ihn.

Nein. Da verstehen Sie mich falsch. Von Emanzipation in dem Sinne, wie wir heute darüber sprechen, kann natürlich keine Rede sein. Mein Punkt ist eher: Der Prophet und die muslimischen Traditionen anerkennen die Lust der Frau. Das bedeutet nicht, dass sie gesellschaftlich dem Mann ebenbürtig war. Der Prophet lebte nun mal in einer Zeit und in einer Umgebung, in der die Frauen fast immer von den Männern abhängig waren. Frauen und Kinder wurden vom Mann versorgt.

Welche Rolle spielte die Liebe für die Ehe?

In dieser Hinsicht sind Muslime Pragmatiker. Einen heiligen Bund der Ehe kennen sie nicht. Für sie ist es eine Art Vertrag. Dieser regelt das Finanzielle und die Versorgung von allfälligen Kindern. Darum gibt es verschiedene Formen davon. Es gibt Monogamie, polygame Ehen – und sogar Ehen auf Zeit. Laut manchen Interpretationen kann man eine Ehe für eine Nacht eingehen. Geht daraus ein Kind hervor, sorgt der Vater finanziell dafür, zumindest in der Theorie. Diese Praxis gibt es bis heute etwa im Iran.

Ein Mann darf mehrere Frauen haben. Eine Frau aber nur einen Mann. Dem Mann wird eindeutig mehr zugestanden.

Da gebe ich Ihnen recht. Ohnehin werden heute alle Eheformen zum Nachteil der Frauen gehandhabt. Diese Ungleichbehandlung hat aber meiner Meinung nach nichts mit einer grundsätzlichen Abwertung der weiblichen Lust zu tun, sondern ist gesellschaftlichen Gründen geschuldet. Es ist traurig, aber simpel: Frauen hatten und haben bis heute weniger Macht – sie können sich gegen den systematischen Missbrauch nicht wehren, weil sie viel eher in Abhängigkeitsverhältnissen leben. Doch bin ich überzeugt, dass diese Diskriminierung der Frau nicht gottgewollt ist. Aus theologischer Sicht sehe ich keine Hinweise darauf, war­um Frauen weniger Anrecht darauf haben sollten, ihre Lust auszuleben und die Beziehungen einzugehen, die sie wollen.

Dann müsste, theologisch gesehen, auch Frauen ein freies Liebesleben vergönnt sein?

Why not? Nehmen wir das hypothetische Beispiel einer gläubigen Muslimin, die finanziell auf eigenen Beinen steht, also keinen Mann als Versorger braucht, und Lust auf Sex hat. Warum sollte sie nicht eine einvernehmliche Kurzehe eingehen können mit einem Mann? Wenn Lust an sich kein moralisches Problem darstellt und alle involvierten Menschen damit einverstanden sind, sehe ich da kein Problem. Ich bin sogar der Meinung, dass die Gründe, warum sich die Gelehrten für ein Verbot der Mehrehe für Frauen aussprechen, so nicht mehr gegeben sind. Nimmt man die gesellschaftlichen und medizinischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ernst, sind die Argumente dagegen aus heutiger Sicht schwach.

Sie brechen eine Lanze für die Polygamie?

Ich breche eine Lanze für einen Umgang mit der Lust, der die Bedürfnisse aller beteiligten Menschen, Frauen wie Männern, ernst nimmt. Schauen Sie sich die westliche Gesellschaft an. Hier existieren starke moralische Vorbehalte gegen Beziehungen, die ausserhalb der monogamen Norm gelebt werden. Ich behaupte, dass hier zumindest unbewusst das christliche Erbe am Werk ist: Eigentlich ist die Lust bis heute anstössig und nur in der Monogamie und in heterosexuellen Beziehungen geduldet. Wer aus­serhalb dieser Vorgaben lebt, wird scheel angeschaut und findet keinen Schutz.

«Wenn die Ehe für alle der Gipfel der Emanzipation ist, dann bleiben alle anderen Formen der Liebe tabu. Das ist doch sehr christlich und bürgerlich gedacht.»

Was haben Sie gegen die Monogamie?

Ich habe überhaupt nichts gegen Monogamie und Ehe. Viele Menschen fühlen sich wohl darin, viele ziehen aber auch eine andere Beziehungsform vor. Mein Punkt ist der: Ich habe mich lange mit Theorien der Sexualität auseinandergesetzt und musste feststellen, dass alle Experten sich einig sind, dass es für den Menschen überhaupt keine vorbestimmte Form gibt, wie er seine Sexualität lebt. Monogamie ist nichts Natürliches. Sie ist gesellschaftlich konstruiert genauso wie die anderen Beziehungsformen. Ich würde mir wünschen, die Gesellschaft würde dem Rechnung tragen. Stellen Sie sich vor: Bis in die 1970er Jahre hatten uneheliche Kinder in Deutschland weniger Rechte als Kinder verheirateter Menschen. Man hat im Grunde die Kinder dafür bestraft, dass ihre Eltern sie ausserhalb einer Norm zeugten.

Wie stehen Sie zur Ehe für alle, also eine Öffnung der Ehe für Homosexuelle?

Ich begrüsse es, dass die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird.

Sie zögern.

Meines Erachtens ist auch diese Diskussion geprägt von einem christlichen Verständnis. Wenn die Ehe für alle der Gipfel der Emanzipation ist, dann bleiben alle anderen Formen der Liebe ausserhalb der gesellschaftlichen Norm noch immer tabu. Das ist doch sehr bürgerlich gedacht. Eigentlich wird das Problem nur verschoben, aber nicht behoben.

Ihre Ansichten über Beziehungen sind für viele Menschen eine Provokation.

Das stimmt. Die westlichen Gesellschaften sind nicht so weit, geschweige denn die muslimischen. Aber mittlerweile gibt es auch in der muslimisch geprägten Welt unter Rechtsgelehrten und Theologen Bestrebungen, zumindest über eine Gleichstellung der Frau in familien- und erbrechtlichen Fragen nachzudenken. Diese Diskussionen werden in eher liberalen Ländern wie Marokko, Tunesien, Ägypten oder dem Libanon geführt.

Lässt sich das islamische Recht so einfach ändern? Ist der Koran nicht gottgegeben?

Dieses Bild beruht auf einem falschen Verständnis, wie muslimisches Recht entsteht. Der Koran ist kein Gesetzbuch. Es finden sich nur sehr wenige Aussagen darin, welche die Gelehrten als eindeutig bezeichnen würden. Das meiste ist Auslegungssache und wird unterschiedlich beurteilt. Darum ist die muslimische Tradition auch flexibel und kann sich anpassen. Aber ich orte zurzeit ein anderes Problem: Die muslimischen Gesellschaften sind schlicht noch nicht an dem Punkt, an dem Gleichberechtigung Alltag ist. Da müssen wir Schritt für Schritt gehen. Wir leben in einer Machokultur.

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Woher stammt eigentlich diese Machokultur?

Ihr Ursprung reicht sehr weit zurück und ist älter als der Islam. Die vormoderne Gesellschaft war um den starken, fähigen Mann gebaut. Alles drehte sich um ihn und sein Glied. Es gibt in der arabischen Sprache über hundert Bezeichnungen für den Penis und seine Teile. Das Ideal ist ein grosser, harter Penis mit klar konturierten Adern. In vielen Texten wird das zelebriert. Der besitzergreifende Mann ist das Mass. Das wirkt bis heute.

Und die Frau ist entsprechend devot?

So einfach ist es eben nicht. Ich stiess auf zahlreiche Texte, in denen die Lust der Frau Thema ist – und die Vulva der Frau als gross und fordernd gelobt wird. Das ist meilenweit entfernt von der heutigen Pornokultur, wo die inneren Schamlippen möglichst klein sein sollen. Oft wird das weibliche Geschlecht als Löwin bezeichnet – also keine harmlose Pussy. Auch wenn fast alle Quellen, die ich fand, von Männern stammen: Die Lust der Frauen ist immer wieder Thema. Es gibt psychologische Deutungen, die gerade die Angst der Männer vor der weiblichen Lust an den Anfang der Männerherrschaft setzen.

Die Angst der Männer vor der Lust der Frauen: Würden Sie so die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung erklären, die viele Musliminnen bis heute erleiden?

Das ist eine Interpretationsmöglichkeit. Die Verstümmelung der Vagina ist vor allem in Ostafrika und in den Nilländern verbreitet – und wird dort nicht nur Musliminnen angetan. In ­Marokko und weiten Teilen der muslimisch geprägten Gesellschaften ist sie aber Gott sei Dank unbekannt. Ich hörte zum ersten Mal davon, als ich nach Deutschland kam. Da gibt es nichts zu diskutieren: Weibliche Genitalverstümmelung ist sowohl aus medizinischer als auch theologischer Sicht zu verbieten.

Sie beschreiben auch homosexuelle Liebe unter Männern. Homosexualität ist im Islam verboten.

Ja und nein. Im Koran selber wird nie über Homosexualität als Wesenszug geschrieben. Es werden jedoch homosexuelle Handlungen verurteilt – wobei die Textstellen nicht eindeutig sind und unterschiedlich ausgelegt wurden. Auch hier gilt: Der Koran ist kein Gesetzestext, sondern ist von der Interpretation abhängig. Geht es um das Verbot von Analsex? Und meint dieser nur den Sex zwischen Männern? Die meisten Rechtsauslegungen sind tatsächlich dagegen und sahen dafür auch eine Bestrafung vor. Aber vieles war nicht so klar, wie es heute einige Stimmen gerne lautstark verkünden. Und: die früheren Muslime lebten nicht streng nach dem Buch.

Historisch verbürgt soll sein, dass es muslimische Herrscher mit homosexuellen Neigungen gab.

Bekannt ist etwa der Kalif al-Amin aus dem 9. Jahrhundert. Er verliebte sich in einen seiner Sklaven und nannte ihn Kawthar – so wie ein Fluss im Paradies. Und nicht wenige Rechtsgelehrte und Aristokraten hatten selber eine Vorliebe für bartlose junge Männer. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Die muslimische Welt ist zu einem Hort der Eindeutigkeit und der Prüderie geworden. Wie traurig!

«Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass der Westen über einen freien Zugang zur Sexualität verfügt.»

Früher soll dagegen eine Kultur der Uneindeutigkeit geherrscht haben. So formulieren Sie es zumindest in Ihrem Buch.

Das Leben mit Widersprüchen gelang damals tatsächlich sehr gut. Der Arabist Thomas Bauer spricht von einer Kultur der Ambiguität. Diese ging leider verloren. Heute tendieren wir dazu, die Muslime allein vom Koran und von den Rechtstraditionen her zu verstehen, und wünschen Eindeutigkeit. So, als würde sich die Psyche der Muslime vom Koran her deuten lassen.

Sie sprechen immer wieder von einem Traditionsbruch, der im 19. Jahrhundert stattfand. Wie kam es dazu?

Entscheidend war der Einfluss der Kolonialherren. Das waren vor allem die Franzosen, die Holländer und die Engländer. Die Viktorianer reagierten schockiert, als sie etwa in Ägypten diese für die damalige Zeit liberale erotische Kultur vorfanden. Sowohl die Homoerotik als auch die Polygamie war ihnen ein Graus. Sie erlies­sen neue Verordnungen gegen solche Auswüchse und bildeten zugleich eine lokale Elite aus. Diese übernahm die christlich geprägten Moralvorstellungen der Imperialisten.

Schuld sind also die Kolonialisten.

Nein, sie waren nur der Anfang. Die alten Gelehrten wurden von Intellektuellen abgelöst, die vielfach in Europa ausgebildet waren. Sie brachten neue Ideen und Ideologien mit, so etwa den Nationalismus. Auch die Vorväter der Islamisten studierten Ende des 19. Jahrhunderts in Paris und London. Diese neuen Muslime übernahmen quasi eine westlich-christliche Sichtweise auf sich selber. Es ist einfache Psychologie, dass man als Unterlegener den Blick der Sieger übernimmt. Man begann sich für die eigene Sexualität zu schämen und entwickelte eine rigide Sexualmoral, die auf dieser Sicht von aussen beruhte.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Der Islam, wie wir ihn heute kennen, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Wie meinen Sie das?

So wie ich es schreibe. Es gab so etwas wie «den Islam» vorher nicht. Dieser sogenannte Islam ist höchstens so alt wie die Mormonen. Es waren die Intellektuellen und nicht traditionelle Gelehrte, die diesen Islam prägten und eine politische Ideologie aus ihm drechselten. Nur hat diese neue muslimische Elite kaum Wissen von der Tradition. Sie schuf eigentlich etwas ganz Neuartiges – und sehr Erschreckendes.

Was erschreckt Sie?

Mich beunruhigt, wie diese neuen Muslime die Religion mit dem modernen Staat verquickten. So eine Zentrierung der Macht gab es in der gesamten muslimischen Geschichte vorher nie. Erstmals geschah dies in der iranischen Revolution von 1979, danach an vielen anderen Orten. Religion wurde so eine Handlangerin des Staates – ein Mittel, um die Menschen zu kontrollieren. Und sie tut das vor allem, indem sie die Sexualität diszipliniert. Denken Sie an die ganzen Hinrichtungen wegen Ehebruch und die Bestrafungen der Menschen für homosexuelle Handlungen. Es ist grauenhaft. Religion war nie zuvor ein Normierungsapparat: Aus einer sehr vieldeutigen Tradition ist in der Moderne ein Zwangssystem geworden.

Und ausgerechnet die Sexualität, die lange relativ frei und lustvoll war, wurde zum Herrschaftsinstrument.

Was für eine Ironie! Denn heute ist es ja die muslimische Welt, die auf den Westen schaut und sagt: Seht nur, wie dekadent, die Europäer sind alle homosexuell und promiskuitiv. Vor 150 Jahren war es umgekehrt: Da waren die Muslime die Verdorbenen in den Augen der Imperialisten. Die Muslime haben die Rigidität übernommen.

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Ruben Hollinger

Wünschen Sie sich den lustvollen Islam der Vormoderne zurück?

Das ist eine müssige Frage. Es gibt keinen Weg zurück. Zudem glaube ich auch nicht, dass alles freier war in dem Sinne, wie wir heute über Freiheit nachdenken. Wir sprechen von einer höfischen und aristokratischen Gesellschaft. Die Sklaven, Eunuchen und Kurtisanen waren nicht frei. Sie hatten manche Freiräume, aber lebten in einem hierarchischen Kosmos. Ganz zu schweigen vom Rest der Frauen.

Die westliche Kultur scheint heute dem freien Sex nähergekommen zu sein.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass der Westen über einen freien Zugang zur Sexualität verfügt. Die Pornoindustrie und die Popkultur geben uns vor, wie unser Körper auszusehen hat und welche Praktiken wir gut finden müssen, die Wissenschaft verschreibt uns Sex, weil er gesund ist, und schafft gleichzeitig immer neue Normierungen und Kategorien, die die erotische Kultur nicht unbedingt fördern – und der Staat anerkennt unsere Liebe nur, wenn wir in dem von ihm vorgegebenen Modell leben. Ich würde sogar behaupten, dass der Kapitalismus die Sexualität ergriffen hat und unser Sexleben bestimmt und reguliert. Heute gibt es für jede sexuelle Neigung einen Namen und eine Identität. Klar, ich begrüsse es sehr, dass sexuelle Minderheiten so sichtbar werden und für ihre Rechte einstehen können. Aber dass jede Vorliebe etikettiert und kategorisiert werden muss, hat im Kern nichts mit Freiheit zu tun.

Der Sex steht von allen Seiten unter Dauerbeobachtung.

Noch mehr: Er ist regelrecht zum Bekenntnis geworden. Die Moderne hat den Sex entdeckt, ihn normiert und zu etwas gemacht, das wahnsinnig wichtig – aber irgendwie auch bedrohlich ist. Etwas, worüber wir ständig reden. Der Philosoph Michel Foucault hat einmal gesagt: Eigentlich sind wir immer noch Viktorianer. Alle sprechen über den Sex und die Sexualität, doch das eigentlich Schöne daran, die Lust, bleibt irgendwie aussen vor.

Wie kommen wir aus dieser Situation heraus?

Ich hatte gehofft, dass Sie mir diese Frage nicht stellen. Ich habe keine Antwort darauf. Was ich aber weiss: Ich wünsche mir eine Kultur, in der die Menschen ihrer Lust mit Lust begegnen.

Ali Ghandour: «Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime.» C.H. Beck, München 2019; 218 Seiten; 25.90 Franken.